Volltext Seite (XML)
geoisie begnügt man sich nicht mehr. In einer Versammlung des sozial demokratischen Wahlvereins im 6. Berliner Reichstagswahlkreise wurde vor einigen Tagen die neue Aera einer sehr scharfen Kritik unterzogen. Der Geist dieser Kritik erhellt aus dem Ausspruche des Redners, heutzu tage könne man nicht mehr sagen: „Der König rief, und Alle, Alle kom men," sondern heute rufen die Arbeiter. Bei diesen Worten wurde die Versammlung auf Grund des Sozialistengesetzes aufgelöst. Ohne die An wendung dieser einstweilen noch zur Verfügung stehenden Waffe wäre das Bild von der weltumfassenden Herrschaft der arbeitenden Klasse wohl noch weiter ausgeführt worden. Es ist der Gedanke, der in allen über die Frage des 1. Mai veranstalteten Versammlungen wiederkehrt, der Gedanke, den in einer jüngst abgehaltenen Versammlung ein Arbeiter dahin aus drückte: „Am 1. Mai muß sich bewahrheiten das Dichterwort: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Die Leitung der deutschen Sozialdemokratie ist sich der Gefahr bewußt geworden, der sie auf diese Weise entgegentreibt; sie hat in dem bekannten Aufrufe die entfesselten Geister zurückzurufen versucht. Aber das „Berl.Volksblatt", welches sich noch am meisten bemüht, dem Fraktionsbeschlusse eine gewisse Beachtung zu verschaffen, berichtet heute über nicht weniger als fünf in den letzten Tagen in Berlin stattgehabte Versammlungen, in welchen beschlossen worden ist, die Arbeit am 1. Mai ruhen zu lassen. Nun versucht man's auf andere Weise. Das sozialdemokratische Organ theilt die Namen einiger Fabriken mit, welche ihren Arbeitern den 1. Mai freigcgeben haben. Offenbar soll damit ein Druck auf die Arbeitgeber geübt werden. Man kann nur hoffen, daß die Arbeitgeber im Großen und Ganzen sich durch derartige Beispiele nicht beirren lassen. Nur die vollständigste Verblendung kann über den ungeheuren Ernst der Frage hinwegtäuschcn. Nachgiebig keit würde hier zweifellos den meisten Arbeitgebern für den Augenblick das Bequemste und Angenehmste sein. Aber Jeder, der seinen Blick nicht auf seine vier Pfähle beschränkt, der sieht, was in der Welt vorgeht, be greift auch, daß hier Nachgiebigkeit nur Schwäche wäre, eine Schwäche, die früher oder später zu den schlimmsten Katastrophen führen müßte. Berlin, 24. April. Nach einem Erlaß des Ministers der öffent lichen Arbeiten von Maybach sollen, wie der „M. A. Z." gemeldet wird, alle am 1. Mai feiernden Arbeiter der Staatsbahnen und staatlichen Werk stätten sofort für immer entlassen werden. Aachen. Der Verein der Aachener Tuchfabrikanten beschloß, unter Festsetzung einer Conventionalstrafe, jeden am 1. Mai ohne genügenden Grund von der Arbeit sortbleibenden Arbeiter zwei Monate lang nicht zu beschäftigen. In bedeutend höherem Grade als in Deutschland machen sich die Arbeitseinstellungen in Oesterreich bemerklich. Aus allen Kronländern, namentlich aus den Jndustriecentren laufen Streiknachrichten ein. Es streiken nicht nur die Bergleute, die Fabrikarbeiter, die Bauhandwerkcr, sondern auch die Schmiede, Müller, Schuhmacher rc., ja selbst die Mo distinnen und stellen zumeist die ungemessensten Forderungen hinsichtlich der Arbeitsdauer und des Mindestlohnes. Bekanntlich ist ja in Oesterreich der elfstündige Normalarbeitstag eingeführt, aber da vorläufig die bezüg lichen Bestimmungen meist nur auf dem Papier stehen, weil sie sich beim besten Willen nicht durchführen lassen, und da die Aufsichtsbehörden sich vorwiegend passiv verhalten, so ist dadurch erst recht Anlaß zur Unzu friedenheit und zur Aufhetzung gegeben. Den letzten durch Aufhetzung veranlaßten Wiener Arbeiterunruhen sind denn auch solche in dem mährisch schlesischen Kohlenrevier gefolgt, und auch in dem letzteren Falle ist das rechtzeitige