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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 14.05.1909
- Erscheinungsdatum
- 1909-05-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190905142
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19090514
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19090514
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1909
-
Monat
1909-05
- Tag 1909-05-14
-
Monat
1909-05
-
Jahr
1909
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8. Beklaue Freitag, 14. Mat 19V». Leipziger Tageblatt. Nr. rrs. 103. Jahrgang. Feuilleton. Schön ist'-, wenn bei der Jugend Ränken Ein Treis sich ruhig weiß zu lenken Und, statt daß er mit Poltern schilt. Durch Scherze zwingt unflügge Loren. Karl Jmmermann. O- Llemett» Brentano» Briefwechsel mit Sophie Bierean. Von Anna Brunuemaun (Dresden). Eine wertvolle Ergänzung zu den Schriften der Romantiker sind ihre Briefe: das haben wir bereits an dieser Stelle gelegentlich unserer „Würdigung der von Gandelfingcr hcrausgegebcncn Romantikerbriefe' hervorgchoben. Dankbar ist daher zu begrüßen, daß uns durch weitere derartige Veröffentlichungen Gelegenheit geboten wird, der Romantik gleichsam in ihre tiefste S^lc zu schauen, damit wir sie dann sicherer und gerechter in ihren Einzelerscheinungen und in ihrer Gesamtheit beurteilen können. In einer trefflich ausgestatteren Ausgabe des Insel oerlags liegt heute der Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und seiner ersten Gattin Sophie Meran vor, eine sehr beachtenswerte Erst ausgabe. Heinz Amelung, der Herausgeber, berichtet uns: Dieser Briefwechsel gelangte durch Bettina in den Besitz Varnhagens, dessen Nachlaß die dkgl. Bibliothek zu Berlin aufbewahrt. Auf den Wunich Hermann Grimms wurden di: Briefe als „für die Oeffentlichkcit nicht geeignet" sekretiert. Nachdem jedoch Reinhold Steig in seinem Werke „Achim von Arnim und Clemens Brentano" (Jnselverlag, Leipzigs einiges daraus mitgctcilt hatte, ließen diese meist aus dem 'Zusammen hang gerissenen Sätze den Wunsch nach der Publikation sämtlicher Briefe r:ge werden. Infolge eines vom Herausgeber mit Unterstützung der Professoren Euch Schmidt und Rocthe gestellten 'Antrags wurde die Lösung der Sekretierung bewilligt. „Ob die Briefe für die Öffentlich keit wirklich nicht geeignet sind, mag nun diese cnscheiden", setzt Amelung hinzu- Wir bewahren uns die Beantwortung dieser Frage bis zum Schluß auf; sie kann ja erst nach Eingehen auf die Briese selbst erfolgen. Kurz sei noch das wesentlichste ihrer Vorgeschichte aus der interessanten Ein leitung des Herausgehers zusammengefaßt: Im April 1778 bezog der 19jährige Clemens Brentano, der. einer wohlhabenden Frankfurter Kaufmannsfamilie entstammt, sich selbst als Kaufmann untauglich fühlte, die Universität Jena und trat in enge Fühlung zu dem roman tischen Kreis, was entscheidend für sein ferneres Lehen und Dichten werden sollte. Im Salon von Karoline Schlegel lernte er di: 28jährigc Sophie, die Gattin des Professors der Jurisprudenz Merean, kennen, Sie entstammte einer Beamtenfamilie zu Altenburg, halt: eine ausge zeichnete Erziehung erhalten und lvar selbst dickterisch hcrvorgetrcten. Lebhaft, graziös und anmutig, ward sie von Studenten umschwärmt, und einer ihrer feurigsten Anbeter sollte bald der leickt entzündliche Brentano werden, in dessen Adern ja italienisches Blut rollte. Die ianfte Schwermut der in ihrer Ehe nicht glücklichen Frau entflammte keine Liebe. Doch obwohl sich Sophie bald von Merean trennte, denn, bekannte sie, „alles kann und muß man ertragen