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Wilsdruffer Tageblatt : 16.01.1919
- Erscheinungsdatum
- 1919-01-16
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-191901161
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19190116
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19190116
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1919
-
Monat
1919-01
- Tag 1919-01-16
-
Monat
1919-01
-
Jahr
1919
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 16.01.1919
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Kriegssteuergesetze Wege wieder zur Nutze bringen zu können. Man glaubt, so eher zum Schluß zu kommen. In Wirklichkeit ist eS der erste Schritt auf einer Bahn, die uns genau so wie eS in Rußland geschehen ist, ins Wirtschaftsoerderben führen kann, und dem immer weitere Zugeständnisse gleicher Art folgen werden, ohne daß etwas Wesentliches an den Verhältnissen geändert wird. Armes, armeS Deutschland! Neue Kriegssieu:ersetze. Hochstzulässiger Zuwachs von 1SS509 Mark. Die Regierung hat zwei neue Steuergesetzentwürfe ausgearbeitet, die der Nationalversammlung unterbreitet werden sollen, nämlich eine außerordentliche Kriegsabgabe für das Jahr 1919 und die Kriegsabgabe vom Vermögens zuwachs. Die außerordentliche Abgabe lehnt sich eng an das gleiche Gesetz von 1918 an. Es enthält wieder die Abgabepflicht der Einzelpersonen, die einmal in einer Ab gabe vom Mehreinkommen und zweitens in einer Abgabe vom absoluten Vermögen besteht! wobei die gleichen Steuersätze wie für das Jahr 1918 gelten sollen. Die Abgabe vom Vermögen soll aber nur dann erhoben werden, ^venn die geplante große Vermögensabgabe nicht zustande kommt. Es handelt sich hierbei also um ein Evmtualgesetz. Höchststcucrsatz Prozent. Das Gesetz über die außerordentliche Abgabe für 1919 regelt auch die Abgabepflicht der Gesellschaften mit der Maßgabe, daß der Höchststeuersatz 80°/» gegen 60°/« im Vorjahre beträgt. Da es Fälle gibt, in denen der Mehrgewinn durch die Kriegssteuern unter Hinzurechnung der sonstigen Staats- und Kommumlsteuern vollständig aufgezehrt oder sogar überschritten werden könnte, ist be stimmt, daß die Abgabe einschließlich des auf, den Mehr gewinn entfallenden Teils der Einkommensteuern usw. nicht über 90des Mehrgewinnes hinausgehen darf. Bermögenszuwachs Der Einzelpersonen. Die Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs betrifft nur Einzelpersonen, und zwar wird der Zuwachs für die /Zeit vom 31. Dezember 1913 bis 31. Dezember 1918 er faßt. Die bereits auf Grund des Kriegsgesetzes von 1916 gezahlte Abgabe auf de:. Vermögenszuwachs wird von dem jetzt zu leistenden Abgabenbetrag für die ganze Kriegszeit in Abzug gebracht. Abgesetzt vom Vermögenszuwachs dürfen werden, wie schon im Zuwachssteuergesetz von 1916, u. a. Erbschaften, aber nur insoweit, als sie beim früheren Besitzer nicht steuerpflichtig gewesen wären. Schenkungen hat der Schenkende zu versteuern, so daß alle Vermögens- Übertragungen auf Ehegatten, Kinder usw. nicht die Möglichkeit der Steuerbefreiung gewähren. Verhütung der Geldabwanderung. I Der Auswanderung und Verflüchtigung des Kapitals wird ein scharfer Riegel vorgeschoben. Neu ist die Be stimmung, daß auch Ausgaben für sonstige Anschaffungen, wie z. B. Möbel, Kleidungsstücke usw., wenn sie 10000 Mars übersteigen, steuerpflichtig sind. 3000 Mark Vermögenszuwachs sind völlig steuerfrei. Die Abgaben sätze beginnen mit 10 °/o für die weiteren 10 000 Marl und steigen in schneller Progression bis auf 80"/», ein Satz, der bei 500 000 Mark erreicht wird. Niemand soll aber einen gröberen Vermögenszuwachs behalten dürfen als 19S500 Mark. Das Darüberhinausgehen soll völlig fortgesteuert werden. Einige Beispiele werden den Umfang der Steuer praktisch erläutern: Bei einem Ver mögenszuwachs von 100 000 Mark beträgt die Steuer SO 500 Mark, bei einem Zuwachs von 200 000 Mark 80500 Mark, bei einem Zuwachs von 500 000 Mark .800 5! ,0 Mark und bei einem Zuwachs