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Paris, 25. April. Officiell wird gemeldet: Die Waffenruhe in Ncuilly dauerte von heute Morgens 9 Uhr bis Abends. Ein Decret der Commune ordnete die Verwendung der leerstehenoen Wohnungen im Requisitionswege zur Unterbringung der Bewohner der bombardirten Stadttheile an. Officiell wird gemeldet: Das Gerücht der bevorstehenden Räumung der Forts des rechten Seine ufers veranlaßte den Commnndanten von Vincennes die Wälle zu armiren. Ein deutscher Parlamentär kam hierauf nach Vincennes und verlangte die genaue Ausführung der Convention vom 28. Ja nuar. Cluseret befahl die sofortige Desarmirung der Wälle von Vincennes. Das officiclle Blatt der Commune enthält ein Decret, wonach eine Compagnie bürgerlicher und militärischer Luftschiffer gebildet werden soll, bestehend aus einem Capitän (mit 300 Franken Gehalt per Monat), einem Lieutenant (mit 200), einein Unterlieutcnant (mit 150), einem Sergeanten, zwei Unter-Sergeanten und zwölf Luft schiffern. Diese Compagnie steht unter dem dirccten Befehle des Commandantcn der Executiv-Commission. Jules Durnof ist zum Capitän und Radar zum Lieutenant der Luftschiffer ernannt. Das Decret ist hauptsächlich dadurch motivirt, daß der Verkehr zwischen Paris und einem Theile des Auslandes und der Provinz behindert ist, und man Mittel und Wege sucht, um durch Journale u. s. w. gegen die Verleumdungen der Versailler Regierung aufzutreten und die Wahrheit bekannt zu machen. Außerdem sollen die Luftballons zur Erkennung der feindlichen Stellungen benutzt werden. In Paris äst man jedoch vielfach der Ansicht, daß die Commune nur deshalb den Luftschifffahrtsdienst hcrstcllt, um in einem gegebenen Augenblicke sich dieses Weges zu bedienen, um der ihr drohenden Strafe zu entrinnen. Der „National" vom 20. April klagt: „Die Physiognomie von Paris nimmt noch an Traurigkeit zu. Die Lüden werden mehr und mehr geschlossen. Auf dem linken Nfer schließen die Kaffeewirthe ihre Geschäfte vor 10 Uhr. Die Kunden sind nicht zahlreich genug, um die Unkosten für das Gas zu decken. „Le Bien Public" droht der Commune: Wenn die Preußen nicht kommen, so kommt der Hunger! Die „Vcrite" meldet: „Wir machten heute einen Gang vor Paris. Die Mehrzahl der Fabriken und Werkstätten sind geschlossen und im Centrum waren die Luxusmagazine keine Muster der Pariser Industrie mehr: die großen Häuser der Modchandlnngen öffnen ihre Läden nicht mehr, weil sie keine Käufer finden. Ueberall sind die Gesichter besorgt und scheinen eine große moralische Niedergeschlagen heit zu zeigen. In den Straßen sieht man die Leute nicht mehr stehen und gehen wie ehemals, aber bei dem geringsten Zwischenfalle bilden sich Gruppen, wo Redner die ewigen Schlachtberichte erzählen; man hört einen Augenblick zu und zuckt daun die Achseln. Aber Eins beherrscht die Redner: die Kanonade." Die „Situation" bringt eine Zuschrift an den Kaiser Napoleon, worin die Intervention desselben angekündigt wird. Der Plan be steht darin, daß ein Plcbiscit hervoegerufen werden soll, in welchen Napoleon neben den Orleans und dem Grafen Chambord als Be werber auftreten soll. Es würde zuerst über Republik und Monarchie und dann über die Worte: ob legitimistisch, orleanistisch oder bonapartistisch das Volk sich auszusprechen haben. Die „Situation" scheint besonders auf den Clerus zu rechnen, der allerdings, um seine Herrschaft in alter Weise fortzuführen, ein Interesse daran hat, daß Napoleon und Eugenie wieder in der Tuilericncapelle die Messe besuchen und in Rom die päpstlichen Zuaven und die übrigen Re präsentanten der