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Kolonisation und Auswanderung. Es ist gar kein Zweifel darein zu setzen, daß der Erwerb einer ausgedehnten und wirthschastlich leistungsfähigen Kolonie zu einer Besserung unserer durch die Krisis so herabgekommenen Zustände beitragen könnte. Es ließe sich eine staatliche Fürsorge errichten, durch welche die Auswanderermassen, die heute in überseeischen Ländern für ihre alte Heimat fast völlig verloren gehen und unter den andern Nationalitäten verschwinden, ihrem Vater- lande erhalten bleiben würden. Ohne besondere Mühe ließe sich da für sorgen, daß in dem Koloniallande bei dessen Besiedelung die dahin ausgewanderten Volksgenossen Arbeit und Verdienst, billigen Grund und Boden zur Bewirthschaftung, mit einem Wort, die Mittel zu ihrem Fortkommen fänden. Aus den Wechselbeziehungen der Kolonie zum Mutterlande könnte dann insofern ein verhältnißmäßiger Aufschwung unserer gedrückten Verhältnisse erfolgen, als die Kolonie, die natürlich eine mit natürlichen Schätzen reichgesegnete und fruchtbare sein müßte, dem Mutterlande einen ausgedehnten Import billiger überseeischer Waaren zuwenden könnte, bei dem der Zollkrieg ausgeschlossen sein könnte und würde, während umgekehrt die Kolonie wieder beim Auf blühen für das Mutterland das Absatzgebiet zu einem tüchtigen und umfangreichen Export würde. So könnte mindestens erreicht werden, daß einmal die mit der Auswanderung abfließenden Arbeitskräfte und Kapitalien der alten Heimat nicht verloren gingen und daß für all die gezwungen feiernden Hände wieder Arbeit geschafft würde, wenn die heimische Industrie neue Absatzfelder fände. — Leider wird die Sache nicht in allen Kreisen, die sich mit der Kolvnialfrage befassen, mit Bezug auf die aus einer solchen Erwerbung entspringenden wirth- schaftlichen Vortheile aufgefaßt. Die Interessengruppen, in welche die Bevölkerung in neuerer Zeit zerrissen worden ist, wollen jede ihr Spe zialinteresse mit der neuen Kolonie gedeckt wissen, gerade wie beim Zolltarif einige und sogar ganz untergeordnete Industriezweige sich gebärdeten, als sei der Zolltarif nur ihretwegen allein geschaffen. In gewissen Kreisen ist man sogar so liebenswürdig, von der Kolonial frage nur insofern Notiz zu nehmen, als es sich um „Strafkolonien" und um die Gelegenheit handelt, unbequeme und unliebsame Elemente, auch politische, außer Landes zu schassen und unschädlich zu machen. Selbstverständlich handelt es sich für uns nicht um solche Forderungen, die bei gewissen reaktionären Projekten oftmals laut werden. Wir erachten es selbstverständlich für die erste Pflicht der Volksvertretung, es zu verhindern, daß eine neu zu erwerbende Kolonie zu solchen Zwecken benutzt werde. Lieber gar keine Kolonie, als eine mit solchen Nebenzwecken verbundene. Eine Entscheidung eines baierischen Gerichtes macht jetzt in wei testen Kreisen Aufsehen. Wie überall, so forderten auch bisher die katholischen Geistlichen in der baierischen Pfalz vor Einsegnung einer gemischte» Ehe von dem nicht katholischen Theile das schriftliche Ver sprechen, die Kinder in der katholischen Religion erziehen zu lassen. Lange Zeit galten solche schriftliche Abmachungen als rechtsgiltige Ver träge. Jetzt hat aber der Verwaltungsgerichtshof in München ent schieden, daß sie nicht rechtsgiltig seien; sie gehörten ihrer Natur nach zu den Eheverträgen und da deren Giltigkeit davon abhänge, daß sie vor einem Notar abgeschlossen seien (was bei den Reserven der katho lischen Pfarrämter nicht der Fall), so wüßten diese als hinfällig an gesehen werden. Gerechtes Aufsehen erregt ein Artikel des „Golos" vom 7. sowohl in militärischen als politischen Kreisen. Das Blatt führt aus, daß das 5. und 6. deutsche Armeekorps bei ihren schlesischen Manöver» gegen einen supponirten Feind, welcher, von Norden kommend und an den Küsten des Baltischen Meeres landend, einen Einbruch in Deutsch land versucht, gerichtet gewesen seien und folgert hieraus, allerdings ziemlich verblümt, diese Manöver seien die Vorbereitungsschule im Falle der Möglichkeit eines Krieges mit Rußland gewesen. „Golos" erwähnt^ noch des Umstandes, daß bisher alle Manöver der deutschen Armee gegen Frankreich wären und argumentirt daraus, daß sich Deutschland zielbewußt zu einem Kriege gegen Rußland vorbereite; Rußland müsse sich deshalb vorsehen. Diese Sprache ist um so auf fälliger, als „Golos" im Gegensätze zu den russisch-nationalen Orga nen bisher einer friedliebenden Sprache bedient hat. — Gleichzeitig kommt die Nachricht, daß die Festung ersten Ranges Brestlitewsk, die durch eine unlängst erbaute Militärbah» von Pinsk nach Minsk mit ersterem Orte in direkte Verbindung gebracht worden ist, neuerdings stark befestigt worden ist. Der Prager