Volltext Seite (XML)
Dienstag, den 5. November I88S. Beilage zu No. 88. Durch fremde Schuld. Original-Roman von E. v. Linden. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Noch drei Tage mußte er auf den Ersehnten warten, dann erschien Lieutenant Frank, der nur mit knapper Noth den sofortigen Urlaub er halten und sich fast gewaltsam von den Kameraden hatte losreißen müssen. „Weiß der Himmel, daß ich mich noch nie so sehr nach einem Lieute nant gesehnt habe, wie in diesen Tagen," ries ihm Reinecke in komischer Verzweiflung entgegen. „Haben Sie unbeschränkten Urlaub erhalten?" Vorerst zwei Monate, die hoffentlich genügen werden, unsern Vogel einzufangen", lächelte Frank belustigt. „Ich vermuthe inzwischen, daß Sie Ihre Zeit nicht verträumt haben, Herr Reinecke!" „Das ist richtig calculirt, da ich zum Träumer nicht paffe", lächelte nun auch der Detectiv. „Ich rathe jetzt, Herr Lieutenant, die Zeit zu benutzen, und hier alles bei Seite zu lassen, was später nachgcholt werden kann. Die beiden Särge sind so lange im Leichenhause untergebracht, bis die Gruft fertig gestellt ist, da cs doch keine gewöhnliche Grube sein soll." „Nein, eine gemauerte Gruft mit einem Eingang, — wir gehen, wenn ich mich etwas erholt habe, hinaus, um den Platz zu besehen. Haben Sie den Hausschlüssel?" „Der Notar hat ihn mir gelassen, Sie gehen doch zu ihm?" „Versteht sich, nichts Neues entdeckt?"! „Hoffentlich etwas sehr Wichtiges sogar, möchte Sie aber jetzt nicht damit aushalten, Herr Lieutenant, da Zeit noch etwas mehr als Geld für uns bedeutet. Können draußen in Ihrem Garten darüber sprechen." „Mein Garten!" tönte es in Franks Innern nach, es war doch ein eigenthümlich angenehmer Gedanke, ein solches Eigenthum sein zu nennen. — Er beeilte sich jetzt mit seiner Toilette, nahm rasch ein Frühstück zu sich und schritt dann mit Reinecke eiligst aus dem Thor, wobei Letzterer den blinden Mohr sorgfältig an einer Leine führte, weil der alte Bursche als ein kostbares Kleinod behütet werden müsse, wie er, ihn zärtlich strei chelnd, bemerkte. Mit schmerzlicher Wehmuth durchwanderte Frank die bekannten Räume, wo er eine Heimath, ein Vaterhaus gefunden. Hier erst empfand er, was er durch den Tod jenes edlen Mannes verloren, was er alles ihm zu danken hatte, und als er plötzlich vor jenem Bilde stand, das selbst den kaltberechnenden Criminalbeamten mit wirklicher Theilnahme erfüllt hatte, vor dem lieblichen, frohblickenden Kinde, welches ein so grauenhaftes Ende finden sollte, da drängten sich gewaltsam Thränen in sein Auge, und er mußte sich abwenaen, um seine Schwäche zu verbergen. „Es ist die Tochter des alten Herrn?" fragte Reinecke leise. Frank nickte und schritt dann rasch hinaus in den Garten. „Sie haben mir noch etwas Besonderes mitzutheilen, Herr Reinecke?" fragte er nach einer Weile, wieder vollständig gefaßt. „Ja, ich bitte, meiner Führung zu folgen, Herr Lieutenant!" Er schritt nun mit dem Hunde voran bis zu jenen Fußspuren ander Mauer, wo Mohr unruhig wurde und plötzlich wüthend knurrte. „Witterst du Morgenluft, alter Bursche?" lachte Reinecke vergnügt. „Sehen Sie sich diese Fußspuren an, Herr Lieutenant Frank!" Dieser trat erregt näher, während der Hund diesselben, anhaltend knurrend, beschnüffelte, dann an den Baum zu klettern versuchte und drohend gegen die Mauer anbellte. Reinecke zog das gefundene Täschchen hervor und hielt es dem blinden Thier vor die Nase, doch machte dies Experiment durchaus keinen Ein druck auf seinen Geruchssinn, woraus der Detectiv den berechtigten Schluß zog, daß der Gegenstand droben auf der Mauer zu lange dem unmittel baren Einfluß der wechselnden Witterung ausgesetzt gewesen und deshalb für seinen Zweck unbrauchbar geworden war. Jetzt nahm Reinecke eine Karte aus dem Täschchen und hielt diese dem Hunde vor. Mohr beschnüffelte den kleinen Gegenstand, knurrte un ruhig und hatte die Karte im selben Augenblick auch schon zwischen den Zähnen, sie wüthend zerreißend und zermalmend. „Was haben