im Gefühl des Guten, was man stiftet, nur nicht mit einem Menschen zu leben, den man nicht achten kann", sollte sich Brentano, trotz häufigeren Zusammentreffens mit der Geliebten (sie hatte Jena verlassens, doch noch lange nickt ihres dauernden Besitzes erfreuen dürfen. Erst 1801 wurde ihre Scheidung mit Merean ausgesprochen; 1808 endlich willigte sie ein, seine Gattin ;u werden. Das Werben um die Geliebte, ihre Weigerung, ihr end liches Bezwungensein und Ausbrechen in überströmende Zärtlichkeit: das ist vorwiegend der Jnha't dieses Briefwechsels, eines der farbenvollsten, phantasiefrischesten unh bilderreichsten d:r Romantik, aber auch eines der allerchersönlichstcn und intimsten, der fast ausschließlich nur das enthält, was zwei Liebende mit sich allein auszumachcn haben und was Dritte eigentlich nichts angeht. Inwieweit gcb^ uns dieser Briefwechsel aber an, möchten wir fragen, künstlerisch oder menschlich? Wenn Sophie einmal schreibt: „Ein Brief ist mir wie ein Roman", so dürfen wir erst recht die Gesamtheit dieser Briefe als einen der temperament vollsten Romane der Zeit genießen, diese Briefe mit ihrem Himmel- stürmenden, leidenschaftlichen Werben, ausgestachclt durch ewig wechseln des Abwehren und Gewähren. Endlich, nach jahrelangem Ringen mit sich selbst, wallt auch Sophiens Gefühl über und sie darf in ihr Tagebuch schreiben: „Vom Frühling 1802 volle Klarheit, Fried:», Religion, unzerstörbares Glück!" Welch ein echter Roman jener Zeit genialen Gefühlsüberschwangs, di: sich mehr in Worten als in Taten auslebte. Und doch noch viel echter als ein Roman, denn wo wäre der Dichter, der eine Gestalt wie diesen Clemens vor uns hinzuzaubern wüßte! Das vermochte nur er selbst in seinen wechselvolleu Stimmungen des gequälten oder beseligten Ver liebten, der sein Empfinden zügellos dahinstürmen läßt. Ist cs jener Brentano, von dem Haym schreibt: „Die Zudringlichkeit und der tolle Subjektivismus des jungen Brentano wurde schon den Freunden in Jena lästig, und beizeiten mußte Tieck gegen seine albernen Ueber- rreibungen, welche die ganze Schule zu kompromittieren drohten, Protest erheben." Es ist hier nicht unsere Aufgabe, Brentanos Verhältnis zur Rv- mantik festzustellen, das ja auch nicht das Zentrale dieser Briefe bildet. Der kühl kritische Blick kann allerdings aus ihnen „wohl auch Zudring lichkeit" und vor allem »tollen Subjektivismus" herauslescn, aber da neben so unendlich viel Innerliches, daß wir diesem genial veranlagten Jüngling nicht gram sein können. Verständlicher vielmehr wird uns, was die Gunderodt einmal von ihm schreibt: „Wer liebt den Clemens nicht? So wie er einem entgegentritt, wer durchschaut alle Menschen, wer geht so tief in dem Auffinden der Innerlichkeit, und was könnte man ihm sagen, was er nicht schärfer und wahrer aufgesaßt batte! Alle Menschen berührt kaum Fein Hauch und sie atmen, als wenn sic aufblühen wollten in edlere Begriffe und schönere Handlungen." In Brentanos Liebesgarten blühen io viel duftende, seltsam berückende Blumen, wie sie nur in der glühenden Phantasie eines Dichters ent sprießen können: wir sehen sie gleichsam sich öffnen und saugen ihren Duft ein. Alles quillt so unmittelbar aus diesem jugendlich leiden schaftlichen Herzen hervor, in so tausendfachen Varianten, in einem so blendenden, farbenreichen Stil, daß uns selbst der tollste Ucbcrschwang nie ermüdet. Sein fast knabenhaftes Betteln, seine tränenselige Ver zweiflung erscheinen uns wohl eines Mannes unwürdig, doch alles wird verklärt durch die echte Poesie des Herzens. Brentanos Bilderreich tum ist