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Weitage zum „Wochenblatt für. Wilsdruff" Von einer dem 6. Wahlkreise nahestehenden Person wird uns beifolgende Mittheilung des Herrn Reichstags abgeordneten dieses Wahlkreises zugestellt, welcher wir gern in unserem Blatte die Spalten öffnen: Ich bin gebeten worden, meiner Wählerschaft etwas über den Reichstag mitzutheilen. Ich komme dieser Bitte gern nach, betone aber im Voraus, daß diese Mittheilung nicht ein Rechenschaftsbericht im eigentlichen Sinne des Wortes sein soll, denn dazu fehlt es mir in Wahrheit an Zeit. Wenn man fast täglich mit wenigen Ausnahmen von Vormittags 10 bis Nachmittags 5 oder 6 Uhr und Abends von 8 bis gegen 1t Uhr in Commissions-, Fractions- und Plenarsitzungen beschäftigt ist, so hat man seinen Normalarbeitstag erfüllt und behält nicht einmal zu den Vorbereitungen auf die Sitzungen, dem Durchlesen der massenhaften Vorlagen und Petitionen, den Conferenzen und der Correspondenz in die Heimath ausreichende Zeit übrig. Wo sollen da noch die Stunden zur Ausarbeitung eines umfassenden Berichts für die Wählerschaft gefunden werden? Ich habe in den 17 Jahren, in welchen ich die Ehre genieße, den 6. sächsischen Wahlkreis im Reichstag zu vertreten, recht oft das Bedürfniß gefühlt, mich mit Denjenigen, welche mir eine so lange Zeit hindurch ihr Vertrauen geschenkt haben, über die Aufgaben, die im Reichstag zu erfüllen waren und über die Art, wie ich sie zu lösen bestrebt war, zu unterhalten, aber ich habe Ange sichts der Unmöglichkeit, allen Anforderungen, die an mich gestellt worden, gerecht zu werden, immer und immer wieder die Nachsicht der Wählerschaft in Anspruch nehmen und mich mit der Annahme beruhigen müssen, daß Denjenigen welche sich für den Reichstag interessiren, die wichtigeren Vorgänge in demselben wohl schon aus den Zeitungen be kannt geworden sein dürften. Der jetzt tagende Reichstag hat ungewöhnlich viel neue Männer in das Parlament gebracht. Ihre Zahl beläuft sich auf nicht weniger als 152 von 397 Mitgliedern. Die Deutschconservativen haben sich um 26 vermehrt und beziffern sich auf 76, die Freiconser- vativen (Deutsche Reichspartei) auf 28, das Cent rum mit den Welfen ist in seiner alten Stärke von 106 geblieben, die Polen umfassen 16, die Socialdemokraten sind von 14 auf 22 Mitglieder gestiegen, die Nationalliberalen zählen bei einem kleinen Zuwachs von 6 Sitzen 50. die Deutschfreisinnigen haben etwa 40 Wahlkreise verloren und verfügen nur noch über 61 Sitze, die Volk spart ei zählt 7 Mitglieder 23 Abgeordnete, darunter 15 Elsaß-Lothringer, gehören keiner Fraction an, und die übrig bleibenden Mandate sind zur Zeit unbesetzt. Hieraus ergiebt sich die Thatsache, daß die beiden conservativen Parteien und die Nationalliberalen allein nicht über die Mehrheit verfügen, daß aber die Deutschconservativen und das Zentrum mit seinen Annexen eine Majorität zu bilden vermögen. Die Deutschconservativen, die Deulschfreisinnigen und die Sozialdemokraten stimmen in den meisten Fällen geschlossen, von den anderen Parteien läßt sich das für die gegenwärtige Session nicht mit Zuversicht be haupten. Für einige Forderungen der conservativen Partei ist mit Sicherheit auf die Zustimmung des Zentrums zu rechnen, für andere auf die der Nationalliberalen. Wo mit größerer Wahrscheinlichkeit auf den Sieg zu rechnen ist, ergeben die