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4. Beilage Freitag, 9. April 1999. Leipziger Tageblatt. Feuilleton. Gefühllos sein heißt oft Gefühl und Pflicht. Dante. O Die Sünde an den Kindern. Bon Prof. Dr. Max Schneidewin. Ein sehr merkwürdiges Buch! Es hat zwei ganz verschiedene Seilen. Erstens ist cs eine Tendenz, schrift gegen die Verpflichtung der Kinder aus das apostolische Glau bensbekenntnis bei ihrer Konfirmation, worin eben die Sünde gegen die Kinder bestehen soll. Zweitens aber wächst es sich aus zu einem künstlerisch ausgeführten, im wesentlichen gewiß frei erfundenen Charak- lerbikde eines höchst eigentümlichen und bedeutenden „Schulmeisters" unserer Zeit, des Meißener Gymnasialprofessors Friedrich Stoß, und der romanhaften Erzählung seines Lebens und Sterbens. Für die tendenziöse Behandlung jener eng umichriebcnen Frage der Berechtigung der Kinderkonfirmation mit der Verpflichtung aus das Ilpostolikum wäre das Buch denn doch zwanzigmal zu umfangreich geworden. Der Verfasser, eine offenbar ebenso denkerische wie dich terische Natur, läßt absichtlich seiner Phantasie und Gestaltungskraft, seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnis und philosophischen Speku lation für den engen Rahmen jener Sondcnrage viel zu frei die Zügel schießen. Alles, was man etwa als „Sünde an den Kindern" deuten könnte, sucht er keineswegs zusammenzustcllen. Doch ganz ernst meint er es zunächst jedenfalls auch mit dem Kern der Sonderfrage, den er so über die Maßen reich cinklcidet. Der Ernst dieser Frage ist ihm zunächst zuzugcbcn. Sie wird ja auch ziemlich allgemein empfunden, und eine gewisse Not besteht in dieser Beziehung in der Tat. Eine große Zahl der Mitglieder der christlichen Gemeinden erkennt das apostolische Iymbolum nicht mehr als den Inhalt ihres Glaubens an. Wissenderwcise den Kindern ein Ja, zumal in einer ganz großen und heiligen Ange legenheit, abzuzwiugcn, das die Erwachsenen zum großen Teil selbst nicht teilen, ein Gelübde aufzuerlegcn, das in den meisten Fällen doch gebrochen werden wird, das wird mit Pein empfunden. Harlan for muliert einmal die darin liegende Sünde mit den Worten: „Ein Ja zu erlangen, wo nicht auch ein Nein frei gegeben wird, das ist un sittlich." Dennoch sollte man. glaube ich, die Sache nicht allzu tragisch nehmen. Die christliche Kirche konnte ja gar nicht anders, als die Auf nahme der religiös mündig gewordenen Kinoer in ihre Gemeinschaft mit dem Ablegen eines Bekenntnisses auf ihren Glauben verbinden, ja das mußte Substanz und Kern der betreffenden Feierlichkeit werden. Tic christliche Kirche lebt ihres Glaubens als eines von Gott offen barten, also ewigen und im wesentlichen unabänderlichen, und gerade für das religiöse Bedürfnis der Menschenseele ist cs ja wesentlich, daß sie den Inhalt der religiösen Vorstellungen, Gefühle und Verpflichtun gen, wenn es nur irgend möglich ist, nicht als einen nur eben für jetzt feststehend gehaltenen, sondern für Leben und Sterben vorhaltenden zu besitzen begehrt. Nun glaubt aber jetzt die Mehrheit, wenigstens der Protestanten (und sieht eben darin daS Wesen des Protestantismus!, daß es sich herausgestellt habe, daß es eine solche unwandelbare Offen barung Gottes an die Menschheit doch nicht gebe, daß mit wissenschaft licher Gewißheit das viele Irrtümliche, das dem Glauben innewohne, erkannt sei, daß der christliche Glaube keineswegs von der allgemeinen Bervollkommnungsbedürftigkeit aller menschlichen Tinge eineAusnabme mache. So befindet sich unsere Zeit in einem Zwiichenzustande. Solche Zustände messen geschichtlich aber immer nach längeren Zeiträumen und führen unvermeidliche Uebelstände mit sich, deren Druck, auch abge sehen vom reinen Erkenntnissortschritt, dann zu ihrer allmählichen Ueberwindung beiträgt. Die Kirche hat im Bunde mit dem Gesetze des Beharrungsvermögens noch die Macht, die Konfirmation in der über kommenen und im Sinne der Kirche vernünftigen Weise aufrechtzu erhalten, und aus sich selbst heraus kann sie -och darauf nicht verzichten, bis sich etwa in ihrem eigenen Glauben sozusagen ein Stoffwechsel zu^. Walther Harlan. Lte Tlindc an den ändern. Lines. Sterben und Fahrt in das SMHerz. Berlin, Fleische! L Co. Echulmeiltcrs Leben. 