energische Eingreifen der Behörden vermißt worden und sind verschiedentlich Brandschatzungen und Plünderungen, insbesondere solche, welche sich gegen Schnapsläden richteten, vorgekommen. Wien, 24. April. Nach hiesigen Zeitungen zugegangenen Meldungen haben gestern Abend in Biala schwere Exzesse stattgefunden. Gegen 4000 Arbeiter durchzogen die Straßen, indem sie Fensterscheiben zertrümmerten und Branntweinschänken demolirten. Die Tumultuanten leisteten dem ein schreitenden Militär Widerstand, welches in Folge dessen von der Feuer waffe Gebrauch machte. Mehrere Personen wurden getödtet, viele verwundet. Wien, 24. April. Das „K. K. Telegraphen-Correspondenzbureau" meldet über die gestrigen Ausschreitungen in Biala: Abends versammelten sich am Ringplatz etwa tausend lärmende Arbeiter; sie durchzogen die Vor stadt Lipnik, drangen in die Schankhäuser ein und beraubten dieselben. Eine Abtheilung Cavallerie und eine Compagnie Infanterie schritten ein. Als gegen den commandirenden Rittmeister zwei Revolverschüsse fielen, griffen die Truppen an. Die Menge widersetzte sich, worauf die Infanterie mit dem Bajonett vorging; als dies erfolglos blieb, gab sie zwei scharfe Salven ab, worauf die Menge sich zerstreute. 6 Ruhestörer wurden ge tödtet, 12 verwundet, darunter 10 lebensgefährlich. — Die Direktion der österreichisch-ungarischen Staatseisenbahn theilt mit: Am Abend des 25. d. M. vor dem Eintreffen des Wien-Pester Personenzuges wurden von unbekannten Personen große Steine auf die Geleise nächst der Station Raasdorf gelegt und der Personenzug wurde erst nach genauer Untersuchung der Strecke expedirt. Auf der Station Siebcnbrunn wurden zwei verdächtige Individuen verhaftet. Paris. Prinz Jerome Napoleon richtet folgendes, ungeheures Aufsehen erregendes Schreiben an Carnot: Herr Präsident! Sie haben Corsica besucht. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie nicht die höchste Ungeschicklichkeit begangen hätten, das Bonapartehaus zn besuchen. Dieses Haus gehört nicht zu Ihrer Regierung und Sie haben somit kein Recht, die Schwelle desselben zu betreten. Was giebt es Gemeinsames zwischen dem ersten Konsul, welcher in wenigen Monaten Frankreichs Wiedergeburt hervorrief, und Ihrer Regierung, welche täglich Frankreich desorganisirt, zwischen dem großen Kaiser, welcher nur durch die Größe seines Systems besiegt wurde, und Ihrer Parlamentsherrschast, welche ohn mächtig dasteht zwischen Ihnen, der mich verbannt und mir, dem Erben Napoleons! Wie unterstehen Sie sich, der Wiege des großen Mannes Ihre hinterlistige Verehrung zu zollen! Begnügen Sie sich lieber mit der Rolle des Oberhauptes einer Parteiregierung, welche Frankreich ruinirt und erniedrigt! Begnügen Sie sich mit dem Genuß Ihres Gehaltes, aber rühren Sie nicht an unsere heiligen Erinnerungen und verhöhnen Sie nicht mein unverdientes Exil! Ihr Besuch ist eine Parodie, Ihr falscher Respekt eine Entweihung, gegen welche ich als Neffe und Erbe des Kaisers protestire. gez. Napoleon. Dieser Brief macht gewaltigen Eindruck. Die Morgenblätter, welche denselben veröffentlichen, finden auf den Bou levards reißenden Absatz. Aus Bulgarien wird berichtet, daß der in Untersuchungshaft be findliche Verschwörer Panitza zur Bewerkstelligung seiner Flucht eine Be stechung versuchte und deshalb in ein Gefängniß gebracht worden ist. In unterrichteten Kreisen glaubt man, daß gegen ihn das Todesurtheil gefällt und auch vollstreckt werden wird. Vaterländisches. — Blankenstein. Nächsten Sonntag Abend gedenkt der „Meißner Männergesang-Verein" unter Direktion seines Liedermeisters Herrn Hunger im hiesigen Andrä'schen Gasthofe ein größeres Konzert zu veranstalten. Der Verein erfreut sich in Meißen infolge seiner Leistungen großer Beliebt heit und es dürfte dieser Hinweis genügen, zu recht zahlreichem Besuche des interessanten Konzerts, das ernste und heitere Vorträge bietet, einzuladen. Uebrigens hat sich der Dirigent des „Meißn. M.