von 600 000 Mark «Loo öoO Mark. . Erste Vorfriedenskonferenz am 18. Januar. Die Gebietsansprüche der Alliierten. Rotterdam, 14. Januar. Eine amtliche britische Erklärung über den gestern zu sammengetretenen »Obersten Kriegsrat" in Paris besagt, die Versammelten hätten beschlossen, daß die erste formelle Sitzung der internationalen Vorfriedenskonferrnz am 18. Januar stattfinden soll. An den Besprechungen nahmen Lie anwesenden britischen Minister, Vertreter der Kolonien Und der alliierten Regierungen teil. * Der KriegSrat setzte ferner die Bedingungen fest, unter welchen der Waffenstillstand mit Deutschland ver längert werden soll. Bei den festgesetzten Punkten befinde« sich die Fragen der Übergabe der deutschen Schiffe und der bisher noch im Bau oder in Reparatur befindlichen deutschen Unterseeboote, die Übergabe des restlichen Eisen bahn- und Transportmaterials und der aus den alliierten Gebieten stammenden Maschinen. - Geplante Aufhebung der Blockade? Aus London wird ferner gemeldet, aus zuverlässiger Quelle verlaute, daß die Aufhebung der Blockade gegen die 'Zentralmächte als erster Punkt auf der Tagesordnung der Konferenz stehe. Alle amerikanischen Delegierten hätten ähre Überzeugung bekundet, daß die Verzögerung der Ver sorgung der Zentralmächte mit Lebensmitteln und Roh stoffen sehr ernste Folgen haben könne. Die wider strebenden übrigen Mächte würden dem Gewicht der 'amerikanischen Gründe nachgeben müssen, da Amerika der Hauptlieferant für alle Lebensmittel sei. Verlangte Gebietsabtretungen. Nach Pariser Meldungen würden die Alliierten auf der Konferenz verlangen Elsaß-Lothringen für Frank reich, Limburg (holländisch) und frei Durchfahrt auf der Schelde für Belgien. Die Verbindung seiner afrikani schen Kolonien will England durch eine Reihe von Staaten, die unter englischem Protektorat gebildet werden sollen. Italien fordert das Trentino, Istrien und den langen Streifen der Ostküste des Adriameeres. Dieses Küstenland wollen aber auch die Südslawen. Rumänien wünscht Beßarabien, Transsilvanien und die Bukowina. Griechenland verlangt Nord-Epirus, Teile von Thracien, der Wilajets Konstantinopel und Smyrna, sowie alle Inseln im Ägäischen Meer. Konstantinopel kommt unter internationale Verwaltung. Unter den übrigen Gebiets fragen befindet sich Festsetzung der Grenzen der neuen Staaten sowie Polen, Tschechien, Tschechoflawonien und Armenien. Die schleswig-holsteinische Frage soll in Über einstimmung mit den Wünschen der Bevölkerung dieser Provinz entschieden werden. Die Wünsche des „Temps" gehen noch viel weiter. Das Hetzblatt möchte gegen Deutschland die Grenzen von 1814 verlangen, also auch das Saargebiet an Frankreich bringen. Das Saar becken wurde auf dem Wiener Kongreß 1814 Frankreich zuerkannt, 1815 aber zu Preußen geschlagen. Über Beschwerden des Marschalls Foch über verzögerte Ablieferung der Lokomotiven durch Deutschland u»d angebliche schlechte Behandlung der französischen Kriegs gefangenen, wodurch Deutschlands mangelnder guter Wille bewiesen sein soll, soll eine neue Sitzung entscheiden. Foch ist inzwischen nach Trier abgereist, um den Deutschen die neuen Beschlüsse zu übermitteln. * Das Schicksal der deutschen Kaisersamilie. Der Pariser Korrespondent der „National News" meldet, daß der französische Generalstab auf der Friedens konferenz die Forderung stellen würde, daß der Kaiser, der Kronprinz und sämtliche männliche Mitglieder der» deutschen kaiserlichen Familie lebenslänglich nach Algier verbannt werden sollen. Ob dieser Nachricht irgendwelche ernsthafte Pläne zu grunde liegen, läßt sich nicht nachprüfen. Die Unter suchungen hinsichtlich der in Amervngen, dem Aufenthalt des ehemaligen Kaiserpaares anwesenden geheimnisvollen Personen und ihre Anschläge vom 5. Januar im Schlosse von Amerongen dauern noch fort. Der Wachdienst im Schlosse ist bedeutend verstärkt, die Wachtposten sind seit dem verdoppelt worden. Die Stimmung im Schlosse soL sehr erregt sein. ——— Ludendorffs