der des Südländers; schon neigt er zu katholischer Mystik, schon ahnen wir Krankhaftes, doch noch ist die reiche verheißungsvolle Jugend da. Blütenträume, die nicht reifen sollten, aber doch Blüten träume. Sein ganzes Wesen kreist um Sophie: „Sie ist der einzige lebendige Punkt meines Lebens and ohne sie ist das Leben von mir ge trennt." Nur in der Geliebten kann er Ruhe finden: er hat ihren vollen Wert erkannt als Zeines der wenigen, unendlich vortrefflichen Menschen, die aus dem drückendsten, verderbendstcn Unglück ein reines, unbefangenes, menscheuliebendes Gemüt hervorgebracht haben; wo alles Gute zu Grunde geht, bist Du dennoch in Dir gesund geblieben". Er fühlt, daß sein zu krankhaftem Umberirrlichtern neigendes Wesen dieses gesunden Elementes bedarf und sagt es ihr tausendfach, mit immer neuen bewundernden und bezwingenden Worten, mit schwärme- rischem Ueberschwang, doch stets so, daß wir es Mitempfinden können. Daneben erscheinen fpohl die Briefe Sophies etwas farbloser. Aber sie spielt die Rolle, die sie spielen muß, die ihr der Geliebte selbst zuweist; sie ist die Aeltere, bedeutend Reifere und durch das Leben viel fach Geprüfte. Clemens, der sich, wie ihm mit Recht zum Vorwurf ge macht wird, viel zu haltlos an andere anklammerte, verlangt geradezu von ihr, daß sie ihm Helferin werde, sein Leben nach seinen ihm an geborenen Neigungen zu leben, daß sie ihn zum romantischen Lebens künstler mache: „Ich fühle täglich deutlich, daß ich Nur im phan tastischsten, romantischsten Leben Rübe finden kann, und Du mußt mir dazu helfen!" Rührend verspricht er dafür: „Ich will ja nichts, als Dir Freude machen und alle meine Verbältnisse mit dem Leben rein erhalten", wobei er bekennt, daß all seine „Bizarrität", seine „scheinbar genialisch drapierte Unordnung" kein Glück für ibn ist: von Sophie er wartet er „Hilfe. Liebe und den wohltätiqsten, ordnendsien Einfluß" auf sein Leben. „Ich mnß zu Grunde gehen ohne Dick'" schreit er einmal auf; „schließe mich fest an Dein treues, reges, ewig junges Herz..., an Dir vorbei geht der Weg zur Hölle, -mit Drr ist überall der ewige Him mel". Hier baben wir den ganzen Brentano, dessen Haltlosigkeit und Willenlosigkeit dem Loben gegenüber Sophie Merean bald erkannte. Sie mahnt ihn: „Gebrauchen Sic die einfachsten natürlichen Mittel, den Dämon namenloser Unruhe zu verbannen, der in Ihnen, nicht außer Ihnen wohnt. Sie haben viel Talente; aber viel Talente ohne Willenskraft gleichen einem zarten, blütenbeladcnen Zweig ohne Stütze, den seine Zierde selbst nur tiefer herabzicht. Suchen Sie durch ein fache Beschäftigung, Arbeit, körperliche Anstrengung ruhiger zu werden, aber ernstlich und ausdauernd." Das ist Sophie Merean, — doch sic ist noch mehr: sie kann voll überströmender, hingehender Zärt lichkeit sein. Wurde diese Ebe glücklich? So glücklich, wie sic bei dem Sich- binden zweier Seelen, die ihrem wahren Wesen nach das Ungebundene liebten, nur sein konnte. Sie sollte aber nur von kurzer Dauer sein. Im August 1806 starb Sophie bei der Geburt eines dritten Kindes. Der Herausgeber teilt uns die erschütternde Schilderung Steigs von diesen letzten traurigen Vorgängen mit und schließt: „Clemens' Traum von Glück und Liebe war zu Ende; die mit Sophie verlebten Jahre waren wob! die glücklichsten seines Lebens." Sind nun diese Briefe für die Ocsfcntlichkcit geeignet? Die Ant wort dürste je nach dem Empfinden der Leser verschieden muren. Unseres Erachtens wird ihre Veröffentlichung gerechtfertigt einmal durch die beträchtliche zeitliche Distanz, die unS schon von den Schreiben- Ken