-G.-V., Herr Hunger, abermals durch Herausgabe zweier neuer Kompositionen, op. 10 „'s Alp- rösli" und op. 12 „Frühlings Einkehr", beide für Männerchor sehr wirk ungsvoll gesetzt, bemerkbar gemacht. Den Gesangvereinen können beide Novitäten nicht genug empfohlen werden, zumal auch der Preis beider Chöre sehr niedrig gegriffen ist. — In der vielbesprochenen Boykottfrage hat nun auch der höchste Gerichtshof Sachsens, das Oberlandsgericht inDresden, ein entscheidendes Wort gesprochen. Bekanntlich wurde vor kurzem der Arbeiter Schlenker deshalb wegen groben Unfugs mit einer Freiheitsstrafe belegt, weil er ein Flugblatt auf der Kohlenstraße in Cotta vertbeilte, welches den Arbeitern anrieth, die Wirthschaft des Gasthofsbesttzers Franke daselbst zu meiden, da derselbe seinen Tanzsaal nicht zu Versammlungszwecken der sozialdemo kratischen Arbeiterpartei zur Verfügung stelle. Der Verurthcilte hatte gegen das auch von der Berufsinstanz bestätigte Erkenntniß des Schöffengerichts Revision eingewendet, doch wurde das Rechtsmittel vom Strafsenat des Oberlandesgerichts kostenpflichtig verworfen. In den Entscheidungsgründen war u. a. gesagt, daß an sich eine derartige Verrufserklärung, wenn sie sich nur an die Mitglieder einer bestimmten Partei richte, nachdem Strafge- gesetze nicht zu ahnden sei, aber es komme dabei natürlich ganz auf die Art ihrer Ausführung an. Der Angeschuldigte habe sich jedoch bei der Vertheilung des Flugblattes aus einen bestimmten Personcnkreis nicht be schränkt, sondern vielmehr und wie festgestellt, in Aergerniß erregender Weise, durch die aufdringliche Vertheilung des Blattes das Publikum be lästigt und sich damit des groben Unfugs im Sinne des § 360,11 des Strafgesetzes schuldig gemacht. Es sei dies eine unbefugte Einmischung in die freie Willensbestimmung des Publikums und insbesondere auch der jenigen Leute, welche den auf den Umsturz der bestehenden Ordnung ge richteten Bestrebungen der sozialdemokratischen Partei völlig fern stehen. Demnach sei das im angezogenen Paragraphen erwähnte Vergehen in vollem Umfange als erwiesen anzusehen, die erkannte Strafe aber gleichfalls als angemessene Sühne zu erachten gewesen. — Dresden. Das amtliche „Dresdner Journal" veröffentlicht folgenden Königlichen Dank: „Sr. Majestät dem Könige sind aus Anlaß des Allerhöchsten Geburtsfestes aus allen Theilen des Landes von Behörden, Korporationen, Vereinen, Festversammlungen und von Einzelnen aus allen Classen der Bevölkerung in Adressen, Telegrammen und Zu schriften Glück- und Segenswünsche in überaus reichem Maße zugegangen. Hocherfreut und gerührt von diesen Beweisen allgemeiner Theilnahme und treuer Anhänglichkeit Hai Se. Majestät das Ministerium des Königlichen Hauses beauftragt, allen Glückwünschenden Allerhöchstihren herzlichen Dank hierdurch auszudrücken. Dresden, 25. April 1890. Ministerium der Königlichen Hauses, v. Nostitz-Wallwiy." — Das Königliche Ministerium des Innern veröffentlicht folgende Bekanntmachung: „Das Ministerium des Innern sieht sich veranlaßt, für den 1. Mai d. I. die Abhaltung von Versammlungen unter freiem Himmel, sowiedieVeranstaltung öffentlicher Auf- und Umzüge nicht bloß auf öffentlichen Plätzen und Straßen innerhalb der Ortschaften, sondern überhaupt auf Grund von Z 12 des Gesetzes, das Vereins- und Versammlungsrecht betreffend, vom 22. November 1850, hier mit zu verbieten. Zuwiderhandlungengegen dieses Verbot sind nach § 33 des ungezogenen Gesetzes mit Gelvstrafe von 3 bis zu 300 Mark oder mit dreitägigem bis sechsmonatigem Gefängnisse bedroht. Es ist von der Besonnenheit