374 S„ Mittel 8». voller Mauserung vollzogen hätte. An einem so praktischen Punkte der kirchlichen Sitte kann sie doch nicht damit beginnen. Die Kinder — so weit sie nicht etwa die Sitte stumpf rind dumpf mitmachen — fühlen in ihrer Weife, daß es außerhalb der menschlichen Natur liegt, nicht etwa spätere Veränderungen des Glaubensstandes zu erleben. Für jetzt aber Iprcchen sic ihr Ja im Sinne einer ihnen ganz überlegenen Autorität aus. Welch ein ganz anderes Gebäude ist doch auch der erhabene Dom des kirchlichen Glaubens als die erbärmliche Hütte, die sie sich etwa auS ihren eigenen kleinen Meinungen Zusammenzimmern mußten! Uno wäre der Glaube nicht ganz wahr oder auch ganz unwahr, im Vergleich gehalten mit dem, was wirklich ist und geschieht, so kann er vielen von ihnen doch wahr erscheinen in dem Sinne, daß er doch den Forderungen der Meschcnvernunft und des Menschengefühles entspricht, wie diese sich in dem christlichen Weltalter einstweilen herausdebildet haben. Der Glaube liegt doch auf «alle Fälle in der Linie eines idealen Strebens nach Vollkommenheit. Die blinder fühlen, daß man ihnen das Beste geben will, was eine lange christliche Vorzeit unseres Volkes als das Beste zu besitzen glaubte. Sie fühlen, daß ihnen ihr gewöhnlicher Men- schcnvcrstanü vielleicht etwas äußerlich Richtigeres, aber doch eine gött licher Obhut entrücktere, also schlechtere Welt geben würde. Sic fühlen, raß die Ordnungen, denen sie sich unterwerfen, sic in ein Leben von göttlicheren Zielen cinführen wollen, möchten diese auch vor dem Gang der Natur nicht stichhalten können. Sie fühlen, daß, wenn sie nicht uiitmachen wollten, was doch viele Generationen vor ihnen gemacht haben,sic eine ihrem Alter ganz lbidcrsprechende Selbständigkeit (ich an maßen wurden und daß sie mit einem Wahrhcitsgcfühl, über das sie noch keine Rechenschaft sich ablcgcn können, sich auflchnen würden gegen ein Guies, dessen wenigstens gute Absicht sie schon völlig herauscmpsin- den. In Summa: Ein immerhin peinigendes Nebel liegt hier vor, aber es einfach abstellen, das ist so unmöglich, wie ein Leben haben wollen, in dem niemals fünf gerade ist. Tic Klage über den mit der Konfirmation verbundenen Glaubens zwang geht, wie auch bei Harlan, eigentlich zurück auf die Au'nahme unmündiger Kindlein in das Christentum durch die Taufe. Wenn -er angebliche Bund, so 'agt man, nicht schon früher mit Verständnislosen geschlossen wäre, >o brauchte er nicht mit eben Halbwegs Mündigen in der Frist der wenigen Jahre, lu denen sie sich noch dazu hcrgeben, er neuert zu werden. Die Tau'e für eine nichtige Handlung zu finden, dazu gehört nur ein sehr seichter Verstand. Wer aber -als reifer Er wachsener mit einem Gefühle für das, was echt menschlich ist, dieser Zeremonie einmal beiwohnt, der wird doch von Ehrfurcht ergriffen gegen diese wunderbare Symbolik, die im Christentum sogar zu etwas noch Größerem tiefsinnig erhöht wird, zu einem .Sakrament". Ein so reines, hilfloses kleines Naturwesen wird durch diese Handlung zu einem Gegenstand des Gottcsinteresses für alle Ewigkeit erhoben, es wird eingereiht in die zukünftige Gliedi'chait von vernünftigen Wesen, die für