bonapartistischen „Civilisation" die Wache beziehen. Madrid, 22. April' In der Sitzung der Cortes erklärte Castelar den Krieg der Republikaner gegen die savohische Dynastie und kündigte zugleich den Antrag an, wonach diese Dynastie der Thron rechte üerlustig erklärt würde. Zwei Finger. Kriminalnovelle von Ludwig Habicht. (Fortsetzung.) Der Assessor fuhr, in Nachdenken versunken, zurück. Gewiß war dies Zeugniß für den jungen Jablonsky ein günstiges, und es schien die Kette von zusammentreffcndcn Umständen zerreißen zu wollen, die seine Verbrecherschaft constatirten. Der Assessor begann sich zu prüfen, ob er nur seinem Vorurtheil folge, wenn er dennoch bei seiner Meinung beharre, oder den aus der eingeleiteten Untersuchung gewonnenen Anschauungen gerecht werde. Ihm verblieb die Phan tasie bei der Bestürtzung beim Finden der Dose, beim Verläugnen mit dem Bruder. — Allerdings hatte ein guter Fußgänger vom An fang des Waldes bis zur Stelle des startgefundenen Mordes eine halbe Stunde zu laufen, und der Bursche mußte doch den Wagen überholt und eher an der verhängnißvollen Kiefer angclangt sein; aber konnte er nicht das Mädchen absichtlich getäuscht und dennoch den Waldweg eingeschlagen haben? Ja, war denn überhaupt auf die Uhr des Johann Pfennig ein Verlaß? Er wollte zwar einige Minuten nach halb drei Uhr die Schüsse gehört haben. Einige Minuten? Bei den Bauersleuten wird es damit nicht so genau ge nommen, und differiren nicht oft die verschiedenen Dorfuhren um halbe Stunden? Selbst diese Aussage konnte der einge leiteten Untersuchung keine andere Wendung geben für den Assessor. Jedenfalls blieb der ältere Jablonsky Ler Anstifter des Mordes. ,Vyn Rache und Naubsucht getrieben, hatte er seinen Bruder zu dem Verbrechen verleitet, dessen Schießgcwandtheit unentbehrlich war. Der jüngere Jablonsky hatte die Doppelflinte so gestellt, daß sie sei- neu. Herren nicht in die Augen fiel, und sie dieselbe zurückließen, i 2 Nun ist er dennoch auf jenem Waldwege dem Wagen zuvorgekommcn und hat den Doppelmord begangen. Der ältere Jablonsky muß gleich den Weg von der Scholtisei aus genommen und den Bruder erwartet haben; er hat dann die Erschossenen beraubt und ist mit dem Gelde emflvhen, während der Jüngere inzwischen seine Doppel flinte sorgfältig gereinigt und sich zu seiner Heuchlcrrolle geschickt gemacht hat. So construirte der Assessor, und er mußte sich gestehen, daß die beiden Raubmörder dabei mit äußerster Klugheit zu Werke gegangen, daß ohne das Finden der Dose und ohne die Aussage der Scholzenfrau schwerlich ein Verdacht auf sie gefallen wäre. Bet den fortgesetzten Verhören wirkte die Eröffnung, die der Assessor über die mögliche Herstellung des Zweiten der Opfer machte, regelmäßig auf den jungen Stanislaus erschreckend. Er fürchtete für seinen Bruder. Der Viehhändler Hubert war aber selbst nach Wochen noch nicht auS seinem lethargischen Zustande erlöst. Bis jetzt hatte der Un glückliche, ohne einen Lani von sich zu geben, dagelegen; nur seine Äugen hatten noch gelebt, und zuweilen blickte er traurig auf seine Frau, die rn unermüdlicher Sorgfalt um ihn beschäftigt blieb. Stunden lang saß sie ain Bette des Armen und bewachte jeden Athcmzug. Das kräftige Weib wurde über der anstrengenden Pflege zum Schat ten. Oft, wenn sie an der Seite ihres Mannes saß, verlor sie sich in tiefes Hinbrüten. Finstere Gedanken durchzuckten dann ihr Hirn. Sie glaubte nicht den Versicherungen des Doktors, daß ihr Mann wieder gesunden würde, und um so tiefer grub sich in ihrem Innern der Schmerz um seinen Verlust ein, aber auch der Haß gegen Den jenigen, der ihn