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2. Beilage zu Nr. 12 des Wochenblattes für Wilsdruff re. Tagesgeschichte. Der zweite hochwichtige Erlaß Sr. Maj. des Kaisers Wilhelm ist an di« Minister der öffentlichen Arbeiten und für Handel und Ge werbe gerichtet und lautet: „Bei Meinem Regierungsantritt habe Ich Meinen Entschluß kundgegeben, die fernere Entwickelung unserer Gesetzgebung in der gleichen Richtung zu fördern, in welcher Mein in Gott ruhender Großvater Sich der Fürsorge für den wirthschaftlich schwächeren Theil des Volkes im Geiste christlicher Sittenlehre angenommen hat. So werthvoll und erfolgreich die durch die Gesetzgebung und Verwaltung zur Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes bisher getroffenen Maßnahmen sind, so er füllen dieselben doch nicht die ganze Mir gestellte Aufgabe. Neben dem weiteren Ausbau der Arbeiter-Versicherungs-Gesetzgebung sind de be stehenden Vorschriften der Gewerbe-Ordnung über die Verhältnisfe der Fabrikarbeiter einer Prüfung zu unterziehen, um den auf diesem Gebiete laut gewordenen Klagen und Wünschen, soweit sie begründet sind, gerecht zu werden. Diese Prüfung hat davon auszugehen, daß cs eine der Auf gaben »er Staatsgewalt ist, die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlich keit, die wirthschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt bleiben. Für die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gesetzliche Bestimmungen über die Formen in Aussicht zu nehmen, in denen die Arbeiter durch Ver treter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der Regelung gemeinsamer An gelegenheiten betheiligt und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Ver handlung mit den Arbeitgebem und mit den Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Einrichtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermög lichen und den Staatsbehörden Gelegenheit gegeben, sich über die Ver hältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den Letzteren Fühlung zu behalten. Die staatlichen Bergwerke wünsche Ich bezüglich der Fürsorge für die Arbeiter zu Musteranstalten entwickelt zu sehen, und für den Privatbergbau erstrebe Ich die Herstellung eines organischen Ver hältnisses Meiner Bergbeamten zu den Betrieben, Behufs einer der Stellung der Fabrikinspektion entsprechenden Aufsicht, wie sie bis zum Jahre 1865 bestanden hat. Zur Vorberathung dieser Fragen will Ich, daß derStaats- rath unter Meinem Vorsitze und unter Zuziehung derjenigen sachkundigen Personen zusammentrete, welche Ich dazu berufen werde. Die Auswahl der Letzteren behalte Ich Meiner Bestimmung vor. Unter den Schwierig keiten, welche der Ordnung der Arbeiterverhältnisfe in dem von Mir be- absichtigtcn Sinne entgegenstehen, nehmen diejenigen, welche aus der Noth- Wendigkeit der Schonung der heimischen Industrie in ihrem Wettbewerb mit dem Auslande sich ergeben, eine hervorragende Stelle ein. Ich habe daher den Reichskanzler angewiesen, bei den Regierungen der Staaten, deren Industrie mit der unserigen den Weltmarkt beherrscht, den Zusammen tritt einer Conferenz anzuregen, um die Herbeiführung gleichmäßiger inter nationaler Regelung der Grenzen für die Anforderungen anzustreben, welche an die Thätizkeit der Arbeiter gestellt werden dürfen. Der Reichskanzler wird Ihnen Abschrift Meines an ihn gerichteten Erlasses mittheilen. Berlin, den 4. Februar 1890. Wilhelm U. Die beiden Kaiserlichen Erlasse vom 5. Februar werden von der gesammten Presse des In- und Auslandes erörtert und als ein hoch bedeutendes Ereigniß angesehen. Ihre Ansicht über die Kaiserlichen Er lasse fassen die „Hamb. Nachr." in folgender Bemerkung zusammen: „Die Kaiserlichen Erlasse werden eines tiefen und nachhaltigen Eindruckes auf die öffentliche Meinung Deutschlands, ja der ganzen civilisirten Welt nicht entbehren. Der Satz an der Spitze des an den Reichskanzler gerichteten Schreibens klingt wie das feierliche Gelübde eines Herrschers, der sich der Pflicht, in erster Linie für die Bedrückten zu sorgen, bewußt ist, über der selben aber die Gebote der Gerechtigkeit und der Besonnenheit nicht ver gißt. Wie ein goldenes Motto können sie aller sozialpolitischen Arbeit vorangestellt werden, die Worte: „Ich bin entschlossen, zur Verbesserung der Lage der deutschen Arbeiter die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Meiner Fürsorge durch die Nothwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf dem Weltmärkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der Arbeiter Existenz zu sichern." Wenn sich in Ar beitgeberkreisen in der letzten Zeit vielfach der Argwohn festgesetzt hat, als sollte die Gunst der Gesetzgebung sich auf ihre Rechnung einseitig dem Interesse der Arbeiter zuwenden, so werden sie aus diesen Worten volle Beruhigung entnehmen können. Den Arbeitern aber ist nunmehr auch der letzte Anhalt für das Mißtrauen genommen, als ob es den staatlichen Gewalten mit einer gründlichen Besserung ihrer Lage nicht ernst sei. Noch deutlicher und nachdrücklicher als bisher wird der Gesetzgebungsarbeit des deutschen Reiches der Stempel einer arbeiterfreundlichen Sozialpolitik aus geprägt, für alle friedliebenden und besonneneren Arbeiter ein ermuthigen- der Trost, für die verbitterten und das Unmögliche fordernden eine ernste Mahnung. Der Kaiser tritt mit dieser edlen Sprache an die Oeffentlich- keit in dem Augenblicke, da er sich durch die Bergarbeiterdelegirten, Welche er im Mai v. I. so wohlwollend empfangen, betrogen sieht. Er hatte ihnen zum Lobe nachgesagt, daß sie sich von der Sozialdemokratie fernge halten hätten. Heute treten sie offen vor aller Welt als Sozialdemokraten auf. Der Kaiser hat sich durch diese Erfahrung in seinen sozialpolitischen Absichten nicht beirren lassen, er vertraut dem gesunden Sinne der großen Mehrheit des deutschen Arbenerthums. An den Arbeitern ist es, dies Vertrauen zu rechtfertigen und sich damit eine gedeihliche Gestaltung ihrer Lage zu sichern. Mehr als je haben sie heute ihr Geschick in ihrer eigenen Hand." Paris, 7. Februar. Der Herzog von Orleans, Sohn des Grafen von Paris, welcher heute Morgen hier eingetroffen war, ist heute Abend bst? Uhr in der Wohnung des Herzogs von Luynes verhaftet, vor den Polizeipräfcct gebracht, und später nach der Conciergerie abgeführt worden. Der Herzog hatte ein Abdankungsschreiben des Grafen von Paris, sowie ein Manifest an das srnnzöstshe Volk bei sich. Die Verhaftung erfolgte auf Grund des Gesetzes betreffend die Ausweisung der französischen Prinzen. — Zur Verhaftung des Herzogs von Orleans wird weiter gemeldet, daß er im Laufe des heutigen Abends im Recrutirungsbureau der Rue St. "Dominique vorsprach und seine Einreihung in die Armee verlangte. Er wurde von da nach der Jnfanterie-Abtheilung des Kriegsministeriums ver wiesen, wohin er sich sofort begab. Daselbst erhielt der Herzog den Be-