allerhöchste Ziele bestimmt sind. Und möchte es nun auch durch frühen Tod oder durch niederen Lebcnsgang Gr immer ein Knecht der Natur bleiben, der Wunsch, es für höhere Vollkommenheit in Aussicht zu nehmen, und das durch ein sprechendes Sinnbild auszudrücken, ent- spricht doch ganz dem Adel des Geistes und Herzens edelster Menschen- höbe. Soviel Verstand, um dieses Wasseraufschöpfen von der Seite einer gleichgültigen Acußerlichkcit betrachten zu können, habe ich auch, aber dennoch, ich weiß nicht wie, hatte ich immer, wenn ich einmal einer Taufe beiwohnte, in tiefer Befriedigung nach diesem dreimaligen Wasserbegicßen den Eindruck, als ob das kleine Wesen nun ein ganz anderes wäre, einer ganz anderen Ordnung der Dinge als der der Natur cinverleibt wäre. Wir haben wahrhaftig Sorgen und Nöte genug, so daß wirklich nicht ersichtlich ist, warum wir uns durch diese schöne christliche Volkssitte einstweilen so beschwert fühlen sollten. Uebrigens haben wir ja auch, und zwar bei den Glaubensnötcn unserer Zeit, mit vollem Rechte, das Ziivilstandsgesetz, dem zufolge sich ja auch, wem es beliebt, mit der Anmeldung des Neugeborenen beim Standesamt be- gnügen kann. Daß sich in der Masse der Menschheit auch einzelne, wie der Fried- rich Stoß des Herrn Harlan, mit der Ausdenkung einer anderen „Reife weihe" für die Jugend tragen, das bleibt ihnen ja nach den modernen Freihoitsprinzipien unbenommen. Daß ein Staatsdiener dafür, kurz gesagt, daß er seinen Sohn nicht konfirmieren lassen will, zur Diszipli- naruntcrsuchung gezogen und dann sogar zur Dienstentlassung v?r,- nrteilt werden wüte, halte ich in jedem deutschen Staate doch heute für ausgeschlossen. Man weiß doch einmal, wicvie! Uhr es auf dem Glau bensglockenturme geschlagen hat, und will nicht mit dem Kopfe durch Rr. 99. 103. Jahrgang. die Wand. Aber auch die Weigerung selbst kommt kaum vor. Man weiß einmal, daß in Uebergangszeiten vieles noch in den alten Formen verläuft, denen der Inhalt bereits geschwächt oder entwichen ist. Und sollten denn solche freiwilligen Märtyrer, wie Friedrich Stoß, wirklich allein so viel feinfühliger und ehrlicher als alle anderen Menschen sein, sollten sie nicht in Wahrheit nur nicht bemerken, daß sie schwerfälliger als die andern sind, indem sie einen Betrug dort annehmen, wo jeder mann den Sachverhalt durchschaut? — Uebrigens ist Harlans breit ausgeführte Darstellung der Disziplinaroerhandlung in sich selbst ein Muster von Charakteristik aller beteiligten Personen und Standpunkte und ein wahres Kunstwerk in den den einzelnen in den Mund gelegten Reden. Friedrich Stoß hat also, weil er in den naturwissenichasilichen Stunden immer feinen Kollegen vom Religionsunterricht seinen Kram verdorben und seinem Solin eine originale Reifeweihc statt der Kon- firmation zugedacht hat, die Brotstcllc verloren, nnd wie er nun sein Leben neu cinzurichten sucht, das erzählt sein Romanschreiber im letz ten Viertel des Buches weiter. „Die Sünde an den Kündern" ver schwindet im Hintergründe. In einzelnen Bildern aus weiteren zwanzig Lebensjahren seines Helden skizziert Harlan, u>ie nnd in welcher inneren Verfastung dieser sich nunmehr durchschlägt. Der „Diogenes von Spandau" wird wissenschaftlicher Wandcrrcdner in ganz Deutsch land und schreibt die ersten Bänd: seines großen Lebcnswcrkcs „Der Wille zur Frucht". Die Variante zu Schopenhauer und Tietzsche bildet die Weltanschauung des edlen und doch in mannigfachen Verschroben heiten immer mit einer seinen leichten Ironie des Dichters gezeichneten Enthusiasten. „Frucht" ist der Inhalt deS Allwillens, dessen Sichtbar keit die Welt ist, und diesen Willen nach Kräften und Gaben sich zu eigen zu machen, ist die Lebensaufgabe des