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Wilsdruffer Tageblatt : 14.01.1919
- Erscheinungsdatum
- 1919-01-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-191901146
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19190114
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19190114
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1919
-
Monat
1919-01
- Tag 1919-01-14
-
Monat
1919-01
-
Jahr
1919
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 14.01.1919
- Autor
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tobte auf den Dächern der Kampf zwischen den Angreifern und Verteidigern. Die dem Vorwärts gegenüberliegende Straßenseite wurde dabei völlig zerstört. Es findet fick dort kaum ein Laden, dessen Fensterscheiben unbeschädigt ge blieben wären. Die Übergabe. Inzwischen taten die Feldgeschütze ihre Schuldigkeit —- das Vorwärtsgebäude wurde durch Volltreffer sturmreis gemacht. Etwa um 10 Uhr, als gerade die Besatzung des Verlagshauses Büxenstein sich übergeben hatte, geriet den große Papierschuppen in Brand. Gemäß seiner Instruktion forderte der Leiter des Angriffs, daß sie sich bedingungslos ergeben sollten. Und so kamen denn die Spartakiden in Hellen Haufen heraus. Sie wurden auf der Straße ent waffnet und von einem starken Militärkordon abtrans- portiert. Die Wut der umstehenden Menge war un beschreiblich. „An die Laterne!" „Hängt sie aus!" „Nick^ laufen lassen!" „An die Mauer mit den Halunken!" Sc scholl das Durcheinander. Im ganzen haben sich etwa 200 Mann, darunter vier Frauen ergeben. In der Hochburg der Spartakisten. Oberleutnant zur Gee Gras v. Westarp, der den Angrif aut den Vorwärts leitete, gestattete mir liebenswürdigst ihn ans einem Rundgange durch das Verlagshaus zu be gleiten. Uber Berge von Handgranaten, Gewehren, Maschinen gemehrgürteln, Papiersäcken, Balken, Mörtelwerk betreten wir den Hausflur. Auch hier, wie in der Fassade, alles zerschossen. Außer Gefecht gesetzte, neben schußfertigen Maschinengewehren; daneben ein toter Spartakide, dein der Tod plötzlich die Waffe entwand. Ein großer Koks ofen, der noch glimmt, diente offenbar der Nachtwache un!> den Straßenposten zur Erwärmung. Auf dem ersten Host eme richtige Autogarage, darunter das Paradeauto, in dem Karl Liebknecht so oft durch die Straßen Berlins gejagt ist. Es wurde für die Zwecke der angreifenden Truppe reguiriert. Aber auch eine funkelnagelneu« Gulaschkanone mit Kupferkessel fehlt iu dem ausgedehnten Wagenpark nicht, der übrigens auch stark durch Geschütz treffer gelitten hat. Auf dem Durchgang zum zweiten Hof wieder Tote, die den siegreichen Angreifern init der Waffe in der Hand entgegengetreten waren. Als wir den letzten Hof betreten kommt aus einem Seitenportal verschüchtert und oer ängstigt ein Ehepaar, beide ein paar große Stücken Wurj in der Hand. „Sie sind verhaftet!" schneidet mein Be gleiter ihre Lamentationen ab. Von der Mauer, die da! Gebäude nach der Alten Jakobstraße abschließt, springet in diesem Augenblick ein paar Spartakiden herab. „Si- sind verhaftet!" sagt mein Begleiter wieder. „Ich dir Arzt!" sagt der eine, „und muß für die Verwundeter sorgen!" „Sie wußten welcher Sache Sie dienen, als Si, dieses Haus betraten!" sagt Graf Westarp. „Jawohl!' ^„Es ist gut!" Und der Oberleutnant winkt einen Soldatei Keran: „Behandeln Sie diesen Mann hochanständig, behindern Sie ihn