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Der Geheime Conuuerzirnrath Richard Hartmann in Chemnitz hat unter den andern zahlreichen testamentarischen Bewilligungen durch letztwillige Verfügung die Summe von 6000 Mark mit der Anord nung ausgesetzt, daß dieselbe unter seine Pathen beiderlei Geschlechts in und außer der Familie, soweit selbige nicht bei seinem Tode über 20 Jahre ait geworden, zur Vercheiluug gebracht werde. Als am 16. Februar ein m den 20er Jahren stehender junger Mann in Geschästsaugelegcnheiten den Weg von Werdau nach Zwickau paffirte, trat ihm eine ebenfalls in diesem Alter stehende Fraucns- per,on entgegen, umklammerte ihn mit den Worten: „Ich glaube meinen Retter gefunden zu haben, ich habe kein Obdach und seit 2 Tagen keinen Bissen Brvo gegessen, ich stehe auf dem höchsten Punkt der Verzweiflung, und müßte, wenn ich keine Hülfe finde, zum Selbst mord schreiten.'' Erschüttert von diesem Vorgang, überreichte ihr der junge Mann zunächst ein ansehnliches Geldstück und gelang es auch, für die Betreffende ein Unterkommen zu vermitteln. Die „Dr. N." berichten: Der kolossale Schneefall vom Sonntag und Montag hat im Betriebe der Eisenbahnen die empfind lichsten Störungen hervorgerufen. Am ersten verweht war wieder die Linie Annaberg-Weipert, auf welcher der Verkehr eingestellt wer ben mußte. Das gleiche Schicksal hatte die Strecke zwischen Marien berg und Reitzenhain; auch ist die anschließende Buschtiehrader Linie nach Krima gänzlich verschneit. In W»lssgefärth war der Bahnhof dermaßen verschneit, daß der erste Frühzug nach Weischlitz erst mehrere Stunden später abgelassen werden konnte. Am schlimmsten aber wurden die Linien Dresden-Chemnitz und Dresden-Riesa-Leip zig heimgesucht. Auf ersterer blieben die letzten Züge am Sonntag (Eil- und Personenzug) im Schnee sitzen, es gelang aber, sie wieder flott zu mache» uud kombinirt Nachts 2 Uhr in Dresden einzubriugen. Ein Gleis blieb fahrbar. Im Laufe des Montag wurde aber auch dieses verweht und ein sitzen gebliebener Güterzug sperrt nunmehr den Verkehr zwischen Dresden und Freiberg ebenso vollständig, wie dies bezüglich der Strecke Freiberg-Oederan der Fall ist, auf welcher mehrere leere Maschinen im Schnee stecken. Auf der Leipziger Linie blieb der letzte Sonntagszug ab Dresden zwischen Dahlen und Wurzen sitzen. Ihn flott zu machen, gelang nicht, und so waren die armen Passagiere verurtheilt, die ganze Nacht bis zu dieser Stunde in dem verschneiten Zuge zubringen zu müssen. Am Morgen versuchte man den Passagieren mit Geschirr Lebensmittel zuzuführen, da alle Ver suche, mit Hilfsmaschinen heranzukommen, mißlangen. Auch zwischen Neustadt b. St. und Krummhermsdorf ist der Verkehr gestört und endlich sind auch die Linien Priestewitz-Großenhain, Riesa-Lommatzsch und Leipzig-Chemnitz von dieser Kalamität betroffen worden. Auch die Magdeburg-Leipziger Bahn ist völlig verschneit. Von den Passa gieren im Personzuge 300, welcher seit Sonntag Nacht zwischen Dahlen und Wurzen im Schnee steckt, sind Montag Nachmittag 12 Perionen mittels Omnibus abgeholt worden. 5 andere harrten ihrer Befreiung noch. Auch zwischen Riesa und Chemnitz ist der Verkehr wegen totaler Bcrschneiung eingestellt worden. Auf dem platten Laube, mehr aber noch in allen GebirgSdistneten sind bei heftigem Südwestminde innerhalb 12 Stunden solche Massen Schnee gefallen, daß am Montag an vielen Orten jedwede Kommunikation unmöglich wurde. Ein Schatten. Novelle von Ludwig Habicht. (Fortsetzung.) Trotz ihrer etwas zu üppigen Formen machte Helene nicht gerade einen üüten Eindruck. Das runde Gesicht mit den aufgeworfenen Lippen und den tief liegenden schwarz umränderten Augen deutete auf eine starke Sinnlichkeit' und die niedere platte Stirn verricth, däß sie sich mit Denken niemals viel abgeguält; aber in den braunen Augen lauerte eine tüchtige Portion Schlauheit und ein Zug um den Mund verrieth, daß sie nicht ohne schlagfertigen Mutterwitz war. Jetzt freilich schien sie all die geistigen Waffen verloren zu haben, mit denen sie sich ihre einflußreiche Stellung im Weißen Bären er kämpft; sie