Menschen. Dies ist Friedrich Stoßens Lebensanschauung. Die Ausfüllung des Skelettes dieser Idee des Weitcrlcbens des amtsentsetzten Professors durch Len Dichter ist bedeutsam und genußreich zu lesen. Z. B. das philosophische Werk trä^t seinen Verfasser in Summa vier Besprechungen ein, eine witzige, eine gönnerhafte, zwei nichtssagende, und im Verlaus mehrerer Jahre den Verkauf von nicht hundert Exemplaren. Da leuchtet doch in der Er findung des Dichters die Wahrheit des Lebens durch, wie cs in der Kunst sein soll. Aus eigener Phantasie fügt dann der Romanichrciber, weil er eben einen Roman verfaßt, noch hinzu, -aß cs ihm zuletzt noch das Vermächtnis von 188 000 .« seitens eines für den seltsamen Fr. Stoß aus den Zeilen persönlicher Bekanntschaft begeisterten, wun derlichen, in seiner Weise geistig strebenden alten Junggesellen ein trägt, — wie es im Leben ni ch t kommt. Stoß tritt sogleich die Hälfte davon seinem einzigen Sohne ab. der talentvoll, aber doch stark der Bohöme anheimfallend, ein ewas bedenkliches Produkt der Erziehungs kunst seines seltsamen Vaters wird. Die ihrem Manne höchst entgegen gesetzte Frau Stoß, ein recht triviales Weltkind, kann von -er anderen Hälfte der Erbschaft nun wieder ihren, wie sie sich vorspicgclt — ,,'chöu- heitsdurstigen", banalen und eitlen Komsortsneignngcn frönen, der alte Stoß ielber bleibt bei seinen Wanderfahrten. Auf einer dieser stirbt er während einer Eisenbabnsahrt von Berlin nach Magdeburg hinter der Wildparkstatioil achtundfünfzigjährig an einem Schlaganfall in ein'amem Abteile. Seine letzten Gedanken vor seinem plötzlichen Ende sind, hcrvorgerufen durch seine fliegende Nachbarschaft mit des Kaisers Sommersitz: „Man möchte an den Kaiser die Forderung stellen: „Die Privilegien der anerkannten Religionsgescllschaften sind au^zu- ksebon. Wenn der Kaiser nicht mit den Ideen marschiert, so mar schieren die Ideen ohne den Kaiser." Da stirbt er in einem Augenblick. Dies ist auch Seite 337. Das Buch geht aber noch bis Seite 371. Man sollte natürlich meinen, der Rest wäre Erzählung der Bestattung, des Einflusses des Todesfalles auf Frau und Sohu, Nachruf und berg!., aber auch dafür wären 10 Seiten ja sehr viel. Aber nichts von alledem. Nichts Sonderbareres, allerdings auch Originelleres, habe ich je gc- lesen, als diesen Schluß dieses Buches. Nun versteht man erst den Zusatz auf dem Nebentitcl: „nnd Fahrt in das Allherz". Man hatte über diesen gesuchten Zusatz etwas hinwegaesehen oder ihn etwa auf den sittlich-religiösen Lebenswandel eines Menschenkindes bezogen, den dieses sich in w gewähltem Ausdruck deutete. Aber es kommt ganz anders. Wie es nun kommt, damit hat sich der Dichter in sehr kühner, aber genialer Weise eine ganz einzigartige Aufgabe gesetzt, das Schick- ml nach dem Tode, das ewig Jenseitige und Geheimnisvolle, mit den - Mitteln-diesfeitigrr Phantasie ,n schildern, nicht «ach seichten Vor stellungen des Volksglaubens, die sich selbst widerlegen, sondern nach tiefsinniger, pantheistischer Mystik. - - < unck stnuaeuä onoedmbureo ckleser Olkerto von ckvrselben kr lilint rlrli, Ml> M M»tli»ll> ri tinunsn. . eppielre eppielRe eppieke eppielse eppieke eppieke eppivlRe eppivlRv vppieke eppieke eppiekv eppieliv eppieke vppierlrv eppLelie Isppietts kouktoo vir bei äusserst xllustixer Kelexendelt unck dietvu vir dlorckurod einem xeekrtvn Publikum, insbesonckero unseren roklreieden Luncken, eine xnur besouckvrs xUnstlxo ^nsebnfkungsxelegenkelt. 2u labetkokt billigen Preisen xeben vir leppiette io desten IjuoiitLten, sovis einen grossen kosten kerser- Imitotlonen, vvlvdv von vekteu Lvppieden kaum ru nntersekeickeo »lock, ob. 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