und dem gesetzlichen Sinne der Mehrheit der Arbeiterbevölkerung zu erwarten, daß sie alles, was geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören, vermeiden und verhindern werde. Wer dem entgegenhandclt, wacht sich für die Folgen verantwortlich. Die Regierung ist der Verpflichtung eingedenk, die gesetzliche Ordnung und den öffentlichen Frieden mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu schützen." — Eine sehr interessante Entschei düng ist neulich von einem sächsi schen Amtsgericht ausgesprochen worden. Gegen die Erben eines Versicherten wendete die betreffende Lebensversickerungsgesellschaft ein, daß der Erblasser sich vergiftet habe. Die Beweisaufnahme ergab hierüber nichts Bestimmtes und die erforderlichen Gutachten äußerten sich dahin, daß wohl eine chemische Untersuchung der zu exhumirenden Leiche eine Gewißheit ertheilen könne. Solche Beweisaufnahme wurde auch beantragt. Vom Gericht war nun darüber zu befinden, ob die Beweisaufnahme zu veranlassen sei; dieselbe wurde aber abgelehnt, und zwar weil die Leiche in einer Privatstreitigkeit nicht zum Gegenstand einer Beweisaufnahme gemacht werden könne. — Chemnitz. Der bei der letzten Wahl für Chemnitz gewählte Reichstagsabgeordnete Max Schippel aus Berlin wurde am Donnerstag vom Chemnitzer Landgericht wegen eines im Laufe der letzten Wahlbewegung sich zu Schulden gebrachten Vergehens im Sinne von § 131 R.-Str.-G.-B. zu 9 Monaten Grfängnißstrafe verurtheilt. Der Paragraph belegt mit Strafe denjenigen, der erdichtete oder entstellte Thatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen. — Dem Vernehmen nach haben die Chemnitzer Webwaaren-, Strumpf- und Handschuh-, Tricot-, Maschinenfabrikanten und Eisengießereibesitzer beschlossen, ihren Arbeitern von einer Feier des 1. Mai abzurathen und ihnen durch Anschlag zu eröffnen, daß etwa dennoch feiernde Arbeiter nach Maßgabe des § 123,3 der Gewerbeordnung und bczw. nach Maßgabe der bestehenden Fabrikordnung, als entlassen, bezw. abgegangen angesehen, und daß die abgegangenen Arbeiter bis auf weiteren Beschluß weder von dem eigenen Arbeitgeber, noch von den anderen Fabrikanten ferner Beschäftigung erhalten werden. — Das ^,Melßn. Tgbl." schreibt: Die Arbeiter der Christian Teichert'- schen Fabrik und der Kunstziegelei haben über die Barbierinnung den Boycott verhängt, lediglich deshalb, weil es eben eine Innung ist und weil sie als Sozialdemokraten jede Innung als ihre Gegnerin betrachten. — Aus der Lausitz schreibt man der „Leipz. Ztg.": Bei dem Oers dorfer Weberstreik ist sowohl die Kreishauptmannschaft Bautzen, als auch die Amtshauptmannschaft Löbau bemüht gewesen, einen Ausgleich herbeizu- führen, theilweise mit Erfolg. Gegenwärtig streiken nur noch die Weber der Firma Aug. Hoffmann und etwa 70—80 Weber der Firma C. G. Hoffmann; letztere haben am Montag die Arbeit niedergelegt, den fort- arbeitenden Webern wurde eine Aufbesserung bewilligt, den Streikenden bleiben die Fabrikthore der Firma C. G. Hoffmann von nun an verscklossen; weitere Entlassungen werden wohl erfolgen müssen, da nur diejenigen Artikel weiter fabrizirt werden sollen, auf welche Aufträge vorliegen. Eine kleinere Weberei, in welcher die Weber nicht streiken, gab freiwillig eine Zulage und aus Anerkennung für die gute Haltung noch ein kleines Geldgeschenk extra; eine andere gewährte gleichfalls eine kleine Aufbesserung und ver hütete dadurch den Ausstand. Die Klippel'schen Weber arbeiten wieder seit Mittwoch Mittag. Die von den Vertretern bei den betreffenden Firmen eingegangenen Berichte lauten durchweg ungünstig, ja beunruhigend über die Geschäftsaussichten, und cs wird einer schweren Zeit für die dortige Industrie entgegengesehen, wenn nicht unerwartet eine Wendung zu Besseren eintritt.