trennt, und sodann durch den Einblick, den sic uns in das Herz der Menschen einer Zeit gewähren, die reich war an unbegrenzten Mög lichkeiten, die wir heute immer tiefer erforschen und immer bester Ver stehen möchten. Nicht zuletzt aber, weil sich uns hier zwei Menschen seelen erschließen, denen es gegeben war, für das „pwnw' cko I'amnnr", das ihnen verliehen, echte künstlerische Ausdrucksformen zu finden, die da? intim Persönliche emporheben in die reine Sphäre der Knnst. Der Kultur-Apostel. Von Dr. Georg Bicrmann sLeipzigs. Dicht vor nur auf meinem Schreibtisch steht eine kleine Bronze. Ich besitz: sie erst seit einigen Tagen. Sic ist das Wer! eines werdenden Genies, das noch im dunkeln schafft, unbeachtet von der großen Welt da draußen, die über Zukunft und Ruhm eines Künstlers entscheidet. Die kleine Bronze stammt aus der römischen Werkstatt eines deutschen Bildners, der noch das Glück völliger Einsamkeit genießt und jen: gol dene Freiheit des jungen unbekannten Meisters, der keinen anderen Ehr geiz kennt, als die Fülle der Gesichte in Marmor und Ton zu bannen und dem Schaffensdrang der Jugend seinen freien, ungestümen Lauf zu lassen — Beneidenswerter! Noch hat sich der Entdecker seiner Schwelle nicht genaht, noch ist ihm eine kurze Gnadenfrist bcschieden. Wie lange kann es bei solcher Summe von großen Talenten noch dauern, dann hört man den Namen meines unbekannten Freundes in München, in Berlin, in Wien; dann stellt man ihn aus, und der Traum der glück seligen Einsamkeit, in der der Werdende heute noch ganz sich und seiner Kunst lebt, ist zerronnen. Barbarisches Schicksal, dem keiner der Schaffenden entrinnen kann- Einmal ins Leben hinausgezerrt, trägt mein Bildner die Freiheit der Jugend zu Grabe. Doch von der Bronze wollte ich erzählen: Sie ist nicht wie andere Bronzen, im Gegenteil, sie ist ganz exzeptionell. Deshalb fiel sie mir auf, als ich sie zufällig vor Wochen in dem Atelier eines Künstler freundes sah, der sic mir eben jetzt verehrt hat. Ich geriet vor Staunen außer mir, als ich sie zuerst sah. Ich fand sie fabelhaft. Aber noch mehr, ich verliebte mich in sic und könnt: den Gedanken nicht los werden, daß es mein best^: Freund sein müsse, den diese Bronze darstellc. Jetzt, da sie vor mir steht und eben in diesem Augenblick ihre Augen auf mein Manuskript gerichtet hat, weiß ich, daß sie wirklich mein bester Freund ist. Nun bin ich nie mehr allein an meinem Schreibtisch, wenn die Mittcrnachtsstunde schlägt. Jetzt habe ich ein Visavis, zu dem ich reden kann, auf dessen Gesundheit ich trinken darf (es ist doch viel schöner, in Gesellschaft zu zechen, als allein!), der mir immer feinen auSgestreck- ten Zeigefinger hinhält, um mich vor allzu großem Ucbcrschwang der Gefühle zu warnen. Der alte Freund sitzt da mit seinem mächtigen Bart und seiner kahlen Glatze, mit dem beneidenswerte „Emdonpoint" halb zurückgestreckt in der einen Ecke seines geräumigen Sessels, dessen eine Lehne der linke, nackte, fleischige Arm umspannt und hält mir väterlich mahnend die Rechte mit ausgespreiztem Zeigefinger hin, jeden Moment, immer aufs neue. Er wird nie müde, es zu tun, und so oft ich von der Arbeit aufschaue, sehe ich den klugen ZeigZinger, sehe die kahle, hoch gewölbte Stirn und sehe das Geheimnis um diesen Mund- Ja, das ist es. Eden erst erschien er mir wie der alte Epikur, der das gute Leben kennt und mir, seinem Schüler, davon mitteiEn möchte. Jetzt sehe ich ihn ernster, fast wie Sokrates scheint er, der vom vielen Sitzen ein wenig Fett angesetzt hat. Ich kann dm Kerl nie ganz in seiner Eigenheit