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„Du hast Dich tapfer benommen, Hedwiga! —Ich danke Dir! —" sprach sie langsam, „Gott sei gelobt, der mich in der letzten entscheidenden Minute herbeiführte, um die Schande von ihm und damit von unserm Hause abzuwenden." „Du hast den armen Ulrich gerttet? O, ich wußte, Tante, ich wußte, — wie gut Du bist." „Lobe mich deshalb nicht, Kind!" seufzte Ulrike bekümmert, „ich dachte in jenen furchtbaren Augenblicken mehr an unsere Ehre, als an ihn, der sie so leichtsinnig gefährdete. Wenn es gewiß wäre, daß man ihn nicht erkannt, wie er behauptet —" „Und das mit Recht," fiel Hedwiga eifrig ein, „da die Polizei diesen Umstand sicherlich nicht unbenutzt gelassen hätte, uns Alle in ein strenges Verhör zu nehmen." „Ganz richtig, Kleine," lächelte Ulrike überrascht, „Du folgerst mit kriminalistischem Scharfsinn; wir können darüber in der That beruhigt sein. Jetzt heißt es, seine Rettung zu einer vollständigen zu machen, und es freut mich deshalb um so aufrichtiger, eine so scharfsinnige Verbündete in Dir zu finden. Sieh, Hedwiga," fuhr sie nach kurzem Besinnen fort, „ich habe im Stillen oft schwer gelitten, manche heiße Thräne dem Schick sal des unglücklichen Ulrich geweiht, und dem eigenen Bruder ob seiner Härte lange gezürnt, da ich nur zu sehr davon überzeugt war, daß der arme Junge bei Lebzeiten seines Vaters niemals an eine Heimkehr denken durfte." „Tante Ulrike!" rief Hedwiga, als jene schwieg, sich bittend an sie schmiegend, „willst Du mir nicht mittheilen, was mein Bruder Ulrich damals verbrochen, um so schwer gestraft, so gänzlich vom Vaterhaus aus gestoßen zu werden?" Die Tante blickte sie ernst an und schüttelte dann abwehrend den Kopf. „Das kann und will ich Dir jetzt nicht mittheilen, Kind!" versetzte sie mit ruhiger Bestimmtheit, „vielleicht später, wenn Du gereifter bist, um den Leichtsinn eines jungen, unbändigen Brausekopf's richtig beurtheilen zu können. So weit magst Du indessen wissen, daß Ulrich sich gegen seinen Vater schwer vergangen und seine letzten Lebensjahre nur zu sehr verbittert hat." „Das hat Tante Irmgard mir oft genug gesagt," bemerkte Hed- wiga unmuthig, „aber ihn auch zugleich als den Sohn seiner Mutter ent schuldigt und meiner armen bürgerlichen Mutter die Hauptschuld des Zer würfnisses aufgeladen. Ist das wirklich wahr, Tante Ulrike?" Diese schüttelte den Kopf. „Nein, liebe Hedwiga, Deine arme Mutter ist schuldlos daran," sagte sie rasch. Tante Irmgard war ihr nicht freundlich gesinnt und be- urtheilte damals wie auch heute noch die Menschen uns ihre Handlungen einzig und allein durch die getrübte Brille ihrer Standes-Vorurtheile. Die größte Schuld lag in dem Unterschied der Jahre, welcher bei der Verbindung Deiner Eltern nicht berücksichtigt worden war. Mein Bruder war bereits ein Mann von beinahe fünfzig Jahren, als er seine achtzehn jährige Braut zum Altar führte. Wie konnte einer solchen ungleichen Ehe Glück entsprießen?" „Arme Mutter!" seufzte Hedwiga, „sie starb am gebrochenen Herzen." „Das ist eine alberne Phrase, mein Kind!" sprach Ulrike im herben Tone, „der Gram kann langsam tödten, aber niemals ein Herz brechen. Ich hatte Deine Mutter sehr lieb, und