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Wochenblatt für Wilsdruff, Tharandt, Rossen, Sievenlehn und die Umgegenden. Amtsblatt für das Königliche Gerichtsamt Wilsdruff und den Stadtrath daselbst. Dieses Blatt erscheint wöchentlich zwei mal, Dienstags u. Freitags und kostet pro Quartal 1 Mark.— Jnseratenannahme bis Montag rcsp. Donnerstag Mittag? 12 Uhr. 76 Freitag, 8. September 1876. Der Tagarbeiter Gotthelf Robert Unger aus Eibenstock gebürtig, zuletzt in Limbach aufhältlich, hat sich auf eine wider ihn erstattete Anzeige zu verantworten. Da sein dermaliger Aufenthaltsort unbekannt ist, wird Unger hierdurch öffentlich vorgcladen, sich binnen 4 Wochen und spätestens de« 3. Oktober 1876 behufs seiner Vernehmung allhier zu gestellen oder doch bis dahin seinen Aufenthaltsort anher anzuzeigen. Alle Behörden werden ersucht, Unger'n im Betretungsfalle auf diese Vorladung aufmerksam zu machen und vom Erfolge kurze Mittheilung anher gelangen zu lassen. König!. Gerichtsamt Wilsdruff, am 2. September 1876. IZr Gangloff. Die Socialdemocralie und die Neichstagswahl. Die Socialdemocratie hat soeben auf ihrem in Gotha abgehal tenen Congrcß ihren Feldzug für die Reichstagswahlen in großartigem Maßstabe eröffnet. Die übrigen Parteien werden wohl thun, die bei dieser Gelegenheit gegebenen Ausschlüsse über die Stärke und Agi- tationswcise des gemeinsamen Gegners nicht unbeachtet zu lassen. Es scheint nicht, als ob in Gotha eine wesentliche Ausbreitung des neuen Evangeliums im Vergleich zu dem Besitzstände des Vorjahres zu constatircn gewesen wäre. Aber wir warnen davor, auf diese Er scheinung ein Gewicht zu legen. Bei den Wahlen handelt es sich weniger darum, wieviel erklärte Mitglieder eine Partei zählt, als vielmehr darum, mit welcher Energie und mit welchen Mitteln sie unter geschickter Benutzung der jeweiligen Umstände auf die politisch mehr öder weniger indifferenten Massen zu wirken versteht. In dieser Beziehung ist hier als bezeichnender Punkt zunächst die finanzielle Seite der Parteiorganisation anzusührcn. Die Jahresbilanz der so- cialistischen Parteicasse schließt in Einnahme und Ausgabe mit einer Summe von 50—60000 M. ab. Dazu ist der Aufwand der Local- vcreine zu rechnen, der von dem Berichterstatter des Congreßes ins- gesammt auf nahezu das Dreifache dieser Summe veranschlagt wurde. Und dabei sind die Abonnements auf die. Parteiblälter, die Kosten der Gewerkschaftsbewegung rc. noch gar nicht in Betracht gezogen! Diese außerordentliche Höhe der für die Parteizwecke gebrachten Opfer hat freilich noch eine andere Seite. So „grenzenlos", wie die socia- listische Presse cs immer darzustellcn beliebt, kann das „Elend in der Arbeiterwelt" sicherlich nicht sein, wenn man — ganz abgesehen von den steriothpen Bergnügungsanzcigen der „Arbcilerblältcr" — von dem Verdienste noch so viel für unuöthige Ausgaben erübrigen kann. Und andererseits ist es für jeden wahren Volksfrcund ein empörender Gedanke, wie aus diese Weise der Arbeiter um seinen Sparpsennig einfach betrogen wird. Aber zur Zeit derartige Betrachtungen anzu- stcllcn, wäre ein ziemlich müßiges Beginnen; im Hinblick auf die Wahlen haben wir lediglich die Thatsache zu betonen, daß die svcia- listische Arbeiterpartei eine practische Opscrwilligkeit belhätigt wie keine andere Partei — die Ultramontanen sind als eine eigentlich Politische Partei nicht zu betrachten — in Deutschland. Und die ganze Beisteuer der Mitglieder wird ausschließlich verwendet aus die „Agi tation", die bekanntlich bis zur Zertrümmerung der bestehenden Ge sellschaft der einzige Zweck der socialdemvcratischen Thätigkcit ist. Die Partei besoldet 8 „ständige Agitatoren", welche ihre ganze Kraft für diesen Zweck einzusetzen haben; außerdem erhalten 14 Parteige nossen für agitatorische Wirksamkeit