nurcrwähnten Zahlen über die Stärke der Parteien. Der Etat für das laufende Jahr ist festgestellt. Der bereits einmal gemachte Versuch, den Etat auf zwei Jahre zu fixiren, hat nicht wiederholt werden können, weil dafür eine Majorität im Reichstag nicht zu erlangen ist. Die damit gemachte Probe hat keinerlei Unzuträglich keiten im Gefolge gehabt. Die U-berbiicdung des Reichstags mit Arbeiten, die jedes Maaß der Billigkeit überschreitenden Anforderungen, welche in Folge des Zusammentagens mit dem preußischen Landtag an den Reichstag gestellt werden und welche die Session auf etwa 6 Monate ausdehnen, gemahnen dringend, auf Abhilfe Bedacht zu nehmen, wenn überhaupt noch auf opferwillige Männer, welche sich zur Annahme eines Reichstags-Mandats entschließen, gerechnet werden soll. Und doch verweigern gerade Diejenigen, welche dem parlamentarischen Regiment am entschiedensten das Wort reden, die Einführung einer zweijährigen Etatsperiode und tragen so wider Willen dazu bei, daß sich das, was sie über Alles hochhalten, abwirthschaftet. Der Reichshaushaltsetat schließt sehr ungünstig ab. Die großen Ausfälle in der Tabaks- und der Zuckersteuer und die Aufwendung von 20 Millionen Mark, welche durch die Dislokationen der Truppen und Verstärkung der Garnisonen an der östlichen Grenze verursacht worden ist, haben nicht unwesentlich die Einnahmen vermindert und die Ausgaben erhöht. Die Gesammtausgabe des Reichs beträgt rund 621 Millionen Mark. Tief einschneidende Abstriche sind auch nach den Zugeständnissen der Liberalen nicht ausführbar gewesen, und so müssen an Matrikular- beiträgen 123^/, Millionen Mark statt 84 Millionen im Vorjahre, also nahezu 40 Millionen Mark mehr im Reiche aufgebracht werden. Sachsen hatte im Vorjahre an Matrikularbeiträgen 4 337 698 Mark zu leisten und ist jetzt mit 6945265 Mark eingesetzt. Es steht nun zwar zu erwarten, daß durch die Zollerhöhungen, falls diese noch die endgültige Annahme im Reichstag finden, vielleicht auch durch die geplante Börsen steuer eine Vermehrung der Einnahmen und damit eine Minderung der Steuerlast herbeigeführt wird, denn der Antrag v. Huene, der über einen Theil der Mehreinnahmen aus den Zöllen zu Gunsten der Kreise und Gemeinden verfügen will, findet, wenn nicht auch im sächsischen Landtag ein Huene aufsteht auf Sachsen keine Anwendung. Immerhin aber ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß die Finanzen auch unseres Heimathlandes von dem ungünstigen Abschluß des Reichs haushaltetats berührt werden. Die erste Hälfte der Session wurde vorzugsweise von der neuer dings eingeschlagenen Colonialpolitik beherrscht. Diese Politik ist von der großen Mehrheit der Nation freudig begrüßt, ja mit Be geisterung ausgenommen worden. Es mag sein, daß dabei mancherlei Täuschungen unterlaufen, daß die Vortheile, welche man erhofft, nur mühsam und erst in spätern Jahren zu erzielen sind, daß noch viele Ausgaben sich nöthig machen, die man jetzt nicht zu übersehen vermag. Aber das steht doch fest, daß Deutschland nicht länger passiver Zu schauer bleiben kann, wenn die Welt vertheilt wird, daß Deutschland endlich nachholen muß. was Jahrhunderte lang versäumt worden ist, daß für deutsche Industrie und deutschen Handel neue Absatzgebiete ge wonnen werden müssen, wenn wir nicht an Ueberproduktion zu Grunde gehen und die Existenz der Arbeiter ernstlich gefährden