fassen, sein Geheimnis zerrinnt mir zwischen den Zeilen, wo ich es umschreiben möchte, aber ein K u l t u r a p o st c l bleibt er, jener Mann in Bronze, der immer, wenn ich ihm gegenüber sitz:, mein bester Freund ist. Er muß uns von seinem Leben erzählen, das inhaltsreich und wechselvoll war. Er hat Erfahrungen sammeln müssen; denn sonst wären ihm die Haare nicht ausgegangcn- Aber er hat dabei auch den Blick in die Zukunft bekommen, und das ist das Aus schlaggebende. Eben erst hat er mir erzählt, Saß die Well immer dieselbe bleibe, im innersten, tiefsten Kern ihres Wesens. Ich wollte protestieren, aber mein Freund wies mir nach, daß er recht haben müsse; denn die Seele der Menschen existiere von Urbeginn an. Was sich ändere, sei allein die Form, und die lüge immer. Hinter derselben aber stecke die Sehn sucht, die Freude und der Schmerz, aus denen zu gleichen Teilen das Leben gemacht sei. Die Sehnsucht sei uralt, wie die Jahrhunderte. Die Sehnsucht babc den Gang der Geschichte und die Entwicklung der Völker bestimmt, jetzt wie vor tausend Jahren- Die Sehnsucht hab: Kulturen geboren und vernichtet. Die Sehnsucht sei das unheimliche Gift, das beinahe unsichtbar in schmalen Fäden aus nie versiegender Quelle übn: den Erdkörper riesele. Dies süße und doch so gefährliche Gift sei über- all zu finden, auf den Thronen der Herrscher, wie im Haus: des Tage löhners, auf dem Schreibtisch der Dichter und Philosophen, wie in der Werkstatt des Künstlers. Er selbst sei in dem römischen Atelier aus der Sehnsucht geboren. Apostel, Märtyrer, Umstürzler und Verbrecher seien es ebenso; immer habe das Gift die Menschheit durchsetzt. Jahr- Hunderte und Jahrzehnte seien oft von einem einzigen Sebnsuchtsschrel erfüllt gewesen, und die Sehnsucht allein sei die Mutter großer Taten, sei die Kultur. Ich hielt beklommen ob solcher Rede den Atem an, indes mein Philosoph fortfuhr: „Blicke um dich in der Welt und gestehe, daß ich recht habe, tauche die Jahrhunderte hinab bis zu den Uranfängen ge schichtlichen Werdens, steige wieder hinauf, immer eine Stufe, die einem Jahrzehnte gleichbedeutend ist. Als ich noch in Griechenland zu Hause war, glaubten ich und meinesgleichen, dis Geheimnisse der Welt deuten zu können, nur weil uns die Sehnsucht nach dem Urgcheimnis dazu trieb. Als diese Welt zugrunde ging, stieg eine neue — keine bessere freilich — herauf. Sehnsüchte kämpften die Schlachten der Völker wanderung, Sehnsüchte bauten auf verwahrloster Erde Kirchen in gold schimmernder Pracht, Sehnsucht holte in der Kunst die Gottesmutter auf die Erde hinab, Sehnsucht war das Fatum von Kaisern und Väpsten. aus Sehnsucht heraus fand Kolumbus den Weg zur Neuen Welt und Rembrandt den Zauber seiner Malerei. Die Sehnsucht trieb selbst den Kopsen Napoleon über die Fluren Europas, und Sehnsucht allein ist auch das treibende Element in der Gegenwart. „Du lächelst ungläubig", fuhr er immer mit seinem ausgestreckten Zeigffinger dokumentierend und belehrend fort. „Glaube mir, alles, was ihr Kultur nennt — ein Begriff, über den sich keiner von euch recht eigentlich klar ist —, euer ganzes Wollen und Streben, eure geheimsten Wünsche und eure noch so schönen Errungenschaften, sie sind die Früchte, die ien:s so süße und gefährliche Gift gezeitigt Hal. Warum ich immerfort von diesem „Gifte" spreche? Weil es euch den Blick verdunkelt und in süß:n Taumel bannt, weil dieser Taumel der Gefühle euch nie klar den Wesenskern des ewig Seienden, Unwandelbaren — nennt es ruhig die „Seele der Welt", das, was konstant und wirklich ewig ist — zum Bewußtsein