ermordet, und der sie jetzt zur Wittwe machte. In finsterer, stiller Nacht kauerte sie oft an dem Lager des Kranken, beugte sich tief über denselben und fragte in fieberhafter Hast: „Sage mir, wer war Dein Mörder? Hast Du ihn gesehen? Kennst Du ihn?" Sie horchte in athcmloser Spannung auf Antwort, aber so tief sie j sich auch herabbvg, so sehr sie auch ihren Alhem anhielt, um kein Geräusch zu machen, der Verwundete bewegte nicht einmal die Lippen; nur in seinen Äugen zuckle es leise auf. „Du weißt es nicht?" jagte sie klagend und sank auf ihren Sitz zurück. Dann versuchte die von Haß und Rache und der Räthselhaftig- keit des Mordes gequälte Frau einen andern Weg. Sie nannte dem Kranken Namen und wieder Namen, so weit ihr Gedächtniß und ihre Bekanntschaft reichte nnd fragte bei Jedem: „Ist es der?" Aber kein Schließen der Wimpern gab ihr zustimmende Antwort; nur wenn sie den Namen Stanislaus Jablonsky nannte, zuckten die Amgen des Kranken wie verneinend. Der Doktor mußte die arme Frau zwingen, wenigstens während der Nacht einer fremden Pflegerin Platz zu machen; sie fügte sich endlich; und wenn ihr der Doktor Hoffnung machte, daß ihr Mann dennoch wieder gesund werden würde, lächelte sie bitter nnd entgegnete, nur von denn einen Ge danken geqätt: „Er wird sterben, ohne den Mörder zu nennen!" „Rein, daß wirb er nicht!" erwiderte der Doklor entschieden, und wirktich, nach einigen Tagen zeigte er dem Assessor an, daß der Kranke wenigstens soweit hergestellt sei, um bei der nöthigen Scho nung vernommen werben zu können. Wohl lag der arme Mann noch matt und regungslos, aber er vermochte heule in der That seine Lippen zn bewegen und leise, wenn auch kaum hörbare Worte hervorzuflüstern. Es war ein eigen- thümtiches, alle daran Betheiligten tief erschütterndes Verhör. Der Assessor mußte sein Ohr dicht an den Mund des Kranken legen und mehr aus seinen Augen die Antworten lesen, als von seinen Lippen abhoechen. Aber wie wenig entsprach die Aussage des Kranken den darauf gestellten Erwartungen! Ja, sie mußte die Sache, statt aufzuhellen noch mehr verwirren! Was der Assessor in langen Pausen von dem Verwundeten erfuhr, war ungefähr Folgendes: Sie waren in der Mittagsstunde, vielleicht auch später, von der Scholtisei weggefahren und Beide im Besitz von etwa 1300 Thalern. Unterwegs hallen sie das Vergessen der Flinte bemerkt, und in der Erwartung, daß sie ihr Treiber Jablonsky nachbringen würde, waren sie bald langsam gefahren, bald hatten sie wohl gar etwas gehalten, um ihn herankommen zu lassen und, wenn er die Flinte nicht brachte, zurück zu schicken. Plötzlich fällt ein Schuß, er springt erschrocken auf und schon fällt der zweite, und er sinkt bewußtlos in den Wagen zurück. „Und Sie haben keinen Verdacht? Niemand gesehen?" „Niemand!" lispelte der Kranke. — „Und blieben Sie bewußtlos, als Ihnen der Mörder den Gurt abschnallte?" „Nein! Ich schlug noch einmal die Augen auf — aber ich sah nur eine Hand!" „Eine Hand?! Das ist traurig! Sahen Sie nichts weiter? Nicht den Nock! Nicht das mindeste Erkennungszeichen?" „Nein! Nur die Hand schimmerte mir vor den Augen, aber es war eine verstümmelte Hand — es fehlten — ihr— zwei Finger." „Zwei Finger fehlten? Sahen Sie das deutlich?" „Wie im Nebel —" „Welche Finger fehlten?" „Ich glaube, der Mittel- und Goldfinger, aber dann — ich war lobt —" „Mehr wissen Sie nicht?" „Nein!" Dann setzte er von selbst hinzu: „Aber unser Treiber ist es nicht! Lassen Sie ihn frei, Herr Richter — den armen Jungen." — Der schwache Mann schloß erschöpft seine Lippen und vermochte kein Wort mehr hervor zu flüstern. —