nicht in seiner Tätigkeit, aber lassen Sie ihn nicht aus den Augen. Sie haften mir für ibn!" Und der Posten begleitet den Arzt, der noch schnell einem Soldaten den Auftrag geben darf, seinen Angehörigen zu telephonieren, er sei gesund aber gefangen, in dem Keller, wo die Spartikaden ihre Sanitätswache aufgeschlagen haben. Da unten sieht, es böse aus. Zahlreiche Schwerver wundete liegen dort blutend, jammernd, einer unter ihnen sterbend und — auf Rosa Luxemburg fluchend. Meinem Begleiter wird Meldung gemacht, daß im Hause etwa 15 Tote und 20 mehr oder minder schwer Verletzte ge sunden worden sind. Wir begaben uns nun in das große Kontor, das die Spartakisten als Vorratsraum hergerichtet haben. Sie hoben nicht gelogen, als sie verkündeten, daß sie für eine Woche Proviant in ihrer Hochburg hätten. Ein ganzes Fab Butter, Hunderte von Konservenbüchsen, Kaffee, Kakao, Gewürz, Unmengen von Blut- und Leberwürsten, und nicht zuletzt unzählbare Zigarren und Zigaretten fanden sich hier vor. Die Erträge der letzten Plünderungen in der Friedrichstraße. Treppen, Flure, Fahrstühle besät mit Gewehren, Handgranaten, Patronen. Ein Waffen lager, das für viele Hunderte auf lange Zeit ausgereicht hätte. Die wackeren Feldgrauen ließen es sich wohl sein. — Alle Zimmer machen den wüsten Eindruck überstürzter Räumung, man sieht förmlich an ihnen, wie der Wider stand der Verteidiger zusammenbrach, wie die Angst um Las Leben die Oberhand gewann. Aber im Abziehen noch ließen sie der Zerstörungswut freien Lauf. Der Schaden, der dem Vorwärts am Gebäude, an Material, an Maschinen zugefügt ist, ist unermeßlich. Und dennoch — der Vorwärts ist wieder in den Händen seiner rechtmäßigen Besitzer, und der Geschäfts- sührer, Reichstagsabg. Fischer, der ein wenig nervös, aber doch strahlend die Glückwünsche der Feldgrauen entgegen nahm, hat recht: Die Hauptsache, Spartakus ist besiegt. Und eine seltsame Fügung will es, daß der Wieder eroberer des Vorwärts Oberleutnant z. S. Graf Westarp, ein Sohn des Grasen Westarp ist, der als Parlamentarier immer ein unversöhnlicher Feind des Vorwärts und der von ihm vertretenen politischen Richtung gewesen ist. Berlin, 11. Januar. Gerüchtweise verlautet, unter den bei der Erstürmung des Vorwärts gemachten 336 Gefangenen befänden sich auch Rosa Luxemburg und der russische Bolschewist Radek. * Der Siurm auf Büxenstsln. Ein militärischer Mitarbeiter, der den Angriff auf die Büxensteinsche Druckerei mitmachte, stellt uns das folgende Stimmungsbild zur Verfügung: Der Aufmarsch der Truppen. Heut endlich wurde in Berlin Ernst gemacht, und zwar von den Truppen, denen das unheilvolle Treiben der Spartakisten denn doch zu toll wurde. Die Hauptlast des Kampfes trug das Detachement des Majors Stefani, das schon mehrfach in den letzten Tagen erwähnt wurde. Das Detachement gemischter Waffen bestand hauptsächlich aus Gardejägern, Unteroffiziersschülern, Mannschaften des 1. Garderegiments zu Fuß und der Gardekavallerie, sowie aus einer Batterie Feldkanonen des 2. Garde-Feldartillerie- Negiments. In den frühen Morgenstunden marschierte das Detachement, außerordentlich geschickt geführt in die Sturmausgangsstellung. Um 5 Uhr früh war die Batterie auf dem Äellealliance-Platz, etwa 300 Meter gegenüber dem Vorwärts-Gebäude ohne Verluste in Stellung ge gangen. Daß hierbei für die Regierungstruppen keinerlei Verluste entstanden, ist