Verieidigungsfchrifi. Die unterschobenen Annerionsgelüste. . Kopenhagen, 14. Januar. „Bcrlingske Tidende" gibt nach einem Telegramm nuS Malmoe eine Unterredung wieder» die der schwedische Gutsbesitzer Ohlsson, bei dem sich gegenwärtig Ludendorff als Gast befindet, tznt einem schwedischen Pressevertreter hatte. Ohlsson erklärte, Ludendorff arbeite seit seiner An kunft auf dem Gute Hcslcholm von morgens bis abends an einer Verteidigungsschrift. Alle legen nun, fuhr Ohlsson fort, die Hauptschuld auf Ludendorff. Man vergißt dabei aber ganz, daß er bet Kriegsausbruch keine entscheidende Stimme gehabt hat, sondern nur Offizier im Generalstab war. wie viele andere. Erst August 1916 erhielt er auf die Kriegführung 'Einfluß und seitdem sei ihm nicht ein einziges Mal er klärt worden, daß die Möglichkeit eines Verständigungs- Neue An das deutsche Volk! Ein Aufruf der Reichsregierung. Berlin, 14. Januar. Die Reichsregierung hat eine Proklamation an daS deutsche Volk erlassen, in der es u. a. heißt: Am 19. Januar tritt das deutsche Volk an die Wahlurne, um sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben. Das Volk der deutschen Republik ist der Träger der Staatssouveränität. Wer in seine freie Willcnsbetätigung gewaltsam eingreift, be geht ein schweres Staatsverbrechen und muß auf strengste Bestrafung gefaßt sein. Die Nationalversammlung, die am nächsten Sonntag nach dem freiesten Wahlrecht der Welt gewählt werden wird, soll die Verfassung des Deutschen Reichs bestimmen, die Regierung nach ihren Wünschen zusammen- setzen und über den abzuschsießenden Frieden Beschluß fassen. Die Feststellung der nationalen Besitzverteilung im Osten kann nur Aufgabe der Friedenskonferenz sein. Gegen den polnischen Annerionismus bedarf unter Land des Schutzes, den ihm das Volk nicht versagen wird. Nicht mindsr gilt es. unsere Grenzen gegen die neue russische Militärdespotie zu schützen, die uns mit kriegerischer Gewalt ihre eigenen anarchischen Zu stände aufzwingen und einen neuen Weltkrieg entfesseln will, besten Schauplatz unser Land sein würde. Bolschewismus ist Tod des Friedens, Tod der Freiheit, Tod des Sozialismus. Die Proklamation der Regierung» versichert weiter noch: „In Treue zu unserem Volk, in Treue zu unserer Überzeugung werden wir unser schweres Amt weiterführen oder von ihm willig zurücktreten, je nachdem wie die Ent scheidung des Volkes ausfällt." Der erste Schritt. In Berlin, im Reichswirtschastsamt, sitzt die eigens dazu berufene Sozialisierungskonimissirn und zerbricht sich den Kopf darüber, wie und wo sie üen Anfang machen könnte mit der Vergesellschaftung der Produktion, diesem Paradepferd der neuen sozialistischen Negierung. In Essen aber, dem Mittelpunkt unserer ganzen rheinisch- westfälischen Industrie, glaubt man die Sache ohne Kopf zerbrechen erledigen zu können. Der dortige ASR hat kurzer Hand beschlossen, das Kohlensyndikat zu sozialisieren. Angeblich, um der Slreikbeweguug endlich Herr zu werden, der nian bisher auch durch weitestgehende, sich immer wiederholende Zugeständnisse nickt beizukommen ver mochte. Auch dort spielen natürlich Lohnfragen und ähnliche Dinge längst nicht mehr die ausschlaggebende Rolle: politische Gründe sind es, aus idenen die Belegschaften immer wieder aus der Arbeit vertrieben werden, und wenn nicht alles täuscht, sind es spartakistische Sendboten, die dort so wie in Oderschlesien unermüdlich das Feuer schüren, um ckie Verlegenheiten für die Berliner Regierung nur ja nicht abreiben zu lassen. Also will der ASR versuchen, den Teufel durch Beelzebub zu vertreiben. Er hat eine Kontrollkommission eingesetzt, der Kohlen syndikat und Bergbauverein unterstellt werden, hat — alles auf eigene Faust — einen Volkskommissar ernannt, dem natürlich Beigeordnete aus den drei sozialistischen Parteien beigegeben worden sind, und /hnen weitgehende Vollmachten ausgestellt. Alles das, ohne sich um die Berliner Regierung auch nur einen Deut zu kümmern;' nur