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gefügigsten Willen fallt es schwer zu glauben, daß drei Jahre hinge reicht haben sollen, die Schäden eben so vieler Jahrzehnte, ja genau genommen unendlich längere Zeiträume, auszuheilen. Daß aber ein Fortschritt zum Besseren stattgefunden, wollen wir nicht bezweifeln; und wo Fortschritt ist, da darf auch Hoffnung ihren Platz behaupten. Wenn's alfo bei der Zollrcform geblieben wäre, dürften wir mit dem Erwerbe dieses Jahres immerhin zufrieden sein. Allein bei seinem Schlüsse hat es noch Anderes gebracht, was selbst die geduldige An spruchslosigkeit, an die sich das außerpreußifche Deutschland hat ge wöhnen müssen, nicht mit seinen besonderen Interessen in Einklang zu bringen vermag. Die Staatsbahnpolitik, welche Minister Maybach im Namen des Fürsten Bismarck so erfolgreich zum Ziele zu führen weiß, würde uns an sich mit Befriedigung erfüllen können, da sie formell dieselbe ist, zu der auch wir uns bekennen. Da aber in Berlin kein Hehl daraus gemacht wird, daß der Sache nach mit den großen Bahn käufen der siingsten Vergangenheit Zwecke verfolgt werden, die so emi nent politischen Charakters sind, daß die wirthschaftliche Seite des Un ternehmens, so bedeutsam sie an sich auch ist, dagegen tief in den Schatten treten mnß —, so können wir nicht anders als mit Sorge in eine Zukunft blicken, die nur da zu reden scheint, wo sie uns Schwe res und Unerfreuliches zu bringen verspricht. So weit wenigstens als es sich um die innere Entwickelung Deutsch lands handelt. Nach außen, das müssen wir freudig anerkennen, zeigt sich die Lage über Erwarten gefestigt und geklärt, seit es dem Reichs kanzler gelungen ist, das Verhültinß zu Oesterreich wieder zu finden, welches uns Jahrhunderte lang als das einzig natürliche und darum in sich berechtigte erschienen ist. Noch zwar fehlt diefem Verhältniß die rechte Grundlage wirthfchaftlicher Interessengemeinschaft und Har monie; wir wissen auch nicht, ob es sobald gelingen wird, die Gegen sätze zu versöhnen, die sich diesem Ausgleich heute noch fast hoffnungs los entgegenstemmen. Dessen ungeachtet zweifeln wir nicht, daß die politische Freundschaft in sich selbst dauerhast genug begründet sei, um auch einen längern Hader über Gewinn und Verlust auf dem Gebiete der materiellen Interessen ertragen zu können. Deshalb läßt uns die fortdauernde Spannung mit Rußland, welche das zweite epoche machende auswärtige Ereigniß des Jahres 1879 bildet, im Ganzen kühl. Vor dem Lärm, der hier und da erhoben wird, verständen wir uns auch dann kaum zu fürchten, wenn die Absicht der Uebertreibung nicht fast immer mit Händen zu greifen wäre. Eine wohlbegründete Ueberzeugung sagt uns, daß so lange wir fest zu Oesterreich halten und Oesterreich zu uns, von Osten nichts zu fürchten ist, ja, daß uns nicht einmal Ost und West zugleich gefährlich werden können. Ob Fürst Bismarck, wie behauptet wird, den europäischen Frieden auf lange hinaus für gesichert erklärt hat, wissen wir nicht, daß er es aber gethan haben könnte, steht uns fest. So lange zumal als er felbst noch da ist, wird sich kaum irgend Jemand finden, der den Muth hätte, die zweideutige Leistungsfähigkeit einer Coalition der erprobten Schneidig- keit seines einheitlichen Willens entgegenzustellen. So sehen wir an des Jahres Ende die bekümmerten und die zu friedenen Geister im Kämpfe