lediglich der ungemeinen Geschick lichkeit zuzuschreiben, mit der Batterie und Sturmtruppen das für sie außerordentlich gefährliche DssMe des Halleschen Tores passierten. Ursprünglich sollte befehlsgemäß das Artillerievorbereitungsfeuer in Gestalt von Vernichtungs feuer auf den Vorwärts um 8 Uhr beginnen. Indessen erhielt die Batterie plötzlich gegen 7 Uhr 45 Minuten von dem Dach eines Hauses Ecke Friedrich straße Gewehrfeuer. Es war ein gewandter Schütze und die Batterie verlor einen Toten und zwei Verwundete. Daher erschien es nicht ratsam, nachdem man vom Gegner erkannt war, noch länger zu zögern, und es erging der Befehl zur sofortigen Feuereröffnung. Zunächst schoß die Batterie mit Aufschlagzünder auf den Vorwärts, der haar scharf getroffen wurde. Gegenüber dem massiven Ge bäude erwies sich aber das Schießen mit Auf schlagzünder als wenig wirkungsvoll, und man schoß dafür mit Verzögerung. Die Wirkung war gleich eine ganz andere. Die Granaten durchschlugen die schweren Sand steinmauern glatt und explodierten im Innern des Ge bäudes, wo sie furchtbare Verheerungen anrichteten. Ins gesamt erhielt das Gebäude 30 Granaten. Die Sturm-j infanterie war von dem Befehlshaber in drei Kolonnen eingeteilt worden. Die stärkste Kolonne unter der Führung des Oberleutnants Grafen Westarp hatte den Gefechtsauftrag, das Vorwärtsgebäude im Sturm zu nehmen. Die beiden anderen Kolonnen wurden eingesetzt gegen die Büxensteinsche Druckerei, die sich von der Friedrichstraße bis zur Wilhelmstraße hinüber erstreckt. Demgemäß wurde eine Abteilung in die Friedrich-, eine andere in die Wilhelmstraße dirigiert Der Sturm. Artillerie stand zum Angriff auf Büxenftein nicht zur Verfügung. Es war hier lediglich der Infanterie die Aufgabe zugewiesen, in glattem Angriff die Gebäude zu nehmen. Als Vorbereitung für den Angriff waren schwere und leichte Maschinengewehre in geeignete Stellung ge bracht worden und hielten das Angriffsobjekt unter einem Hagel von Geschossen, durch die die Spartakisten sofort nicht unbedeutende Verluste erlitten. Kurz nach 9 Uhr, als man annehmen konnte, daß die Gebäude sturmreif waren, ging der Angriff von der Friedrichstraße^ und der Wilhelmstraße gleichzeitig vor sich. Der Kolonne von der Friedrichstraße gelang es, als erste den Eingang zu forcieren, so daß die Spartakisten nach dem der Wilhelmstraße zuliegenden Teil gedrängt wurden. Inzwischen war aber auch hier die stürmende Infanterie, voran die Offiziere, in die vor dem Eingang aus Möbelwagen und Papier- !ballen errichtete Barikade eingedrungen und erzwang sich Len Eingang zu den irreren Räumen. In wenigen Mi nuten war das ganze große Haus von den Spartakisten gesäubert. Was nicht schon tot war, wurde von den aufs höchste erbitterten Mannschaften ohne Gnade und Barm herzigkeit erschaffen, übrig blieben bloß zwei verwundete Spartakisten und einer der Anführer, die man abführte. Die Verluste der angreifenden Truppen waren hier gering. Es waren bloß drei Verwundete zu verzeichnen, einer davon allerdings sehr schwer, so daß er leider kaum mit dem Leben daoonkommen dürfte. In dem Gebäude sah es fürchterlich aus. Weniger noch durch das Gewehrfeuer, als durch das Treiben der Spartakisten, die auch hier ihre üblichen politischen Ideale in die Wirklichkeit umgesetzt und alles zerschlagen und ge plündert hatten. Der schwere Geldschrank war von ihnen