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Dort hinten im Winkel liegt sie und schläft, sie wird wie gewöhnlich betrunken sein. Mit diesen Worten drehte sich der Mann wieder auf dem Absatz und wendete sich wieder nachlässig seinen Kameraden zu. Der Graf stand rathlos. Er wollte das arme, kleine Wesen, für das er nun einmal Interesse genommen, jetzt, da er dessen Hülflosigkeit erkannte, in keinem Falle verlassen, bis es in guter Pflege sei. Dabei drängte die Zeit, denn der Zustand der Kleinen verschlimmerte sich mit jeder Minute. Er trat also zu dem Weibe, das von Branntwein berauscht, in einer Ecke der Bude lag und faßte sie mit kräftigem Griff an der Brust. Wacht auf, Alte! rief er, Euer Kind liegt verwundet auf der Erde! Nun, hört Ihr mich nicht? Nennt mir Eure Wohnung, damit ich die Kleine dorthin schaffen und Hülfe besorgen kann. Es war eine ungeheure Aufgabe, die Alte zu wecken; doch endlich siegte des Grafen Beharrlichkeit. Sie gähnte, reckte sich, stöhnte und schimpfte, dann erwiderte sie noch halb im Traume, daß ihr Obdach in einer Keller wohnung des Hauses Nummer 2 ? ? zu finden sei. Es dauerte auch noch eine Weile, bis ihre umnebelten Sinne endlich begriffen, um was es sich handelte; dann entschloß sie sich, in ihrer schwerfälligen Weise dem Grafen auf die Bühne zu folgen, wo immer noch das Kind am Boden lag. Bei diesem Anblick erlangte sie ihre Sinne zurück. Ihre erste Be wegung war, sich unter die Männer zu stürzen, um einen Streit zu be ginnen, aber noch rechtzeitig hielt der Graf sie am Arme. Mit kräftiger Hand nahm er vie Kleine vom Boden, das Blut nicht achtend, welches seine Kleider befleckte, eilenden Laufes schritt er mit seiner Bürde dem Aus gange zu, gefolgt von der Alten, die er buchstäblich nach sich zog. Dann ging es weiter, über den Marktplatz, bis zu dem armseligen Gäßchen, wo in einem schmutzigen Kellerraume die erbärmliche Wohnung der Beiden lag. Der Graf achtete es nicht, daß man auf dem Markt und auf dem Straßen von allen Seiten auf ihn schaute, es galt ihm gleich, daß Gassen buben ihm ihre spottenden Witze nachriefen und hier und da das Volk mit den Fingern auf ihn zeigte; er folgte der Eingebung seines Herzens, dem inneren Zuge von Menschlichkeit; das genügte ihm, mehr wollte er nicht. Endlich kam man bei der öden Behausung an. Eine schmale leiter- artige Treppe, di- vom Hofraum ausgehend, in ein unterirdisches Geschoß hinabführte, bildete das letzte Hinderniß, welches zu überwinden selbst Victors edler Aufopferung nur mit Mühe gelang; dann tappte man in einem dunklen Raume, dessen Höhe dem Grafen nicht einmal die aufrechte Haltung erlaubte und dessen dumpfe Athmosphäre ihn mit Ekel und Schauder um wehte. Hier öffnete die Alte eine Thüre. So, sagte sie schlechtweg, das hier ist unser Stübchen; wenn Eure Gnaden die Kleine auf das Lager da niederlegen wollen, so will ich Wasser holen und die Backe verbinden, damit das Kind morgen wieder hergestellt ist. Der Graf hörte nicht, was di: Alte sprach. Er mußte den Athem zurückhalten, denn ein grausiger Modergeruch drang ihm aus der Kammer entgegen. Da war ja nicht einmal ein Fenster, und das Stroh, welches den pestartigen Geruch verbreitete, mußte seit Jahren schon faul und mit Ungeziefer