mit einander. Lassen wir der getrosten Stimmung trotz alledem das letzte Wort. Gott der Herr, der im Re giment sitzt, wird's zuletzt doch so versehn, daß unser Zagen beschämt, Glaube gestärkt wird. Ihm sei das alte Jahr befohlen, Er wolle das neue Jahr in Seinen allmächtigen Schutz nehmen. — (S. Volksfr.) Tie Eisenbahnen und die kleinen Städte. - Das deutsche Statistische Amt in Berlin hat wiederholt darauf aufmerksam gemacht: wie sehr ungleich die Bevölkerungsentwicklung der großen und kleinen Orte in Deutschland in der jüngsten Zeit ge wesen sei; wie die großen sich rasch vergrößerten, während die Mehr zahl kleiner Orte an Einwohnerzahl sogar zurückgegangen war. Es lag die Vermuthung nahe, daß an dieser unerfreulichen Wandlung in ber Vertheilung der Bevölkerung die Eisenbahnen wesentlich schuld seien. Und diese Vermuthung bestätigt sich durch die statistischen Unter suchungen, indem dieselben zeigen, daß in den kleineren Orten die Eisen bahnen die Leute überwiegend fortführen, in den größeren zuführen. Die Eisenbahn macht die Bevölkerung der kleinen Orte, die in der großen Stadt fidel zu leben und ihr Glück zu machen hofft, unruhig; sie nimmt dem Kaufmann in der Kleinstadt feine Kunden, die lieber und bei größerer Auswahl in der leicht erreichbaren größeren Stadt einkaufen (oft auch nur aus Eitelkeit und Großmannssucht Dinge, die sie in der kleinen Stadt gerade so gut und billig haben könnten, zu mal wenn sie wie dort baar bezahlten.) Die Eisenbahn lehrt viele Industrielle die Vortheile der centralen Lage erkennen und veranlaßt sie, ihre Anstalten nach der Großstadt zu verlegen. (Doch gibt's viele Ausnahmen; in kleinen Orten oder in deren Nähe sind Grund und Boden und die Arbeitslöhne billiger und die Arbeiter ständiger, wenn sie einmal herangebildet sind.) In den kleinsten Orten hingegen, die noch nicht von Schienenwegen berührt werden, sind Gelegenheit und Trieb zur Fortbewegung noch geringer und dieselben behalten also -einen größeren Theil des Bevölkernngsüberschusses, den sie durch ihre natürliche Vermehrung erzeugen, wenn ihnen auch durch Einwanderung von außen wenig oder gar kein Zuwachs wird. Gibt es kein Mittel gegen dieses Ueberwuchern der Großstädte, durch welches das grünende Gezweig des volkswirthschaftlichen Baumes ausdörrt und ein unfreundliches Gerüst knorriger und angefressener Aeste aus ihm wird? Muß man sich mit dem schlechten Trost be gnügen, daß ja die Leute —wie in de» letzten Jahren vielfach ge schehen — schon anf's Land zurückgehen werden, wenn sie in den großen Städten ihren Unterhalt nicht mehr finden? Man bedenkt indeß, wie vielfache Noth und Verderbniß zwischen diesem Gehen und Wiederkommen liegt; daß nicht die besten und kräftigsten Leute zurück- kehren und daß bei Veränderungen in der Lage der Gesammtwirthschaft sich diese ungesunden Verschiebungen immer neu wiederholen. Durch bloßes Zureden lassen sich die Leute natürlich nicht von dem Drängen nach der Großstadt abhalten oder von der Unzufriedenheit mit dem Leben der Kleinstadt und des Dorfes kuriren. Kann man aber etwa die vorhandenen Eisenbahnen wieder vernichten oder den Bau neuer Linien ganz einstellen? Gewiß nicht. Vielmehr wird eines der Mittel der Besserung gerade darin bestehen, daß man durch gesunde Aus breitung eines Netzes von Geeundärbahnen (Zwischen- und Neben linien) die Eisenbahn immer weiteren