sah fo blöde uud schüchtern drein, als könne sie kein Wasser betrüben. War das nur Comödie und wollte sie damit die gute Meinung der Richler erwecken, oder hatte wirklich der unerwartete Schlag alles in ihr geknickt, das ließ sich schwer entscheiden. Auch nach Beant wortung der Vorfragen behielt sie ihre befangene Haltung bei und nur stockend, in einzelnen Absätzen, den Blick unverwandt zu Boden gerichtet, machte sie ihre wetteren Aussagen. Zu aller Erstaunen stimmte sie mit den Angaben des Wirthes völlig überein. Sie erzählte zwar etwas unsicher, aber ganz wie Krcuzschmidt behauptet, daß ihr Herr sie in jener Nacht geweckt, über einen Kolikanfall geklagt, sie Feuer iu der Küche gemacht habe und dann von ihm wieder in's Bett geschickt worden sei. Entweder beruhten also die Angaben des Bärewirths aus voller Wahrheit, oder die beiden hatten Zeit gesunden, für den ungünstigen Fall eine übereinstimmende Aussage mit einander zu verabreden. Das setzte aber doch eine Ueberlcgung und alles berechnende Vorsicht voraus, die ans Fabelhafte grenzte. Ließ sich dies kaum annehmen, dann war freilich der schwerste Vcrdachtsgrund gegen Kreuzschmidt beseitigt. Dieser begriff auch vollkommen feine Lage. In fieberhafter Spannung lauschte er auf jedes Wort Helenens und als sie ihre Aussage beendigt hatte, glitt ein zufriedenes Lächeln um seine Lippen. Schade, daß sie sich noch immer nicht im Saal umsah, er hätte"ihr so gern einen dankbaren Blick zugeworfen. Unter den Richtern und Geschworenen machte sich bereits für den Angeklagten -ine günstige Stimmung geltend; nur der junge Staats anwalt behielt sein Mißtriuen bei; er war überzeugt, daß dieses ab gefeimte Paar trotz dieser kurzen Zeit, die es damals gehabt, dennoch auf der Stelle einen VertheidigungSplan erfunden, denn es giebt Menschen, die im Schlechten und Bösen eine raffinirte Klugheit u> d Scharfsinn entwickeln, deren sie für eine gute Sache niemals fähig wären. Die Aussage Helenens hatte den Schatten nicht aufgeklärt, den jene beiden Zeugen bemerkt, und nun galt es, dem verschlagenen Frauenzimmer diese Angaben zu entlocken. Kronfeld wurde die Ver- muthung nicht los, daß in den Wohnzimmern des Bärenwirthes irgend ein geheimer Wandschrank verborgen sei, der vielleicht so ge schickt angebracht war, daß man ihn nicht so leicht cutt ecken konnte. Vielleicht konnte er selbst rasch au's Ziel kommen und um Helene völlig sicher zu machen, begann er jetzt einige ganz unbedeutende Fragen an sie zu stellen. „Kreuzschmidt leidet wohl oft au Kolik?" „Danu und wann," war ihre einsilbige Antwort. „Kommt der Anfall regelmäßig?" „Nein!" „Wohl «ur dann, wenn er sich erkältet hat?" „Ja!" „Und welche Mittel wendet er an?" „Er läßt sich einen Ziegel wärmen." „Genügt das?" Helene behielt den Kopf gesenkt, nur suchten ihr Augen verstohlen zum Staatsanwalt Hinüberzuschweifen, als könne sie damit erfahren, wo der Herr mtt seiner Frage binauswolle, und da sie noch unent schlossen war, welche Antwort sie geben sollte, verharrte sie im Schweigen. „Gewöhnlich werden bei solchen Fällen noch krampfstillende Tropfen gebraucht," fuhr der Staatsanwalt ruhig fort, und der Aus druck in seinem Gesicht war so ruhig und unbefangen, als ob er hier eine rein medicinische Angelegenheit erörtern wolle. Die Versamm lung war auch wirklich nicht ein wenig darüber verwundert, was der Beamte mit all' seinen Fragen eigentlich bezwecke. „Ja, daS macht man wohl," sagte sie endlich und behielt immer noch ihre Zurückhaltung bei. „Der Kreis-Physikus hat bekundet, daß er für die Kolik des Herrn Kreuzschmidt solche Tropfen verordnet. Hat der Kranke in Ihrer Gegenwart einmal solche Medicin eingenommen?" „O ja, zuweilen." „Und in jener Nacht?" Wieder irrten die Augen Helenens verstohlen zu dem Staatsan walt hinüber; sie glaubte um seine Lippen ein Lächeln zu bemerken. Wollte er sie auf's Glatteis sühren? — Gewiß hatte ihr Herr be hauptet, daß er Tropfen eingenommen — vielleicht war er durch vieles Fragen so in die Enge getrieben worden, daß er sich, nur durch diese Angabe herauszuhelfcn gesucht, obgleich sie's damals nicht