wollen. Der Weisheit des großen Kanzlers ist es gelungen, Verwickelungen mit andern Mächten zu begegnen und allseitig wird nunmehr anerkannt, daß es ein gutes Recht Deutschlands ist, seinen Handel auch in fernen Welt- theilen zu schützen und da die deutsche Flagge aufzuziehen, wo der Handel unseres Schutzes bedarf. In Verbindung mit dieser Colonialpolitik stand die Forderung von 20000 Mark für einen zweiten Director im Auswärtigen Amte. Die Majorität des Reichstags, bestehend aus dem Centrum, den Deutschfreisinnigen, den Socialdemokraten den Polen und den Elsässern, versagte am 15. December 1884 diese kleine Summe für Beschaffung der unbedingt nöthigen Hülfskraft Aber die gekränkten Gefühle des deutschen Volkes, wie sie in dem großartigen Adressensturm zum Ausdruck gekommen sind, fanden Genugthuung am 4. März 1885, wo die fragliche Regierungsforderung zur dritten Berathung stand und endgültig mit 172 gegen 152 Stimmen bewilligt wurde. Ein kleiner Theil der Deutschfreisinnigen unter Führung des Abg. Rückert hatte geschwenkt, das Centrum zeigte Lücken in seinen Reihen, die Polen waren schwach vertreten, die Elsässer nur durch einen Einzigen, welcher sich der Ab stimmung enthielt, mit einem Worte, die Opposition war gebrochen und dem Redner der Socialdemokraten, dem Abgeordneten Liebknecht, blieb es überlassen, darzuthun, wie er nichts von jenem Stolze und jener Freude empfinde, mit welcher wir uns in jetziger Zeit Deutsche nennen. Einen ähnlichen Verlauf nahmen die Debatten über die Erhöhung des Etatspostens von 100000 Mark auf 150000 Mark für die Afrikanische Gesellschaft und über die Forderung von 180000 Mark zum Bau zweier Dampfschiffe für den dienstlichen Gebrauch des Gouverneurs in Kamerun. Auch hier gab es große Debatten, wobei man wagte, von „Jnteressenschwindel", „bestellter Arbeit" und dergleichen mehr zu sprechen, schließlich aber doch die Forderungen bewilligte. Glatter ging die Sache bei der Forderung von 248000 Mark für die Gehälter von neuen Beamten in den afrikanischen Schutzgebieten von Kamerun, Tago und Angra Peguena, sowie für die nöthigsten Bauten in denselben. Diese Forderung wurde am 2. März 1885 mit großer Mehrheit und nur unter dem Widerspruch der Socialdemokraten, weniger Mitglieder des Centrums und der Deutschfreisinnigen, die von Or. Bamberger geführt wurden, bewilligt. Erfreulich war dabei auch, von den Abgeordneten von Stauffenberg für die Deutschfreisinnigen und Or. Windthorst für das Centrum die feierliche Versicherung zu hören, daß der ganze Partei hader nur häuslicher Zwist unter Brüdern sei und daß wir Alle einig seien, sobald das Ausland es wage, die Ehre und Sicherheit des Vater landes zu bedrohen. Bei dieser Gelegenheit hielt der Reichskanzler die hochbedeutsame Rede, welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ und jenseits des Canals verstanden worden ist. Unmittelbar nach dieser Sitzung reiste der Graf Herbert Bismarck im Auftrage seines Vaters nach England ab und machte den Herren Engländern den Standpunkt klar. Das wichtigste Glied in der Kette der Maßregeln für Durch führung der Colonialpolitik bildete die Postdampfervorlage. Die Regierung forderte die Ermächtigung, die Einrichtung und Unterhaltung von regelmäßigen Postdampfschiffsverbindungen zwischen Deutschland einerseits und Ostasien, sowie Australien und Afrika andererseits, auf eine