Sie denn da?" fragte Frank neugierig, „Visitkarten?" „Na freilich, Sic sehen, wie Mohr sich daran freut und sicherlich lieber den Eigenthümer derselben zwischen seinen scharfen Zähnen hätte. Dieser gute Junge hat offenbar auch hier einen Besuch gemacht und bei der Gelegenheit, wie üblich, da er niemand zu Hause getroffen, seine Karten hinterlassen, in der Eile das Täschchen dabei. Ich sah diese Fußspuren, bestieg den Birnbaum und fand den kleinen Gegenstand droben auf der Mauer, Beweis, daß der Besitzer desselben diesen Weg zu seinem Besuch gewählt hat." Er überreichte dem Lieutenant das wichtige Fundstück, dabei noch be merkend, daß sich leider zwei Besitzer darin theilten, der Wcg zur Ver folgung sich also in zwei verschiedene Spuren zu theilcn scheine. Frank stieß einen triumphirenden Ausruf aus, als er die Karten musterte. „Er ist es, er ist es!" rief er mit vor Aufregung heiserer Stimme, „meine Ahnung war richtig, der Schurke führt zwei Namen. O, uner hörter Betrug!" „Wir hätten es also nur mit einer Person zu thun?" fragte Reinecke, „bitte, Herr Lieutenant! — geben Sie mir einen klaren Aufschluß darüber. — Sie dürfen mich nicht im Finstern tappen lassen." „Ja, Sie müssen alles wissen," erwiderte Frank rasch, „kommen Sie dorthin nach jener Bank, da man hier an der Mauer uns leicht hören könnte." Als sie den bezeichneten Platz erreicht hatten, erzählte Frank mit halb lauter Stimme die Geschichte seiner Kindheit, wobei er besonders die spätere Abneigung der schönen Felicitas gegen den unberechtigten Eindringling, der ih^ des Vaters Liebe geraubt haben sollte, hervorhob. Er zählte von ihrer Flucht aus der Pension, wobei zuerst der Name Gerard genannt wurde, von seiner Pariser Gefangenschaft und deren Folgen bis zu seiner Rettung durch den Capitän Waldmann. „Da wäre also dieser Gerard," nahm Reinecke, welcher aufmerksam zugehört, das Wort, „der Schwager des verstorbenen Fichtner. Hat Letzterer Ihnen niemals von ihm erzählt?" „Nein, doch habe ich mich überzeugt, daß die Schwester seiner Gattin in Lausanne einen Mann dieses Namens wirklich besaß." „Beweis also, daß derselbe niemals wirksam in die Tragödie seines Lebens eingegriffen hat," bemerkte Reinecke nachdenklich. „Ich glaube es ebenfalls nicht, obwohl seine unglückliche Gattin — ich habe Ihnen die Geschichte doch mitgetheilt?" „Oberflächlich, es wäre mir wünschenswcrth, dieselbe noch einmal in ihren Einzelheiten zu hören, da der Müsse Rico doch wohl die Haupttolle darin spielt." „Bis zum Schluß der Tragödie. Hören Sie also dieselbe so aus führlich, wie ich selber sie erfahren." Frank erzählte und Reinecke horchte unbeweglich. Als jener geendet, streichelte der Detectiv den blinden Hund, der zu ihren Füßen lag und sagte: „Na, Mohr, nun geht's auf die Jagd nach Deinem Todfeind. Halt die Ohren steif, alter Junge und laß uns nicht im Stich." „Sie theilen also meinen Glauben?" fragte Frank. „Na, freilich Monsieur Rico-Gerard ist von dieser Stunde an vogel frei. — Es kommt jctzt darauf an, seine Reiseroute genau festzustellen." „Er ist in Paris," sprach Frank bestimmt. „Ein Mensch wie er kann sich nur dort in dem tollen Strudel wohl und auch sicher fühlen." „Sic glauben, daß er sich in Paris unter dem einen oder andern dieser Doppelnamen aufhält?" fragte Reinecke nachdenklich. „Gewiß, weshalb denn nicht, mein Lieber? Summiren Sie gefälligst alle Thatsachen und ziehen dann das Facit. Er wiegt sich, nachdem er schließlich noch an den Gräbern seiner Opfer gestanden und durch den Todtengräber das Zeugniß von dem Selbstmord Fichtners erhalten, in vollständigster Sicherheit, zumal er von meiner Flucht in Algerien nichts erfahren konnte, mich also längst todt oder doch gut aufgehoben glaubt. Jetzt lebt er lustig von seinem'Raube, wo aber könnte er das bester als in seinem geliebten Paris?" „Das ist allerdings logisch, Herr Lieutenant!" bemerkte Reinecke, „und macht Ihrem Combinationstalent alle Ehre. Mich aber will der Gedanke nicht loslassen, daß der Bursche