mit verabredet hatten. Aber wenn sie es jetzt ableugnete, dann galt am Ende ihr ganzes Zeuguiß nichts. Diese Gedamen zuckten blitz artig durch ihr Gehirn und ohne weiteres Schwanken entgegnete sie: „Er nahm die Medicin." Ein dumpfer Ton, wie ein schmerzliches Stöhnen, drang an ihr Ohr. Sie wußte sofort, von wem es kam und wollte sich bestürzt umwenden, doch sie wurde von dem Staatsanwalt daran verhindert, der beretts mit neuen Fragen auf sie eindrang. Während sie früher nur Unsicherheit geheuchelt, hatte sie jetzt wirklich alle Fassung ver loren. Der dumpfe Seufzer Kreuzschmidts hatte ihr gesagt, daß sie mit ihrer Antwort einen großen Schnitzer gemacht und nun kam plötzlich eine Angst und Unruhe über sie, die sich uicht mehr be- meistern ließen. „Sie bekundeten vorhin, daß während der Zeit, in der Sie im Schlafzimmer Ihres Herrn waren, das Licht auf dem Tische stand, gerade in der Mitte des Zimmers. Ist das wirklich richtig?" „Ja," brachte sie mühsam hervor. „Wurde der Wandschrank, während Sie dort standen, ein- oder zweimal geöffnet?" Helene gab keine Antwort, sondern starrte nur zu Boden und zupfte gedankenlos an ihrem Schürzenbande. Jetzt bei dieser letzten entscheidenden Frage hätte Kreuzschmidt ihr so gerne noch einmal ein warnendes Zeichen gegeben; aber die Augen des Staatsanwaltes ruhten mit solch vernichtender Gewalt auf ihm, daß ihm die Kehle wie zugeschnürt war. Um die feinen Lippen des Brannen schien ein triumpchrcudes Lächeln zu spielen und ihm war's, als könne er von seinem Antlitz ablesen: „Gieb Dir weiter keine Mühe, Du bist dennoch verloren," und wie gebannt ver harrte er regungslos auf seinem Platze. „Ich will Ihrem Gcdächtniß zu Hülfe kommen," begann Kron feld von Neuem: „Als Herr Kreuzschmidt die Medicin aus dem Wandschranke nahm, schloß er da die Thür oder ließ er sie offen?" „Er schloß sie." „Dann wurde der Schrank noch einmal geöffnet, um die Flasche zurückzustellen? Nicht wahr?" „Ja," antwortete Helene; sie hatte schon ihre klare Besinnung verloren und wußte nicht mehr eine Ausflucht zu finden. „Wissen sie sich zu besinnen, wie lange die Thür das letzte Mal offen war?" „Kaum eine Minute." „Wenn die Thür des Wandschranks offen war, mußte sie zwischen dem Licht uud dem Fenster stehen. Jst's nicht so?" , Ja wohl." „Machte die Thür viel Geräusch, wenn sie aufgeschloffen wurde?" „Nein." „Ach, ich vergaß, ob Sie vorhin gesagt, der Schrank befinde sich vom Fenster aus auf der rechte» oder linken Seite?" „Ans der linken." „Haben Sie jemals den Schrank selbst geöffnet?" „Nein," war ihre eintönige Antwort. „Die Vorrichtung war wohl ein Geheimniß Ihres Herrn?" Sie hatte sich in völliger Verwirrung von Antwort zu Antwort drängen lassen, auch jetzt öffnete sie schon wieder die Lippen zu einer Entgegnung, da hörte sie auf einmal denselben dumpfen Ton, nur noch stärker; sie wendete sich hastig um und sah in das angstverzerrte Antlitz Kreuzschmidt's. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn und die Augen starrten wie erloschen. Der sonst so unerschütterliche Mensch, der bisher den hartnäckigsten Widerstand geleistet, war völlig vernichtet. Lene Fiebig war kaum seiner ansichtig geworden, da zuckten auch blitzartig die Folgen ihrer Antworten durch ihr Hirn. Sie stieß einen kalten Schrei ans und brach zusammen. Die Verhandlung mußte auf einige Stunden vertagt werden. In größter Spannung war die Versammlung dem wahrhaft dra matischen Vorgänge gefolgt und in vielen dämmerte bereits die Ahn ung auf, was der Staatsanwalt eigentlich mit seinen vielen unnütz scheinenden Fragen verfolgt und — erreicht. Agnes besonders hatte auf der Stelle seine Absicht erkannt und mußte den Scharfsinn be wundern, mit dem er dieser verschlagenen Person das Geheimniß ab« gelockt. Wenn auch eine sofortige und diesmal weit sorgfältigere Prüfung des Krcuzschmidt'schen Schlafzimmers zu demselben Ziel ge führt hätte, war es ihr eine ganz besondere Genugthuung, daß der junge Staatsanwalt das sorgfältig bewahrte Geheimniß einem der Angeklagten selbst entrissen. Kronfeld theilte ihr jetzt mit, daß er auf der Stelle nach Neu-