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Beilage zu Mo. 1 des Wochenblattes für Wilsdruff etc Im Jrrenhause. Roman von E. v. Linden. (Nachdruck Verbote».) (Fortsetzung.) Am nächsten Morgen in aller Frühe, die Stadt lag noch im tiefen Schlummer, brachte sie die trostlose Mutter sammt ihrcnl Gepäck nach dem Bahnhofe und sah mit einem stillen Gebete dem davonbrausenden Zuge nach. Was wollte die arme, kranke Wittwe in dem Getümmel der großen Stadt? Ihr Kind retten? — Eie wußte eS wohl selber nicht genau, der eine große Zug jener allmächtigen Liebe, welche das Mutterherz zu Opfern treibt, die vom Manne niemals begriffen werden, zwang sie dorthin, — was geschehen sollte, war .^r selber noch nicht klar, doch mußte sie ihrem unglücklichen Kinde nahe sein, der eine Gedanke beherrschte sie vollständig. Das Ziel war erreicht, zum zweiten Male betrat sie diese Stadt, trostloser noch und elender als einst, doch wie sie an der Seite eines Dienstmannes, der sic und ihr Gepäck nach einem billigen Gasthause bringen sollte, dahinschritt, wars ihr, als fühle sie sich stärker, kräftiger und im Stande, jedem kommenden Sturme Trotz zu bieten. Es kam ihr jetzt vor allen Dingen darauf an, ihren Sohn zu finden, um von ihm das Nähere zu erfahren. Das war nun freilich keine Kleinigkeit in dieser großen Stadt, weshalb sie dem Dienstmann den Auftrag ertheilte, in allen Gasthöfen der Stadt Nachfrage zu halten. Eine bewundernswürdige Energie war mit der Nothwendigkeit über sie gekommen, wie man das so häufig bei Menschen findet, die in kleinen Verhältnissen lebend, urplötzlich in den Strom der Welt hinausgeschlcudert werden, und von dem unerbittlichen Muß getrieben, die bisher schlummernde Charakterstärke über raschend schnell entwickeln. Vielleicht war es bei dieser Frau, die körperlich so leidend, nur eine künstliche Erregung, die Kraft der Mutterliebe, welche sic so stark erscheinen ließ. Sie hatte keine Ruhe, keine Rast und gönnte sich kaum die nöthige Erholung im Gasthofe, um sich einen Wagen kommen zu lassen und jenen fürchterlichen Ort aufzusuchen, wo ihr unglückliches Kind unter wahnsinnigen Höllenqualen leiden mußte. Während nun der Dienstmann seine Umschau in den Gasthöfen aller Stufen hielt, rollte der Wagen im schnellen Trabe mit der armen Mutter nach dem Mondholzc; sie fürchtete nicht, daß man auch sie dort behalten werde, wie den Professor, — wer mit dem Leben und seinen Hoffnungen so vollständig abgerechnet, kennt keine Furcht mehr. Der Direktor der Anstalt empfing sie nach seiner Ge wohnheit sehr artig und hörte ihr Anliegen, die Frau Doktorin Mohrbach zu sprechen, ruhig an, »Ich bin die Mutter derselben,' fügte sie hinzu, „Sie werden meine Gefühle bei der furchtbaren Nachricht, die ich erst aus den Zeitungen erfahren mußte, zu würdigen wissen.' „Vollkommen, geehrte Frau!' versetzte Dr. Todtenberg mit theilnehmender Miene, „cs thut mir leid, daß Sie diese Nachricht, welche Ihr Herr Schwiegersohn Ihnen so gern ver heimlicht hätte, um Ihrem Mutterhcrzen keinen Kummer zu bereiten, auf so plumpe, so unvorbereitete Weise erfahren mußten. Die Publizistik drängt sich leider in jede« Familiengeheimniß und verschont nicht die heiligsten Bande, um sie vor die Oeffent- lichkcit zu zerren und der Lesewuth und Neugier ein Genüge zu thun." „Ich bin im Gegcntheil der Publizistik in diesem Falle sehr dankbar,' entgegnete Frau Walter mit außerordentlicher Ruhe und Würde, „soll die Mutter nicht erfahren, wenn ihr Kind leidet, ja wie hier, so furchtbar leidet?' „Warum aber doppelte Leiden, meine liebe Frau Walter, wo doch von Ihrer Seite keine Hülfe gebracht werden kann?' „Kann ich für mein Kind nicht beten, Herr Doktor?' versetzte die Wittwe einfach, „inniger beten, je unglücklicher dasselbe ist?' „Freilich, freilich,' gab der Direktor mit einiger Ungeduld zu, „beten Sie für die Arme, während ich meine ganze Kunst aufbieten werde, sie ihrer trauernden Familie zurückzugeben. Ja