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Kammer neben Tante Juttas Schlafzimmer, wohin man das Kind nach seiner Ankunft gebettet hatte. Anke schlief sanft auf ihren sauberen, blaugestreiften Kissen; Rahel aber beugte sich erschüttert nieder, küßte die blaffe Wange des Kindes und flüsterte in dem Be wußtsein, daß die Gottheit ihr Gelübde vernehme^: „Arme Anke, Du bist nun ganz allein auf der weiten Erde; aber ich will Dich lieb haben und erziehen, so gut ich es vermag; ich werde Deine Mutter sein." „Der Geier hat die Tauben gewittert und umkreißt jetzt das Nest," bemerkte Pastor Erichsen am folgenden Tage zu Tante Jutta, als er, am Fenster stehend, der Gestalt des schneidigen Offiziers nachsah, als dieser zum zweiten mal in kurzem Galopp am Hause vorübersauste. „Das ist Schrecknissen der Vergangenheit, Nikolaus — man sollte es sie nicht entgelten lassen." „Du redest ihnen das Wort, nach Frauenart bist Du natürlich vernarrt, sobald nur das zweierlei Tuch auf der Bildfläche erscheint. Ich sage Dir jedoch, daß so lange ich lebe und noch ein Wort über die Lippen zu bringen vermag, meine Tochter den Sohn jenes — jenes — Ver brechers nicht ehelichen wird! Das merke Dir, Jutta, im Falle diese Unterredung etwa das erste Scharmützel zu dem beginnenden Kampf bedeuten soll. Seit Jahrhunderten ist den Unseren nur Unheil aus dem Hause Ravensburg, den Dänenfreunden, geworden; es liegt ein Fluch auf der Familie, der Fluch der Sünde, der jede Blutsverwandt schaft mit ihnen von vornherein unwiderruflich ausschließt." Sor dem Wittagstisch. Nach dem Gemälde von A. Eberle. ein Ravens und er kommt nicht von ungefähr, die Fenster promenaden gelten einem der Mädchen." „Dann ist es Leonore," entgegnete Tante Jutta, eifrig an einem Röckchen für Anke nähend, „ich hörte das so aus ihren Erzählungen, und Rahel meinte, der junge Herr Baron habe sie vor allen ausgezeichnet; da wird er zweifellos ernste Absichten hegen, Nikolaus." „Und das sprichst Du so gelaffen hin, als handle es sich um nichts wichtigeres, als Deine Butter, die Sörens in der Stadt verkauft," fuhr Pastor Erichsen auf, „ich dächte doch, Du müßtest wissen, daß nach dem, was zwischen uns und jener Familie liegt, an eine Verbindun nicht im entferntesten zu denken ist, vorausgesetzt, der Sohn Ottokar v. Ravens wäre in der That taktlos genug, sie zu beabsichtigen." Die alte Dame wiegte den großen/grauen Kopf be denklich hin uud her. „Gott, der junge Herr Offizier weiß vielleicht eben so wenig wie der andere von den „Ist das nicht zu hart gesprochen, Nikolaus?" „Nein; ich kann in diesem Punkte garnicht hart und fest genug sein! Habe ich selbst auch vergeben, was wir von jeher durch sie gelitten,/so ist es doch meine Pflicht, meine Kinder vor dem Feindlichen zu schützen, da das Un glück sich mit jenen an ihre Ferse heften würde." Jetzt ritt Eugen in größerem Bogen noch einmal um das Haus und endlich sah er seine Hoffnung verwirklicht; an einem Seitenfenster bewegte sich zwischen den Gardinen eine weibliche Gestalt — der Flügel wurde wie zufällig geöffnet, ein goldblondes Haupts!erschien und , mit einer unnachahmlichen Grazie/seiner leutnantlichen Zuversicht grüßte Eugen. Ihre Hand bewegte sich — ließ sie ein weißes Tuch flüchtig wehen? Fast war es so gewesen — das Herz pochte ihm rascher vor freudiger Genugthuung — dann war die Lichtgestalt verschwunden. „Schlag Dir die Sache aus dem Sinn, meine arme Leonore," äußerte Tante Jutta später zu der Nichte, auf