monatliche Zuschüsse von 25—75 Mark. Im Solde der Partei stehen ferner 46 „Beamte" (Rcdacteurc, Expedienten rc.). Diese ganze Schaar von 145 Mann wird als Wühler nach allen Richtungen umhergesandt, die Redner und Reden werden förmlich auf Lager gehalten und je nach Wunsch an die Local vereine verabfolgt. . Was aber mit der Macht der Lungen nicht erreicht wird, das besorgt die Parteipresse, welche unter einer einheitlichen, strammen Ccntl Ölleitung steht und gegenwärtig über 23 politische Organe und ein U Uerhaltungsblatt mit angeblich fast 100,000 Abonnenten ver fügt, gar nicht zu gedenken der zahllosen Broschüren und Kalender. Und daß dieser Agitationsapparat unter geschicktester Benutzung der Umstände gehandhabt wird, braucht gar nicht erst erwähnt zu werden. Die andauernde wirthschaftliche Krise ist ein so ausgiebiges Thema, daß die socialistischen Herren „Redner" ihren Verstand gar nicht an zustrengen, sondern nur recht tapfer in Verdrehung, Verleumdung und Erregung der niedrigsten Leidenschaften zu machen brauchen, was ihnen ja ein Kinderspiel ist. Unter diesen Umständen ist es selbflverständlich, daß eine solche agitatorische Organisatson bei den Wahlen eine entsprechende Wirkung schlechterdings nicht versagen kann, wenn ihr nicht eine starke Kraft entgegenwirkt. Es kann uns natür lich nicht in den Sinn kommen, für diese Kraft eine gleiche Organi sation vorzuschlagen, wie sie auf Seiten der Gegner besteht. So lange man das socialistische Staats- und Gesellschaftsidcal — diese echte Verwirklichung des satirischen Scherzes von dem großen „Reichs zuchthause" — bekämpft, so lange wird man auch eine diesem Ideal entsprechende Patteiorganisation verwerfen. Aber dieser Einblick in die Stärke und die Mittel des Gegners muß allen nichtsocialistischen Elementen zum mindesten eine dringende Mahnung sein, nunmehr auch ihrerseits, und zwar ohne Unterschied des politischen Glaubens bekenntnisses, alle Kraft für den Kampf zu sammeln. Geschieht dies, so sind die Chancen keineswegs ungünstig; aber auch nur, und zwar, wenn cs mit allseitigem Ernste und vollem Nachdrucke geschieht. Tagesgeschichte. Die Gewerbe- und Handwerkervercine Sachsens beschäftigen sich gegenwärtig lebhaft mit der Lehrlings frage, da allgemein anerkannt ist, daß das LehrlingSwescn in der bisherigen Weise nicht sortgehen kann, wenn nicht das Handwerk ganz zurückkommen solle. Man hat auf dem kürzlich in Großenhain abgchaltenen Congreß all seitig eingeschen, daß das jetzige gegenseitige Verhältniß zwischen Meister und Lehrling nicht das richtige sei rind man wieder darauf zurückkommen müsse, einen Contract abzuschließcn, in welchem der Lehrling zwar Rechte, aber auch Verpflichtungen hat. Infolge ge stellten Antrags ist der Handwcrlervercin zu Chemnitz beauftragt worden, einen Normallehrverlrag zu entwerfen, der, wenn er die Billigung sämmllicher sächsischer Gewerbe- und Handwerkervercine gefunden, dann in Sachsen gelten soll. Gleichzeitig beschloß der Congrcß, ein über die Verbesserung der Lehriingsvcrhältnisse und ge setzmäßige Einführung von Lehrverträgen und Lchrzeugnissen auszu arbeitendes Gutachten im Anschluß an die Petition der deutschen Handels- und Gcwcrbekammcrn um Revision der Gewerbeordnung an den Reichstag zu bringen. Um das Ehrgefühl bei den Lehrlingen mehr und mehr zu heben — was in den letzten Jahren sehr ver säumt worden sein soll —, hat der Congrcß beschlossen, durch Ver mittelung der Gcwcrbcvcreine alljährlich allgemeine Prüfungen von Lehrlingsarbeitcn, verbunden mit von Zeit zu Zeit zu veranstaltenden Ausstellungen von Lehrlingsarbeitcn, ins Leben zu rufen. Leipzig, 5. September. Der Kaiser Wilhelm kam kurz nach ^5 Uhr im Bahr. Bahnhof hier an wurde von dem König Albert, der Königin Carola, dem Prinzen Georg, dem Großherzog und Erb-