sich viel lieber abseits gedrückt, als Paris ausgesucht hat. Was meinen Sie zum Exempel in Lausanne?" Frank blickte ihn überrascht an, alles Blut strömte ihm zum Herzen und dann ins Antlitz zurück. Ein liebliches Antlitz gaukelte vor seinem Auge und unwillkürlich griff er nach der Brusttasche, wo er das Bild der reizenden Desiroe, welches die unglückliche Felicitas ihm gegeben, heimlich aufbewahrte. „Könnte man dort überhaupt nicht die sicherste Gewißheit über diesen Monsieur Gerard erhalten?" setzte Reinecke, den Lieutenant etwas ver wundert betrachtend, hinzu. „Freilich, freilich," nickte Frank verwirrt, „aber es ist ein gewaltiger Umweg nach Paris." „Kann aber desto sicherer zum Ziele führen," beharrte der Detectiv, der sich in dieser Sache augenscheinlich die Führerschaft bewahren wollte. „Dann wäre es vielleicht klüger, wir theilten unsern Weg," meinte Frank, die Spitzen seines Schnurrbarts drehend. „Sie gingen mit dem Hund nach Paris, ich nach Lausanne." Er hatte bei diesem Vorschlag wieder verdächtig die Farbe gewechselt. „Was, zum Henker, mag der Lieutenant nur haben ?" dachte Reinecke, ihn forschend anblickend. „Dieses Lausanne scheint sein Gewissen zu sein." „Bah, Herr Lieutenant!" sprach er dann wegwerfend, „Sie würden dem Burschen zweifellos der beste Warner sein, da der vortreffliche Offi zier noch lange nicht zum Criminalbeamten taugt. Wir müssen beisammen bleiben, und wenn Ihnen an meinem Rathe etwas liegt, dann stimmlich für die sofortige Abreise nach Lausanne, wo uns Monsieur Ricos Bild die besten Dienste leisten wird." Frank nickte zerstreut, er hatte den Mann nöthig und mußte sich, so schwer es ihm auch wurde, fügen. Der Gedanke, daß Reinecke sich eben falls der schönen Desirse nähern, mit ihr sprechen, sie wohl gar inquiriren könne, war ihm unsäglich widerwärtig und empörte sein feines Gefühl. — Dann aber durchblitzte es ihn plötzlich wie mit einem elektrischen Schlagt. Wie, wenn Desirse Gerard verlobt oder bereits verheirathet wäre?— Die Kinder des sonnigen Südens pflegen sich sehr jung zu binden. Oder, was ebenso grausam, wenn sie wirklich die Tochter jenes Mannes wäre? Ein Frösteln dnrchzog seinen Körper. „Besorgen Sie das Nöthige zur schnellsten Abreise", sprach er hastig, „ich werde dem Notar Günther noch meinen Besuch machen." Neuntes Capitel. Es war ein wundervoller Tag, im sonnigsten Glanze schimmerte der Genfersee, umrahmt von einem Kranz lieblicher Ortschaften, prächtiger Villen und der herrlichsten Natur. Ein Stück Eden für den sorglos glücklichen Menschen, während der Unglückliche hier erst recht zum Bewußtsein seiner Qual, seines Elends kommt, mag cs seelischer Art sein oder der gemeinen Noth des Lebens entstammen, was ihn mit dem Dichter empfinden läßt: „O, schöne Welt, du bist abscheulich!" Etwa '/r Stunde vom Genfersee entfernt liegt Lausanne, die Haupt stadt des Cantons Waadt, in malerischer Umgebung, welche dieselbe zum beliebten Aufenthalt zahlloser Touristen gemacht. Die seltsame Drei-Hügel- stadt, welche sich an den Abhängen das Jorat, einer Häuscrburg gleich, überragt von der schönen hohen Kathedrale und dem martialisch mittelalter lichen Schloß hinzieht, das Losonium der Römer ist uralt; das Innere der Stadt verwinkelt, eng, nichts als Berg- und Thalgassen, oft recht un schön. Die auf zwei Hügeln gelegenen westlichen Staddttheile St. Francois und St. Laurent wurden zu Anfang der 40er Jahre durch einen Viaduct, den „Grand Pout," mit einander verbunden, und von Jahr zu Jahr er weitert und verschönert sich Lausanne, denn so unfreundlich ihr Inneres ist, so reizend entfalten sich die neuen Stadttheile. Frank und Reinecke waren spät Abends hier eingetroffen, hatten zur Nacht gegessen und dann bis zum Morgen vortrefflich geschlafen. Wenigstens sah man's dem Detictiv an, der sehr aufgeräumt war und mit dem blinden Mohr, welcher sich seiner besonderen Sorgfalt erfreute, scherzte und spielte. „Sie scheinen eine schlechte Nacht gehabt zu haben, Herr Lieutenant I"