die Hoffnung wurde ausgesprochen, sie werde schon angesichts der schwierigen Lage»im Kohlengebiet Ver ständnis für diese Entschlüsse zeigen. ' Na ja, wofür hat die Berliner Regierung nicht schon alles Verständnis gezeigt. Hier aber liegt insofern noch ein ganz besonderer Fall vor, als es sich nicht etwa bloß um private Organisauonsgebilde handelt, sondern um staatliche Wirtsck fftseinrichtungen allerersten Ranges, ohne die eine Beherrschung des Kohlenmarktes ganz undenkbar ist. Sie wird nun der Regierung einfach aus der Hand genommen, gerade in diesem kritischen Augenblick, da der Kohlenmarkt so ziemlich, die allerempfindlichste Stelle unseres gesamten Produktionslebens geworden ist. Statt der Sozialisierung von oben bekommen wir die Soziali sierung von unten. Es ist ja kein Geheimnis, daß auch die Berliner Pläne in erster Reihe die Kohlen bergwerke im Auge hatten, obwohl gerade der Führer des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes, der dem fortschrittlichen Handelsminister Fischbeck beigeordnete Abgeordnete Hu«, sich mit Händen und Füßen gegen jede Art von Verstaatlichung des Berg baues sträubt. Aber es nützt alles nichts; man findet, fast bald schon allerorten kann man sagen, leider keinen anderen Ausweg mehr, als gegen seine bessere Über zeugung Zugeständnisse politischer Natur zu machen, in der trügerischen Hoffnung, die Arbeiterschaft auf diesem Das Gthtiinms der alten Mamsell, iss Roman von E. Marlitt. Eine auffallende Veränderung zeigte das alte HauS ab« doch: die Vorhänge in der großen Erkerstube des ersten Stockes waren seit einigen Wochen stets aufgerollt und Blu- llnentöpfe standen auf den Fenstersimsen. Der Blick der Vor übergehenden suchte pflicktschuldigst nach wie vor zuerst das Fenster mit dem Asklepmsstocke, und Frau Hellwig konnte her ehrerbietigen Grüße stets sicher sein, aber dann huschten pie Augen verstohlen hinauf nach dem Erker. Dort, inmit ten der steinernen Fenstereinfassung, erschien häufig ein rei fendes Frauengesicht von förmlich blendender Frisch, ein Kopf Poll aschblonder Locken, mit blauen Taubenaugen die fast kin- derhaft groß und rund in die Welt schauten, und dieser Kopf Isaß auf einem blühenden Leibe vom schönsten Ebenmaße, dea -meist ein weißes Mullkleid umhüllte. Manchmal, freilich, micht oft, erhielt das liebliche Bild tm Fensterrahmen aber !auch eine entstellende Zugabe — eine Ktndergestalt war pann auf eincne Stuhl geklettert und sah neugierig über die' Schultern der Dame hinunter auf den Marktplatz; es war! .ein armes, durch die Skrofelkrankheit furchtbar entstelltes Köpfchen; die Hand, die das spärliche, weißblonde Haar so- ^sorgfältig in zierliche Ringel kräuselte, machte sich vergebliche' Mühe — unter dem künstlichen Lockenbau trat die Häßlichkeit! ides fahlen, aufgedunsenen Gesichtchens nur um so auffallen-! >der hervor, und der stets höchst elegante Anzug war auch, gelten geeignet, die unförmliche Taille und die ausgetriebenew iGelenke des Kindes zu verbergen. Allein bei allem Kontraste' lin der äußeren Erscheinung waren beide Mutter und Kind,^ und um des letzteren willen waren sie stach Thüringen ge ikommen. Innerhalb der letztverflosseneen neun Jahre nämlich! Hatte ein Ingenieur seine Wünschelrute ziemlich nahe dem. Weichbilde der Stadt T. spielen lassen; der moderne Moses- itab hatte dem Boden einen bitteren Quell entlockt, der an Ker Luft, wenn auch nicht zu Gold und Silber, so doch zu sehrs schätzenswerten Salzkristaüen erhärtete. Das war ein Kin« werzeig für die Bewohner von T. Sie errichteten ein Solbads idas im Vereine mit dem ausgezeichneten Rufe der Thüringen Luft sehr bald Hilfesuchende aus aller Herren Länder her« beizog. i Die junge Dame war auch in die Stadt gekommen, um ihr Kind in der Salzflut zu baden, und zwar auf Anraten deS Professors Johannes Hellwig in Bonn . . . Ja, die Frau da .hcrunten hinter dem Äsklepiasstocke hatte viel für ihren Sohn 'getan! Sie hatte es durchgesetzt, daß er frühzeitig