aufgebrochen und seines Inhaltes restlos beraubt worden. Auch fand man große Vorräte an Lebensmitteln, Ge tränken, Zigarren usw., die von den Einbrüchen herrührten, die die Spartakisten in den letzten Nächten auf der süd lichen Friedrichstraße verübt hatten. Tiefbeglückt waren begreiflicherweise die Bewohner dieser Gegenden. Sie zögerten nicht, ihre Dankbarkeit gegenüber den Befreiern auch praktisch Ausdruck zu geben. Aus allen Häusern schleppten Männer, Frauen und Kinder herbei, was nur aufzutreiben war, um die erschöpften Sieger zu erquicken. Wo man weder Wein, noch Nahrungsmittel zur Ver fügung hatte, sammelte man Gelder in den Häusern und verteilte sie unter die Mannschaften. Die Haltung der Regierung in der ganzen Angelegenheit ist immer noch nicht ganz klar erkennbar. Tatsache ist, daß die Reichsregierung sich absolut nicht dazu entschließen konnte, den Angriff zu be fehlen. Er war schon einmal angesetzt worden, mußte aber auf Anordnung der Regierung unterbleiben. Dies hatte namentlich die Mannschaften des Detachements Stefani aufs höchste erbittert, denn sie waren nicht ge sonnen, das wüste Treiben der Spartakisten noch länger zu dulden. So hatte der Vertrauensmann der Abteilung nach dem abgesagten ersten Angriff sofort die Reichs regierung telephonisch angerufen und ihr erklärt, daß unter allen Umständen gehandelt werden müsse; falls man das Detachement noch länger zurückhalte, müsse man mit einem Aufstand dieser Truppen gegen die jetzige Re gierung unbedingt rechnen. Daraufhin scheint sich denn Lie Regierung endlich entschlossen zu haben, den Dingen freien Lauf zu lassen. * Berlin, 11. Jan., 3 Uhr nachm. Auf der Potsdamer Straße ziehen in endloser Reihe reguläre Truppen in Berlin ein, an ihrer Spitze der Volksbeauftragte und Oberbefehlshaber von Groß-Berlin, Noske. Die Truppen werden von der Bevölkerung leb haft begrüßt und geben ihrem festen Willen Ausdruck, Berlin von de. Spartakidenoeraewaltigung endgültig zu befreien. Regie» üng gegen Spartakus« Der Aufruf der Volksbeauftragten. Berlin, 11. Januar. Von der Regierung wurde gleichsam als Einleitung und Erklärung zu den heutigen Entscheidungskämpfen eiy Aufruf verbreitet, in dem festgestellt wird, daß die Sparta kiden sich den Kopf eingerannt haben an der Mauer der sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Wie ein Mann hätte sich diese gegen die Blutherrschaft der Wenigen empört. Seit Sonntag abend habe Liefe Minderheit in eine durchaus friedliche Stadt Maschinengewehre und Hand granaten als Mittel des politischen Kampfes eingeführt. Der Aufruf sagt weiter: Die Blätter lügen, die behaupten, die Regierung rufe Offiziere, „stellungslose Bürgersöhnchen" und die. „Kriegshetzer der bürgerlichen Presse" zu ihrer Unter stützung auf. Der klassenbewußte Arbeiter, der Partei genosse ist es, der den Kampf gegen die Vergewaltigung ausgenommen bat, um ihr ein- für allemal ein Ende zu bereiten. Spartakus sieht sein blutiges Spiel verloren. Schon hat er nach Moskau telegraphiert, der Kampf müsse möglichst bald abgebrochen werden, da die Ber liner Arbeiterschaft für die Diktatur des Proletariats noch nicht reif sei, d. h. die Berliner Arbeiterschaft weist Terror und Bürgerkrieg mit Entrüstung von sich . . . . Nur eine Bedingung haben Regierung und Zentralrat als selbstverständliche Voraussetzung für die Verhand lung gestellt: Wiederherstellung der Pressefreiheit. Dazu haben sich aber die Räuber der Berliner Zeitungsbetriebe nicht verstehen wollen, zu dieser Er füllung der einfachsten Forderung jeder Demokratie... Der Spartakusgeist ist es, der vor Mord und Räuberei nicht zurückschreckt, der wieder zu den arbeiterblutbefleckten Waffen ruft, der Euern Vertrauensmännern in der Re gierung mit Galgen und Schafott drohst, der auf Leu Das Geheimnis der alten Mamsell. 