übersät sein. War das die Lagerstatt der Kleinen? Konnten überhaupt in diesem Raume noch Menschen athmen? Gab es eine Gerechtigkeit, daß solch herz zerreißender Jammer nicht in sich selber zu Grunde ging? Währenddessen hatte das Weib einen Krug mit Wasser herbeigeschafft und begann, mit nassen Umschlägen die Wunde zu tränken, und zu des Grafen unendlicher Freude schlug die Kleine auch bald die Augen auf. Bei dem Anblick eines Mannes aber fuhr sie zusammen; doch Viktor ergriff sanft ihre Hand. Fürchte Dich nicht, liebe Kleine, sprach er freundlich, ich bin zu Deiner Hülfe gekommen und habe Dich lieb. Ich werde Dich nicht verlassen, so lange Du krank bist, auch nachher soll es Dir besser gehen. Darum fürchte Dich nicht und steh mich an. Das Kind wußte nicht, wie ihm so plötzlich geschah. Erröthend, halb vor Scham, halb vor Freude ließ sie einige Sekunden den vollen Glanz ihrer schwärmerischen Augen auf dem Antlitz des Grafen ruhen; dann wagte sie, bescheiden zu fragen: So sind Sie mir gut? O, sagte der Graf mit Frohlocken, ich habe Dich lieb und werde Dein Freund und Beschützer sein. Schmerzt Dich die Backe sehr? Nicht so sehr, sagte die Kleine; aber ich fürchte mich — O, wenn er doch nicht wieder käme, der böse Mann! Er wird nicht wieder kommen, mein Kind, erwiderte der Graf Victor; sei ohne Furcht, vertraue auf mich, ich sorge dafür. Wie heißt Du? Meine Name ist Elsa. Elsa? Wie hübsch das klingt! Und weiter? Das Kind schaut verlegen um sich: da begegneten ihm die drohenden Blicke der Alten, und sie entgegnete hastig: Elsa Grison. Und wie lange bist Du schon bei dem Manne? Zwei Jahre Herr. Zwei Jahre? Und vor dieser Zeit, was thatest Du da? Die Kleine wurde roth, sie antwortete nicht. Ist denn die Großmutter Deine einzige Verwandte? fuhr zartfühlend der Graf in seinen Fragen fort. Hast Du sonst Niemanden? Elsa öffnete die Lippen zu einer Erwiderung, als schleunig die Alte dazwischentrat. Wir Beide sind die einzig Lebenden von meiner Familie, Euer Gnaden; mein Sohn starb, selbst schon Wittwer, und überließ mir das Kind. Wie lange seid Ihr denn schon hier am Platze? Sechs Tage, Herr. Die Truppe des Monsieur Boileaux zieht im ganzen Lande umher, und da müssen wir mit, wohin er geht. Und wohnt Ihr immer so elend? Daß sich Gott erbarme, die Wohnungen sind manchmal noch schlechter! jammerte das Weib. Es darf uns ja nichts kosten, als die Mühe für die Kleine, daß sie in der Frühe den Hof dafür kehrt. Den Grafen überkam ein Ekel. Er wandte sich ab und trat zu dem Kinde hin. Sei guten Muthes, liebe Kleine, sprach er mit vor Rührung bebender Stimme; die Zeit Deines Leidens ist hoffentlich zu Ende. Bete zu Gott und vertraue auf mich, Deine Zukunft soll sich anders^und besser gestalten, ich sorge dafür. Dabei erfaßte er die Hand des unglücklichen Mädchens und drückte sie zärtlich; dann wandte er sich, obgleich mit Abscheu, noch einmal an die Alte, um ihr zu Gunsten der Kleinen ein Goldstück zu geben. — Hierauf verließ er, tief innerlich erschüttert, den öden Raum. Mit einem Blick unaussprechlicher Dankbarkeit schaute die Kleine ihm nach, dann sank sie zurück auf ihr armseliges Kissen, um durch einen Zustand der Ohnmacht dem Bewußtsein ihres unnahbaren Elends entrückt zu sein. (F. f.)