ich glaube, auch ihre Zuneigung besessen zu haben, doch war ich zu jung, um ihr beistehen, ihr Schicksal glücklicher gestalten zu können. — Erst später begriff ich ganz, was wir Alle ihr zu danken hatten." „Weil sie großen Reichthum besessen," bemerkte Hedwiga bitter, „o wie glücklich hätte sie ohne den Mammon sein können." „Vielleicht — mein Kind — ganz sicher läßt es sich nicht sagen." Tante Ulrike sah bei diesen Worten starr vor sich hin, als zöge die ferne Vergangenheit an ihrem geistigen Blick vorüber. „Du bliebst ihr treu bis zuletzt, Tante?" fragte Hedwiga leise. „Ja, ich darf es von mir sagen, obwohl ich manchen harten Kampf deshalb zu bestehen hatte. Sie starb in meinen Armen, ich glaube, ganz friedlich und schmerzlos, nachdem ich ihr in die sterbende Hand gelobt, Mutter stelle bei ihrem Kinde zu vertreten, und nachdem sie Allen vergeben, die ihr im Leben wehe gethan." „Sah mein Vater sie nicht mehr?" forschte Hedwiga mit bebender Stimme. „Nein, er befand sich auf Reisen; laß uns dieses traurige Thema jetzt abbrechen, mein theures Kind! — Du sollst dereinst Alles erfahren, was ich Dir jetzt um der Todten willen noch verschweigen muß. Es ge nüge Dir, zu wissen, daß Ulrichs Vergehen einem edlen Gefühle entsprang und daß nur die wilde Leidenschaftlichkeit und das heiße Blut der Jugend ihn vergessen ließ, was er seinem Vater schuldig war. Auch jetzt hat dieses heiße Blut sich noch nicht genug abgekühlt, um vom kalten Ver stände gezügelt zu werden, trotz seiner jahrelangen leidensvollen Verbann ung hat es ihn auf's neue in's Verderben gestürzt. Ein Freund hatte ihn fern in Australien verrathen und beraubt. Um sich an diesem zu rächen, kehrte er heim, verfolgte seine Spur durch halb Europa, verlor da bei seine letzten Ersparnisse und traf ihn endlich hier in der Vaterstadt, um durch ihn zum Verbrecher, zum verfolgten Mörder zu werden." „Tante, um Himmelswillen!" schrie Hedwiga entsetzt auf. „Ich habe keine Ursache, an Ulrick's Worten zu zweifeln," fnhr Ul rike rasch fort, „er versicherte, keine Waffe, nur einen Stock besessen zu haben, während sein Feind ihn mit Revolver und Messer bedrohte und sich beim Ringen selber verletzt oder getödtet haben muß. Als das Un glück geschehen, — im kleinen Gehölz ist's gewesen, — war ein Häscher, welcher ihn bereits als verdächtig verfolgt hatte, schon zur Stelle. Er entfloh und kam, von der Dunkelheit begünstigt, hier in's Haus, wo er glücklicherweise Dich zuerst getroffen —" „Der Aermste, ich entsetzte mich nicht wenig, wurde aber sofort von Theilnahme ergriffen, als ich in sein edles Gesicht sah und die Todesangst in seinen Augen las. Ach, Tante, ein verwandter Zug trieb mich un widerstehlich an, ihn zu retten — ich konnte nicht anders." „Gott sei dafür gelobt!" sprach Ulrike, die Nichte in ihre Arme schließend und sie zärtlich küssend. „Jetzt aber gilt's, meine tapfere Hed wiga, ihn nicht blos vor Schande unv Entehrung zu bewahren, sondern auch der Heimath und einem neuen Leben zurückzugeben. Und zu diesem gottwohlgefälligen Werke wird unsere Kraft ohne männlichen Beistand nicht ausreichen." „Du meinst, daß unser Johann diesen Beistand leisten soll, — er ist bereits verständigt." (Forts, folgt.)