17s Roman von E. Marlitt. l 'Auf dem runden Tischchen lagen auch verschiedene Zei tungen, und auf einer derselben las das Kind im Vorüber- schreiten lächelnd den Titel: „Die Gartenlaube". Eins Gartenlaube, ja, die paßte freilich prächtig hierher, wo es Hel! und sonnig war, und wo eine so reine, frische Luft wehte! Und nun stand das kleine Mädchen da und blickte schlich« lern durch die Glasscheiben, die vielleicht noch nie ein Kin« dergesicht widergesviegelt hatten . . . Wuchsen denn diq Efeuzweige durch das Dach und rankten sich dadrinnen in dem großen Zimmer weiter? Von der Wandbekleidung konnte man nichts sehen, sie war völlig überstrickt von Ge zweig, aber in kleinen Zwischenräumen traten Postament» aus der Wand hervor, auf denen große Gipsbüsten standen — eine merkwürdige Versammlung ernster, bewegungs loser Köpfe, die sich leuchtend und geisterhaft abhoben von dem kräftigen Grün der Blätterwand. Sie ließen es sich schweigend gefallen, daß die Efeuranken Allotria trieben un» sich hier quer um die Brust des einen und dort als Kranz um eines anderen ernste Stirn schlangen. Die Mutwilligen machten es ja mit den Fenstern nicht besser; sie hingen Wil eine grüne Wolke verdunkelnd über den Vorhängen, und doch waren diese zwei Fenster zwei prächtige Landschaftsbilder, sij ließen draußen die Straßendächer weit unter sich und faßtet da drüben den herbstlichen bunten Wald auf dem Bergrückeis Und die fahlen Streifen der Stoppelfelder in ihren Rahmens Unter dem Fenster stand ein Flügel. Die alte Mamsells Henau so gekleidet wie gestern, saß davor, und ihre zarte« Hände griffen mit gewaltiger Kraft in die Tasten. Das Gel sicht sah etwas verändert aus; sie trug eine Brille, und ihr, gestern so schneebleichen Wangen waren gerötet. Die kleine Felicitas war leise eingetreten und stand ii dem Bogen, welchen der Vorbau bildete . . . Fühlte die alt, Dame die Nähe eines menschlichen Wesens, oder hatte sie eij Geräusch gehört — sie brach plötzlich mitten in einem rauschen! den Akkorde ab, und ihre großen Augen richteten sich sofoü über die Brille binwea auf das Kind. Wie ein elektrische; Schlag fuhr etz durch die schwächliche Gestalt der Einsamen .ein leiser Schrei entfloh ihren Lippen; sie nahm mit der zm -ternden Rechten die Brille ab und erhob sich, während w efich auf das Instrument stützte. „Wie kommst du hierher, mein Kind?" fragte sie endlick -mit unsicherer Stimme, die jedoch trotz des Schreckens sauf und mild blieb. „Ueber die Dächer," versetzte das ängstlich geworden! kleine Mädchen beklommen und zeigte mit der Hand zur ist nach dem Hofe. „Ueber die Dächer? — Das ist unmöglich! Komm her, zeige mir, wie du gegangen bist." Sie faßte die Hand deß Kindes und trat mit ihm auf die Galerie. Felicitas deutet« auf das Mansardenfenster und nach den Rinnen. Die alt« Dame schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. „Ach, erschrecken Sie ja nicht!" sagte Felicitas mit ihrer lieblich unschuldigen Stimme. „Es ging wirklia, ganz gut, Ich kann klettern wie ein Junge, und Doktor Böhm sagt immer, ich sei ein Flederwisch und hätte keine Knochen."