Volltext Seite (XML)
Ludwig Philipp. Geräuschlos und fast unbeachtet ist der Mann gestorben, der vor wenigen Jahren noch als der Schlußstein der Ordnung Europa's galr. Damals mackte jedes Gerücht von seinem Erkranken alle europäischen Torsen zittern; jetzt drückt die Nach richt von seinem Tode die Rente kaum um wenige Centimes herunter. Dieses Ende entspricht dem raschen Wechsel seiner frühem Schicksale. Als Jüngling Mitglied des Jakobincrclubs, Brigade- general' der Ostgrenzarmce, Flüchtling vor der Acht des Convents, Schullehrer in der Schweiz, vater- landsloser Wanderer in Amerika und England, be stieg er endlich im hohen Mannesaltcr den Thron Frankreichs, auf den ihn die Wogen einer Straßcn- revolution gehoben hatten, und regierte 18 Jahre, von Europa angcstaunt als das Muster der Regen- tcnweishcit, bis ihn eine neue Revolutionswoge zum dritten Male ins Exil schleuderte, wo er unbcklagt und haibvcrgcsscn gestorben ist. Ludwig Philipp war am 6. October 1773 ge boren und der älteste Sohn des aus der französi schen Revolutionsgeschichte unter dem Namen Egalite genügend bekannten Herzogs von Orleans. Er wurde sehr freisinnig von Madame de Gcnlis erzogen und ward bereits 1791 Oberst eines Dragonerregimcnts, mit dem er den Feldzug von 1792 unter Kellermann und Dumouriez mitmachtc und sich sowohl in der Schlacht von Dalmy wie in der Schlacht von Jcmmappcs hervorthat. Mittlerweile eilte die Re volution in Paris ihrer Krisis entgegen. Die Hin richtung des Königs Ludwig XVI. und die des Herzogs von Orleans, der übest ihn das Tode-urtcl gesprochen, folgten rasch auf einander, und Ende Au gust sah sich Ludwig Philipp, damals noch Herzog von Chartres, genöthigt. mit Dumouriez das französische Lager bei Valencicnnes zu verlassen und sich nach Belgien zu flüchten. Beide waren dem Sichcrheits- ausschuß verdächtig und nach Paris geladen wor den. Ludwig Philipp begann jetzt ein Wanderleben, das ihn zuerst nach der Schweiz, wo er einige Zeit in Reichenau Lehrer war, später nach Schweden und den Vereinigten Staaten von Nordamerika führte, wo er am 26- Septbr. 1796 landete. Hier waren jedock seine Irrfahrten noch nicht zu Ende. Er kehrte im Jahre 1800 nach Europa zurück, wo er sich erst in Twickenham bei London, später nach seiner Vermahlung mit der Prinzessin Amalie von Neapel in Palermo aufhielt. Der Sturz Napoleons im Jahre 1814 rief ihn nach Frankreich zurück. Er übernahm bei der Rückkehr des Kaisers von Elba auf Befehl Ludwig XVIII. den Oberbefehl über die Nord- armce, legte ihn aber bald wieder nieder und begab sich nach England. Nach der Wiedereinsetzung Lud wig XVIII. führte ihn die Aufforderung des Königs an alle Prinzen von Geblüt, ihren Sitz in der Pairskammer einzunehmcn, wieder nach Paris. Hier blieb er jedoch nur kurze Zeit; seine liberalere Politik und seine Stellung als Haupt der rwalistrendcn Nebenlinie brachten ihn bald in Opposition gegen den Hof und veranlaßten ihn, den Aufenthalt in Frankreich abermals mit dem in England zu ver tauschen, von wo er erst 1817 zurückkehrte. Don dieser Zeit an war er der Mittelpunkt der liberalen Opposition, und wie Viele behaupten, der geheime Leiter der Jntriguen, welche mit der Entthronung Karls X. und der Thronbesteigung Ludwig Philipps als König der Franzosen endigten. Die Julirevo lution und die Ereignisse wahrend der achtzehnjäh rigen Regierung Ludwig Philipps werden noch zu frisch im Gedächtniß der Leser sein, als daß wir sic hier zu skizziren brauchten. Ludwig Philipp besaß keine der glänzenden Eigenschaften, welche einen Charakter entweder zum Schrecken oder zur Bewunderung der Menschheit machen. Ihn zeichneten weder Genialität des Geistes, noch gewaltige Leidenschaften, noch glänzende Tugen den aus. Dafür besaß er einen seltenen Verein von Gaben, die ihn besonders geeignet machten, mit Geschick und Glück durch die stürmischen Wogen einer revolutionären Zeit das Schiff seines persön lichen Schicksals dem vorgcstecktcn Ziele zuzusteuern. Gesunder Sinn, Sparsamkeit, Vorsicht, Welt- uud Mcnfchcnkenntmß, Geduld, Selbstbeherrschung und ängstliche Sorgfalt für das eigne Interesse waren die Eigenschaften eines Charakters, der durchaus nicht von heroischem Zuschnitt war. Alle diese Eigenschaften besaß er in ungewöhnlichem Maße und ihr nüchternes Ensemble wurde durch keine Be geisterung, durch keine großartigen Conceptwnen, durch keine wcitgreifendcn Bestrebungen für den Staat oder das Volk gestört. Nur einmal, bei der spani schen Heiralh, ließ er sich von seiner Sucht, die Macht und das Ansehen seiner Familie zu erweitern, verleiten, von seiner gewöhnlichen Politik abzugchcn- Aber auch hier schien er die Unbesonnenheit seines Plans durch ein undurchdringliches Netz von Jn triguen und kleinlichen Hülfsmittelu vor sich selbst zu verstecken. Um seinen Thron vor der Revolution zu schützen, verlangte er von dem französischen Volke eine poli tische Diät, die auf die Abtödtung seiner Leidenschaft lichkeit berechnet war. Weder die Aufregung eines auswärtigen Krieges, noch des politischen Parteien kampfes waren ihm gestattet; alle Bemühungen einer in der Wahl ihrer Mittel rücksichtslosen Dip lomatie waren auf die Erhaltung des europäischen Friedens gerichtet, und die innere Politik beschränkte sich auf die Abnutzung gefährlicher politischer Persön lichkeiten und Einschläferung oppositioneller Elemente im Volke durch ausschließliche Pflege der materiellen Interessen. Diese Zwecke verfolgte Ludwig Philipp mit unermüdlicher Geduld und unglaublicher Schlau heit, und so erfolgreich schien sein Kampf gegen die Revolution zu sein, daß ihn selbst die Republikaner als Sieger anerkannten und die Ausführung ihrer Plane bis zu seinem Tode verschoben. Aber zuletzt zeigte es sich doch, daß alle seine Bcschwichtigungsmaßrcgeln, alle seine Reprefsivgesese nur die Lava der Revolution überdeckt und die Ex plosion beschleunigt hatten. Scheinbar im Vollbe sitze der Macht, stürzte ihn eine Handvoll Verschwö rer der untersten Klasse. Er stieg, sagt die Limes,