unter das Regiment des strenggläubigen Verwandten am Rhein gelom- ,men war; sie hatte es nie geduldet, daß er während seines siebenjährigen Fernseins auch nur ein einziges Mal auf Fe rien nach Hause kommen durfte; sie hatte jeden Mcrgen pünktlich und regelrecht seinen Namen auf dem Betstühle ge nannt und war nie müde geworden, die Zahl und Be;chaf« senheit seiner Hemden von der Ferne aus streng zu kontrol lieren — und da war er nun auch ein berühmter Mann ge worden. Es würde übrigens dem jungen Professor bei all seiner Berühmtheit und Wohlerzogenheit schwerlich gelungen sein, einen seiner Patienten in der geschonten Erkerstube seiner Mutter unterzubringen, Ivären nicht seine beiden Schützlinge Tochter und Enkelin jenes strenggläubigen Verwandten am Rhein gewesen, auf welchen Frau Hellwig große Stücke hielt. Nebenbei hatte auch die schöne junge Frau den Vorzug eines hübschen Titels — sie war die Witwe eines Regierungsrates in Bonn. Es konnte der Well gegenüber ganz und gar nichts schaden, wenigstens eine kleine Regierungsrätin in der Fa« ;milie zu habery da Herr Hellwig sich stets starrköpfig gewei gert hatte, seine Gattin zu einer Frau Kommissionsrätin oder dergleichen zu machen Frau Hellwig saß am Fenster auf der Estrade. Man hätte meinen können, die Zeit sei auch spurlos an dem feinen, schwarzen Wollkleide, an Kragen und Manschetten vorüber gegangen; bis auf die kleine Nadel, die den Kragen unter dem Kinne zusammenhielt, war der Anzug genau derselbe, wie wir ihn am ersten Abend an der große Frau kenne« gelernt ha ben. Nur erschien dide Büste voller; die engen Aermel um schlossen drall die starken Oberarme, und der Schneider hatten vielleicht heimlicherweise, den Rock faltenreicher um dis plumpe, sehr ungraziöse Taille gereiht . . . Ihre großen weißen Hände lägen mit dem Strickzeuge feiernd im Schoße — sie hatte in diesem Augenblicke Wichtigeres zu tun. An der Tür, in sehr ehrerbietiger Entfernung stand et« Mann; seine schmaK Gestalt steckte in einem abgeschabten Rocke, und die Hand, die er öfter beim Sprechen hob, war voller Schwielen. Er sprach leise und stockend — war es doch so unheimlich still im Zimmer; nur das Ticken der Wanduhs begleitete seinen Bortrag. Aus dem Muude der gestrengen Frau kam kein ermutigendes Wort, ja, es schien, als fehle dieser regungslosen Gestalt sogar der Atemzug, als könne dev starre, unbewegliche Blick stets und immer nur das eine Ziel haben — das ängstliche, blasse Gesicht des Mannes, der end lich erschöpft schwieg und sich mit seinem kattunenen Taschen- tuche den Schweiß von der Stirn wischte. „Sie sind an die Unrechte gekommen, Meister Thiene«, mann," sagte Frau Hellwig nach einer abermaligen Pause kalt. „Ich zersplittere mein Geld nicht in so kleine Kapita- ,lien." i „Ach, Madame Hellwig, so ist's ja auch gar nicht gemeint; ich werde doch nicht so unbescheiden sein!" entgegnete der Mann lebhaft und trat einen Schritt näher. „Aber Sie find bekannt als eine wohltätige Dame, denn Sie sammeln jahr aus jahrein für die Armen und stehen so oft im Wochenblatts mit Lotterien und dergleichen, und da wollte ich nur bitten« mir für ein halbes Jahr gegen Zinsen das Kapitälchen von fünfundzwanzig Talern aus dem Gesammelten vorzu strecken. Frau Hellwig lächelte — der Mann wußte nicht, daß dies ein Todesurteil für seine Hoffnung war. „Ich könnte beinahe denken, es sei nicht ganz richtig bei Ihnen, Meister Thienemann — diese Zumutung ist wirklich neu!" sagte sie beißend. „Allein ich weiß ja, daß Sie siH um die Bestrebungen der Gläubigen für die heilige Kirchs nicht kümmern, und deshalb will ich Ihnen sagen, daß vo« den dreihundert Talern, die gegenwärtig zur Verfügung ins meinen Händen sind, nicht ein Heller hier in der Stadt bleibt. Ich habe es für die Mission gesammelt — es ist heiliges Geld« — bestimmt zu einem Gott wohlgefälligen Werke, nicht aber^ um Leute zu unterstütze«, die arbeiten können."
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