Kreisen zugänglich macht und durch Verallgemeinerung dieses Verkehrsmittel seine Äbziehungs- und Anziehungskraft schwächt. Tagesgeschichte. Im Interesse der Besitzer von 100-Mark-Noten der Weimarischev Bank machen wir aufmerksam, daß diese Noten mit Ablauf dieses Jahres unwiderruflich werthlos sind. Das Coniitee für Oberschlesien in Berlin hielt unter Vorsitz des Herrn Oberbürgermeisters v. Forkenbeck am Dienstag Abend eine Sitzung, in welcher sestgestellt wurde, daß dem Comitee bis jetzt im Ganzen 164,000 Mark überwiesen sind. 50,000 Mark sind bereits an den Frauenverein in Breslau zur Vertheilung an die Nothleiden den abgegangen; fernere 80,000 Mark sollen demnächst an die Comi- tees der sechs Bezirke, in welchen der Nothstand besonders herrscht, geschickt werden. Ueber die Befestigung und Vertheidigung der russisch - deutschen Grenze hat ein deutscher Offizier eine umfassende Schrift herausgegeben, welche sich mit dem deutschen und russischen Eisenbahnnetze beschäftigt und die Aussichten einer russifchen Invasion prüft. Der Verfasser schließt seine Studie mit den Worten: daß, wenn nihilistische und pansiavistische Agitatoren, oder einzelne unzufriedene Staatsmänner und Generale in Rußland, nach manchen Enttäuschungen während des letzten russisch-türkischen Krieges, den Versuch machen möchten, ihr leb haftes Ruhmbedürfniß Deutschland gegenüber zu befriedigen, eintreten denfalls sie doch die Erfahrung machen dürften, daß die Erreichung ihrer Absicht noch schwieriger ist, als gegenüber der Türkei. Ueber den Umfang des Schmuggelhandels an der russischen Grenze liegen einige ziffermäßige Nachweise vor. Obgleich das Corps der russischen Grenzwache aus 14,100 Mann besteht, deren Unterhalt dem Staate mehr als drei Millionen Rubel kostet, wird doch der Schmug gelhandel, namentlich au der preußischen Grenze, in einem großartigen Maßstabe betrieben. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden auf dieser Grenze allein 1457 Waarentransporte abgefaßt, welche auf nur 25,862 Rubel taxirt, einen fünffach bedeutenderen Werth repräfentiren. Im vorigen Jahre wurden allein auf den europäischen Grenzen 3824 Schmuggler arretirt. Mau kann den Verlust, welchen der russische Staat durch den Schmuggel erleidet, auf 4 bis 5 Milli onen Rubel berechnen. Rußland ist unzweifelhaft das Land der Musterdiebe. Nicht nur, daß aus dessen Staats- und Privalkassen auf unbegreifliche Weise ganze Millionen von Rubel gestohlen werden, es werden da auch Millionen Pfunde Eisen gestohlen. So schreibt man dem Petersburger „Nvwoje Wremja" vom 18. d. aus der Bergwerksstadt Ufa, daß dort in der Kurgosan'schen Eisenfabrik ein Diebstahl von 8,000,000 Pfund Eisen begangen wurde. An dem Diebstahl war niemand An deres, als das gesammte Beamtenpersonal der Fabrik betheiligt! Der Noth ft and ist Heuer groß in Italien und wird durch den strengen Winter noch verschärft. Er ist auch bereits durch einen von der Kammer rasch bewilligten Nothstandskredit von 12 Millionen Lire offiziell konstatirt. Mit der Noth steigen erfahrungsmäßig die Ei gen thumsver brechen, und in der That mehren sich die Berichte über solche. Daneben steht der „Ricatto", die gewalsame Entführung von Personen, fortwährend in Blüthe. Der neueste Fall ist die Wcgführung eines Marchese Martucci in Kalabrien, für dessen Freilassung die Räuber 100,000 Ducaten fordern sollen. In