führt, weil es euch und die ganze Weltgeschichte belügt, und weil ihr nie erkennen werdet, daß im letzt:» Grunde die Welt stets dieselbe bleibt, daß sie heute noch so dasteht, wie vor tausend, vor hunderttausend Jahren, daß nur die äußere Form sich unter den Sehnsüchten der Zeit ändert, der Mensch aber immer nur Mensch bleiben kann, weil die Erde keine Götter besitzt. Wüßtet ihr alle das, was ich dir in dieser mitternächtlichen Stunde sage, die Menschheit wäre vielleicht um ihre Apostel ärmer, aber sie wurzelte tiefer und fester in der Kruste unseres Erdballs, der doch nur ein winziges Atom im Weltenmcerc ist, sie würde die Sehnsucht vielleicht sogar eines Tages bezwingen lernen und vielleicht auch an fangen, glücklich zu sein " „Und die Kultur, das, für das wir leben, schaffen und sterben", fiel ich ein, weil ich merkte, daß der Alte mir gegenüber schwieg. — Kein Wort kam zurück, batte er cs mir vielleicht doch schon getagt? Mir ;chien's, als hätte sich der müde Kahlkopf meines Freundes, als ich fragte, tiefer ans die Brust herabgesenkt. Sollte das die Antwort sein? - Tie Deutsche Vühuensrnofscnschaft für Hermann Nissen. Au- Berlin wird uns gemeldet: Die Lokalvrrbände der „Deutschen Bühnengeuossen- schaft" hoben eine Kundgebung sür Hermann Riffen beschlossen. Es heißt darin: „In der Tagung des Bühnenvereins in Düffeldorf sind nach den vor liegenden Berichten gegen das Präsidium der Genossenschaft, speziell unseren ersten Präsidenten Herrn Hermann Nissen, Angriffe erhoben worden, die wir als durchaus unberechtigt und unbegründet zurnckweisen. Unser Präsident genießt nach wie vor unser vollstes Vertrauen, ja heute mehr denn je. Wir find nicht ermächtigt, im Namen der Genossenschaft zu sprechen, halten es aber Ichon heute für unsere Pflicht, diese Erklärung der Oeffentlichkeit zu unter breiten." * Tie 100-Jahrfeier Ser Münchner Akademie. Aus München wird depeschiert: Die Akademie der Bildenden Künüe feiert heute ihr lOOjähriges Bestehen. Ans vielem Anlaß verlieh der Prinzregent der Akademie die Eigen schaft einer Hochschule. Außerdem erhielten eine Reihe Akademieprofessoren Auszeichnungen, darunter die Professoren Deiregger und Hildebrand Las Groß- kointurkreuz des Bayerischen Kronenordens. Dem Festakt, welcher vormittags im Odeon stattsand, wohnten der Prinzregent und sämtliche Mitglieder des Königshauses bei. Aladcmiedirckivc v. Miller hielt hierbei eine Ansprache, welche mit einer begeistert ausgenommen«:» Huldigung für Leu Prinzregenten schloß. Professor Sveler hielt die Festrede über Lie Geschichte der Akademie, an die sich eine Huldigung vor der Büste des Gründers der Akademie, des Königs Max Joseph I., schloß. Am Schluß dec Feier gab der Prinzregent seiner Freude über die glänzende Entwickelung dec Akademie Ausdruck nnd wünschte -hr fernerhin ein blühendes Gedeihen. * Zwei Epigramme des Freiherr» vom Stein. Nach der sür Preußen so unglücklichen Schlackt bei Jena am 11. Oktober 180(1 mußte, wie so viele Stanoesgcnossen, auch der Freiherr vom Stein schleunigst das Land verlassen, um nicht dem erbitterten Korsen in die Häwdc zu fallen. Neber Lübeck gedachte er sich nach Rußland zu begeben, und wir finden den großen Staatsmann an einem stürmischen Spätberbsttage auf der Land straße zwischen Mölln und Natzeburg einem einfachen Gutshof zu- schrciten, um, vom Regen durchnäßt, dort ein Nachtquartier zu erbitten' Der Besitzer — die kleine Geschichte ist von Nachkommen dieses Mannes verbürgt — nahm den Unbekannten aus Mitleid auf, und nach dem ein fachen Abewdimbiß kam auch die Rede auf die schweren Zeiten. Bei