« Die alte Mamsell ließ die Hände vom Gesicht fallen und lächelte — es lag noch so viel Anmut in diesem Lächeln, das zwei Reihen sehr schöner, weißer Zähne sehen ließ. Sie führte die Kleine in das Zimmer zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl. „Du bist die kleine Fee, gelt?" sagte sie, indem sie Fe licitas an ihre Knie heranzog. „Ich weiß es, wenn du auch nicht auf rosa Gazewolken zu mir hereingeflogen bist . . , Dein alter Freund Heinrich hat mir heute mittag von dip erzählt." Bei Heinrichs Namen kam die ganze Wucht des Leides wieder über das Kind. Wie heute morgen stieg eine glühende Röte in die Wangen, und Groll und Weh zogen jene herben Linien um den kleinen Mund, die über Nacht den Ausdruck des Kindergesichts zu einem völlig anderen gemacht hatten.. Den Augen der alten Mamsell entging diese plötzliche Ver änderung nicht. Sie nahm schmeichelnd das Gesicht des kleinen Mädchens zwischen ihre Hände und bog es zu sich herab. „Siehst du, mein Töchterchen," fuhr sic fort, „seit vielen Jahren kommt der Heinrich allsonntäglich herauf zu mir, um verschiedenes für mich zu besorgen ... Er weiß, "daß er nie gegen mich erwähnen darf, was sich drunten im Vorderhaus« ereignet, und bisher hat er auch nie das Gebot überschritten. Wie lieb muß er die kleine Fee haben, daß er plötzlich gegen meinen so streng ausgesprochenen Wunsch handeln konnte!" Die trotzigen Augen des Kindes schmolzen. „Ja, er hat mich lieb — sonst niemand," sagte sie, und ihre Stimme brach. „Sonst niemd?" wiederholte die alte Dame, wahrend iHv unaussprechlich sanfter Blick ernst-liebevoll auf dem Ge sichte der Kleinen ruhte. „Weißt du denn nicht, daß einex da ist, der dich immer lieb haben wird, auch wenn sich alle Menschen von dir abwenden sollten? . . . Der liebe Gott —" „O, der will mich ja gar nicht, weil ich ein Spielerskind bin!" unterbrach Felicitas die Sprecherin mit ausbrechender Heftgkeit. „Frau Hellwig hat heute morgen gesagt, mein« Seele sei so wie so verloren, und alle drunten im Vorder hause sagen, er habe meine arme Mama verstoßen, sie sek nicht bei ihm... Ich habe ihn aber auch nicht mehr lieb — ganz und gar nicht, und ich will auch nicht zu ihm, wenn ich gestorben bin — was soll ich denn dort, wo meine Mama nicht ist?" „Gerechter Gott, was haben diese Grausamen mit ihrem sogenannten christlichen Glauben aus dir gemacht, armes Kind!" Die alte Dame erhob sich hastig und öffnete eine Sei tentür. Es war dem Kinde, als umflatterten hier weiße Wölks chen des Himmels sein Haupt. Ueber das in einer Ecke ste hende Bett, über Türen und Fenster flossen weiße Mullvor hänge herab. Die blaßgrüne Wand des kleinen Gemachs tauchte nur in einzelnen Wmalen Streifen zwischen dem wol kigen Gewebe auf . . . Welch ein Kontrast zwischen diesem kleinen Raume, so frisch und makellos rein, wie der Gedanke, der aus einer gesunden, unbefleckten Seele kommt, und jenem düsteren Boudoir drunten im Borderhause, in welchem Frau Hellwig während der frühen Morgenstunde auf dem Bet stühle kniete, auf jenem Betstühle, dessen gestickte Polstei! wohl für die grausigen Marterwerkzeuge, nirgends aber für ein Symbol des Friedens und der Versöhnung Raum batten. _
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