Sicilien, der eigentlichen Heimath dieser „Riccati", war vor Kurzem ein Grundbesitzer aus Cefalu, namens Catalfamo, auf der Landstraße von Räubern weg gefangen worden. Man wußte lange nicht, was aus ihm geworden sei. Endlich entdeckte die Polizei einige Mitschuldige, und aus diesen brachte man heraus, wo der Gefangene Catalfamo zu fachen wäre: in einer Höhle des Monte Pellegrino bei Palermo; er sei nämlich gleich nach seiner Gefangennahme geknebelt in einer Barke fechszig Kilometer weit nach Palermo und von da auf den Monte Pellegrino gebracht worden. Man suchte zwei Tage lang vergeblich, und end lich fand man in einer fast unzugänglichen Höhle die Leiche Catal- famo's mit abgeschnittenem Kopfe. Die Räuber hatten, wie man nachträglich erfährt, 200,000 L. Löfegeld für Catalfamo gefordert, wollten sich jedoch, da die Familie ihnen erklären ließ, sie fei außer Stande, mehr als 7000 L. aufzubringen, mit 8500 L. begnügen. Diese Summe ward ihnen auch zugelandt, aber von Denjenigen, welche sie in Empfang nahmen, zurückbehalten oder unterschlagen, worauf Diejenigen, welche den kostbaren Gefangenen bewachten, den selben ermordeten. Ob's schneit, ob's friert, daß alles klappert vor Frost: Jeder mann will seinen Brief zur rechten Zeit haben. Es fcheint auch in Frankreich fo zu fein; denn die Abgeordneten in Paris haben den Briefträgern, die jetzt einen schweren Dienst haben, 500,000 Fr. als Extra-Zulage bewilligt. Zwischen der Pforte und dem britschen Botschafter hat sich ein eigenthümlicher Conflikt entsponnen. Der „Agence Havas" wird nämlich aus Konstantinopel gemeldet: „Ein muselmännischer Priester ist zum Tode verurtheilt worden, weil er die Bibel ins Türkische übersetzt hat. Der englische Potschafter Layard hat in Folge dessen der Pforte eine Note übermittelt, in welcher er erklärt, er würde seine Pässe verlangen, falls der Priester nicht binnen drei Tagen in Frei heit gesetzt würde." Es ist kaum ein Zweifel, daß die Pforte wegen einer solchen „Kleinigkeit" keinen Bruch mit England forcirt; die Schärfe der Forderung zeigt übrigens, daß die Pforte den ersten sanf ten Vermahnungen in der Angelegenheit kein Gehör schenkte. Die sonst so tapfere ottomanische Armee ist fast nicht mehr zu erkennen. Eine schreckliche Noth ist in ihren Reihen eingerissen. Das Betteln wird auch von den Soldaten als keine Schande mehr angesehen. Am helllichten Tage sicht man in Konstantinopel, wie der „Polit. Korr." von dort geschrieben wird, an allen Ecken der Stadt, Soldaten herumstehen und den Vorübergehenden die Hand nach einem Almosen entgegenstrecken. Die armen Leute begnügen sich mit dem Kleinsten, das man ihnen bietet. Anders ist es bei Nacht. Begegnen sie da einem Halbwegs anständig gekleideten Manne, so betteln sie um einige Piaster „auf Tabak", werden sie aber eines Bauern ansichtig, so fallen sie über ihn her und rauben ihn vollständig aus. Der Um stand, daß den Soldaten seit etwa 40 Monaten kein Sold ausgezahU wurde, hat unter den Soldaten die „schlechte Gewohnheit" eingebürgert, ihre Waffen zu verkaufen. Der Militärkommandant hat strenge Maß regeln gegen diesen Unfug angeordnet, und die in Vilajet erscheinenden Journale publiziren soeben einen Erlaß desselben, worin die unnach sichtliche Bestrafung Derjenigen angedroht wird, welche den Soldaten Waffen oder irgend welche andere Ausrüstungsgegenstände abkaufen.