diesem Gespräch fielen wohl dem schlichten Landmann die verständigen und ernsten Worte des Gastes auf, aber aus Höflichkeit fragte er den Fremden über seine Person nicht aus. Und dieser selbst war auch stets bestrebt, das Gespräch von sich abzulcnken. Spät erst, nach langem Debattieren, suchte man das Nachtlager auf. Am andern Morgen, schon sehr früh, machte sich der fremde Wanderer nach herzlichen Dankes- Worten wieder auf den Weg — ohne seinen Namen zu nennen. Und der Gutsbesitzer hätte wohl nie erfahren, wen er in dieser Nacht beherbergt, wenn cs nicht ein Zufall verraten hätte. Das Zimmer, in welchem dcr Fremde während seines Aufenthaltes gewohnt hatte, wurde kurze Zeit nach dem erzählten Vorfall gereinigt. Neben anderen Bildern schmückten di« Porträts Navoleons des Ersten und des Erzherzogs Karl von Oesterreich die Wände. Als sic geiänbert wurden, entdeckte man aut ihren Rückseiten folgende, mit Bleistift geschriebene Strophen. Hinter Napoleons Bildnis stand: „Als Du geboren wardst, Der größte aller Geister, Trat Satanas zurück Und sprach: „Du bist mein Meister"." Hinter dem Bilde Karls von Oesterreich aber las mau: „Auf Dir ruht jedes Deutschen Blick. Gott sei mit Dir nnd geb' Dir Glück, Daß Tn die Hunde treibst zurück!" Unter beiden Strophen stand dcr Namenszug eines allgefeiertcn Mannes, eines dcr größten Staatsmänner und Vaterlandsfrcundc jener Tage — des Freihernr vom Stein. * Zur Sittengeschichte der Mark Brandenburg im 16. Jahrhundert liefert folgender, in dem Archiv des Brandenburger Domkapitels aus bewahrter Revers eine treffliche Illustration: „Ich, Andreas Röbcl. bekenne vor jedem männiglich. Nachdem der Durch!, hockigcb. Churfürst und Herr, Herr Johannes George, Markgraf und Cbursürst zu Bran denburg, mein gnädigster Chursürst und Herr, auf mein unterthänigcs Ansuchen mir das Canonicat zu Havelberg vermöge meiner von Sr. Churs. Gnaden darüber habenden Bcgnadigungs-Vcrschrcibnng aus Gnaden bewilligt und verschrieben, und Sr. Churs. Gnaden auch daneben gegen diesen vorstehenden Fürstl. ehelichen Beilager ein Ehrenkleid, wie Sr. Chnrf. Gnaden Junkern geben lassen, gnädigst versprochen und zu gesagt, als verpflichte ich mich dagegen hiermit ausdrücklich, daß Sr. Churs. Gnaden meines Barts zusammt Grund nnd Bodens mächtig scyn soll, desgleichen will ick mich des Volliaufcns enthalten, und auf jeder Mahlzeit mit zween ziemlichen Bechern Riers nnd Weins die Mahlzeit schließen. Im Fall ich aber ohne Ihr. Churf. Gnaden Erlaubniß dieses übertreten und ich trunken funden werde, als soll und will ich mich, so bald ich gefordert werde, in der Küchen einstellen und mit 40 Streichen weniger einem, inmaßcn dem heil. Paulo geschehen, von denen, so Ihre Churf. Gnaden dazu verordnen werden, mit dcr Ruthe geben lassen. Da ich mich aber in obbcriihrten und angclobten Puncten nicht aufrichtig und wie ich angelobt, verhalten würde, alsdann soll meine habende Ver schreibung über das Canonicat zu Havelberg nichtig und kraftlos sevn. — Solches Alles getreulich und ungefehrtig und als einen Ehr licken von Adel gebührt, vestiglich zu halten und zu erfolgen, gelobe ick anbei meinen adligen Ehren nnd Glauben und habe des zur Urkunde auch steten und festen Haltung, diele meine Obligation und Verpflich tung, in Mangeluna meines Petschaftes, mit eigen Händen unter schrieben. Actum Cüstrin. d. 26. Januarii 1'77. Andreas Röbel." * „Der Holzbau" ist ein sür den Schulgebranch und die Baupraxis bearbeitetes Werk (mit Textabbildungen und Tafeln von Prof. A. Opderbecke, Direktor drr König!. Gewerbeschule in