liebe Frau!' setzte er, ihr herzlich die Hand reichend, hinzu, „beten Sie, daß Gott meine Bemühungen mit glücklichem Erfolge krönen möge. „Das werde ich sicherlich allstündlich, ja mit jedem Ge danken thun, Herr Doktor!" rief Frau Walter, in Thräncn ausbrechend, „o Sie scheinen so gut, so menschenfreundlich zu sein, so vergönnen Eie der armen Mutter nur ein einzig Wort mit ihrem Kinde. Lassen Eie mich wenigstens mit dem Tröste scheiden, die Unglückliche noch einmal im Leben gesehen, noch einmal ihre Stimme gehört zu haben." „Ei, ei, so schreckliche Gedanken dürfen Sie nicht hegen, liebe Frau Walther!' tröstete der Direktor, welcher sie gar zu gern los gewesen, „wie Viele kehren geheilt zu den Ihrigen zurück, man darf ja nicht immer gleich das Schlimmste be fürchten. Es thut mir leid, Ihnen den Trost nicht gewähren zu können, Ihr Anblick würde jedenfalls meiner Kur entgegen wirken.' „Das haben Sie nicht zu befürchten, Herr Doktor!' er widerte Jene eifrig, — sie fühlte mit feinem Instinkte, daß ein ruhiges und vertrauendes Wesen, welches arglos Alles zu glauben schien, eher zum Ziele führen müßte. „Im Gegentheil möchte ich behaupten, daß mein Anblick ihren Wahn, wenn auch nur momentan, zerstreuen wird, — o, um Gottes Barmherzigkeit willen, beschwöre ich Sie, Herr Doktor! meine Bitte zu er füllen, ich kann diese Gegend nicht verlaffen, ohne mein un glückliches Kind gesehen und gesprochen zu haben.' Der Direktor befand sich in einer höchst unerquicklichen Lage, er konnte es dieser Mutter wohl ansehen, daß sie Wort halten und ihm jeden Tag auf dem Halse liegen, ja wohl gar Unannehmlichkeiten bereiten werde. So entschloß er sich nach kurzem Nachdenken dazu, sie in seiner wie eines handfesten Wärters Gegenwart mit der Tochter reden zu kaffen. „ES sei,' sprach er ernst, „ich will es wagen, Ihrethalben, die Sie die weite Reise darum gemacht, eine Ausnahme von den hier streng inne gehaltenen Regeln gestatten.' Er klingelte und flüsterte dem eintretenden Wärter einige Worte zu, worauf dieser sich rasch entfernte und nach ungefähr fünf Monaten zurückkehrte. „Alles in Ordnung, Herr Medizinalrath!' „So folgen Eie mir, meine liebe Frau Walther!' Das Herz der arinen Mutter klopfte, als ob e« ihr das Herz zersprengen wollte, beide Hände preßte sic darauf, um einigermaßen die Ruhe bewahren zu können. Der Wärter öffnete eine Thür und ließ den Direktor und die Wittwe eintretcn, worauf er selber folgte und an der Thür stehen blieb. Mitten in der Zelle stand eine schlanke Gestalt, regungs los wie eine Todte, das leichenblasse Antlitz, die eingesunkenen dunklen Augen schienen ebenfalls einer Todten anzugehören. Als sie den Direktor erblickte, stürzte sie auf ihn zu und schrie: „Laß mich frei, Ungeheuer! — bringe mich zu meinen Kindern!' Rasch trat er auf die Seite, Frau Walter streckte im Uebermaß des Schmerzes beide Arme aus und schluchzte: „Louise, mein armes, armes Kind!" „Mutter!' schrie die Unglückliche auf und stürzte halb bewußtlos an ihre Brust. Lange hielten sich Beide umfaßt, als wollten sie sich nimmer wieder lassen, bis der Direktor einige unzweideutige Zeichen seiner wachsenden Ungeduld gab. Da ermannte sich Frau Walter, einen Kuß auf die Marmorstirn der Tochter pressend, sagte sie leise und zärtlich: „Sieh mich an, mein geliebtes Kind!' — sprich, wer hat Dich wahnsinnig gemacht?' Rasch erhob Louise das Antlitz und schaute mit einem un sagbaren Ausdruck von Stolz und Verachtung zu dem Di rektor hin. „Wer mich wahnsinnig gemacht, fragst Du, Mutter?' versetzte sic langsam, „hat jener Herr dort es Dir nicht mit- getheilt? — Wer in diesem Hause freilich den Verstand nicht verliert, hat nie welchen besessen. Man hat mich wahnsinnig gemacht, weil es meinem Gemahl, dessen Handlanger dieser Direktor ist, nun einmal so gefällt.' Doktor Todtenberg zuckte die Achseln und wechselte einen bedauernden Blick mit dem Wärter. ,Examinirr mich doch, meine Mutter, ob mein Gehirn