Thorn), A. Hari- lebens Verlag in Wien und Leipzig. Wenn der durch viele Veröffent lichungen aus den Gebieten des Hochbaues bekannte Verfasser sich ver anlaßt gesehen hat, die reichhaltige Literatur über den Holzbau noch zu vermehren, so geschah dies wohl in der Erkenntnis, daß die meisten, diesen Stoff behandelnden Werke eine Menge veralteter Konstruktionen anfwciscn, die als wertlose Künsteleien und deshalb als überflüssiger Ballast anzusehen und besser ausgeschaltct bleiben, dann aber auch, weil in den älteren Werken di: formale Ausbildung der neuzeitlichen uns gesunden Bestrebungen in der Holzbaukunst nicht gerecht^ wird. Dcr Inhalt erstreckt sich auf die Bauarbeiten, welche den einschlägigen Hand- werkcrn, den Zimmerleuten und Bautischlern, zufallen un behandelt dem zufolge die gebräuchlichsten Verbindnngswciscn der Hölzer, deren >ku- sammensetzung und Formcngebnng für Wände, Balkenlagen, Dächer, Gerüste, Hallen, Veranden, Tachgängen, Türen, Fenster und Treppen- Als besonders wertvoll für den Praktiker dürfte hervorzuheben sein, daß allen Illustrationen entweder Maßstäbe beigcgeben sind oder, wo diese fehlen, die hauptsächlichsten Maßzahlen in die Figuren einge tragen sind. * Hochschttlnachrichteii. Am 14. d. M. wird sich in Marburg Tr. A. Rühl an der philoiovhiichen Fakultät habilitieren. — Dr. I. Petersen wurde als Privatdozent für deutsche Philologie an der Universität München zugelassen. — In Straßburg feiert beute der ordentliche Professor sür anorganische, analytische nnd technische Chemie Dr. Friedrich Rose seinen 70. Geburtstag. — Der außerordentliche Professor an der BreSlauer evan gelischen theologischen Fakultät Dr. theol. et Phil. Max Loehn ist als Ordinarius für alttestamentliche Geschichte nach Königsberg berufen worden. — Eine reiche Zuwendung machte, wie uns aus Jena geschrieben wird, das be- kannte Karl Zeißwerk der Lorti.ien Universität. Unter anderem erhielten das zoologische und pathologische Institut 20 Mikroskope als Geschenk überwiesen, die einen Gesamtwert von mehreren tausend Mark darstelleu. — Aus München wird gemeldet: Der Kinderarzt, Geheimer Hofrat Professor Dr. v. Ranke, ist hier im Alter von 79 Jahren gestorben. * Musikchronik. AnS Anlaß der 100. Wiederkehr von Haydn» Todestag (31.Mast wird die Wiener Hofover einen interessanten Einakterabend veran stalten. Neben PergoleseS „Serva padrona" (Die Magd als Herrin) sollen Haydn- kleine Opern „Die wüste Insel" und „Der Apotheker" gegeben werden. Für diese Opern, die in allererster Besetzung in Szene geben, wird eine besondere Bühne auf der Hofoper errichtet, eine „Josef-Haydn-Bübne", die ganz den Charakter der Zeit tragen wird, in der die Opern entstanden sind. Der Hostheatermoler Brioicki. in dessen Händen die Vorbereitungen liegen, wählte al» Modell dafür da» Esterbazysche HanSlheater, die Bühne de» Schlöffe» dr» Grafen Esterhazy, bei dem Haydn als Kapellmeister tätig war. Da» ganze szenische Arrangement ist in Rokoko gehalten, aber alle» der Mode jener Zeit entsprechend. Nicht etwa kaschierte Möbel, sondern alles aus Leinwand gemalt; selbst der Ofen, so wie es damals geschah, und selbst die Wellen auf der „Wüsten Insel" werden nur auf Leinwand zu sehen sein. Hosoperndirektor Weingartner wird persönlich bei der Zentenarfeier am Diriqentenpnlt walten. " Kleine Chronik. Die "sie Vorstellung im Münchner Künstler theater durch da» Ensemble des Berliner Deutschen Theater- unter Leitung Max Reinhardt» findet am 18. Juni statt. Man wird mit „Hamlet" die Lorstellongeu eröffnen.
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