Bürgermeister, Dr. Czerny, hat einen Konflikt mit der deutschen Bevölkerung der böhmischen Hauptstadt hervorgerufen. Die deutschen Stadtverordneten und die deutsche Bevölkerung fühlen sich dadurch verletzt, daß der Bürgermeister in seiner am Sonntag bei Antritt seines Amtes gehaltenen Ansprache an den Statthalter Baron Kraus sich fast ausschließlich der tschechischen Sprache bediente und überdies Prag als slavische Stadt feierte. Der Bürgermeister setzte hierbei mit großer Kühnheit über die Statistik hinweg, welche in Prag eine zahlreiche deutsche Bevölkerung aufweist, deren Stellung, Reich thum und Intelligenz sie vor der Jgnorirung durch den Herrn Bür germeister schützen sollte. Bei diesem Mangel an Rücksicht für die deutschen Mitbürger wird es den Bürgermeister nicht Wunder nehmen, wenn hie versöhnlichen Schlußworte des Bürgermeisters und seine Aufforderung an die Deutschen, in Frieden und Eintracht an der ge meinsamen Kulturarbeit mitzuwirken, nicht jenen Widerhall finden sollten, der ihnen im Interesse der Stadt gewiß zu wünschen wäre. Kommt doch bereits die Nachricht, daß die wenigen deutschen Mit glieder der Prager Stadtverordnetenversammlung ihren Austritt er klären wollen. Wer keinen Frieden in seiner Brust trägt, findet ihn nirgends. Kaiserin Eugenie wird von Unruhe rastlos in England, Frankreich, Deutschland, Afrika re. umhergetrieben; es ist, als ob sie die Strafe für ihren furchtbar blutigen „kleinen Krieg" abbüßen müßte. England hat ihr ein stilles Asyl geboten; sie zog aber auch drüben von Ort zu Ort, und seitdem die Engländer den schwarzen König Cetewajo, dessen Krieger ihren Sohn erschlagen, gleichsam unter ihren Augen begafft und gefeiert haben, feitdem hat sie die Engländer satt und hat sich das Schloß Wasserberg in Steiermark für 60,000 Pfd. St. gekauft um dort ein Absteigequartier zu haben. Der internationale Friedensbund in London hat die Mitglieder sämmtlicher europäischer Gesetzgebungsräthe, sowie die Bürgermeister großer Städte eingeladen zu einer Versammlung nach Brüssel auf den 17., 18. und 19. Oktober zur Berathuiig über die Mittel zur Ver minderung der stehenden Heere durch gleichzeitige Abrüstung in allen europäischen Staaten und zur Anbahnung eines Schiedsgerichts unter den Völkern, um künftig die Streitigkeiten durch schiedsrichterliche Recht sprechung statt auf dem Wege der Gewalt beizulegen. — Das Ziel des Bundes ist wunderschön und aller Anstrengungen werth, aber vor läufig und für lange Zeit fehlt der Glaube, daß die Welt des Frie dens genießen werde. Die Leidenschaften und entgegenstehenden In teressen sind zu mächtig. Man denke nur an den verblüffenden Aus spruch des alten Moltke. In hohem Grade bemerkenswerth gegenüber dem Siegesräusche der in England über den glatten militärischen Erfolg in Egypten herrsche, ist die Rede, die Northcote in einer große» Versammlung der Konservativen in Glasgow hielt und in welcher er den Krieg in Egypten als unnöthig, folglich als ungerechtfertigt bezeichnete. Der Krieg wäre vermieden worden, wenn die Regierung bei Zeiten Festig keit und Entschlossenheit entfaltet hätte. Die Lösung der egyptischen Frage werde große Schwierigkeiten bereiten. — Der bekannte Reise unternehmer Karl Stangen äußert sich in einem die egyptische Frage betreffenden Briefe an die Post: Wie ich in einer kleine», im vorigen Monat erschienenen, leider etwas flüchtig gearbeiten Brochüre nachzu weisen versucht habe, sind lediglich die ini Orient lebenden Christen und besonders die Engländer an dem Hasse schuld, den die Mnhame- daner gegen die Christen und resp. gegen die Engländer hegen. Wer Egypten genau kennt, weiß, daß die Eingeborenen äußerst harmloser Natur sind, allein ihre Menschenrechte sind von den Europäern mit Füßen getreten worden und man hat diese Leute wie Hunde behandelt. Wie strenge es in England mit dem Buchstaben des Gesetzes ge nommen wird, beweist nachstehender Fall. In Sontrefrakt (Aorkshire) wurde ein junges Mädchen, die Tochter des berüchtigsten Walddiebes der Umgegend, bei der Wildieberei auf der That ertappt und dem Polizeirichter vorgeführt. Dieser aber sprach das Mädchen auf An trag des Vectheidigers frei, weil das Gesetz ausdrücklich nur von Wild dieben männlichen Geschlechts spreche und es darnach keine Anwendung vuf weibliche Personen finden könne. Bis zur Abänderung des betr. Gesetzes können in England Frauen jetzt ungestraft der Wilddieberei obliegen. London, 9. Oktober. General Aldana, der Präsident von Ko- lumbia, und sein Sekretär wurden ermordet. — Räuber nahmen den italienischen Konsul gefangen. Vaterländische-. Wilsdruff. Am letzten Sonntag wurde vom Herrn Superin tendenten Dr. Kunze in unserer Gemeinde Kirchenvisitation abgehalten. Nach der Predigt von Herrn Pastor Dr. Wahl über Hebr. 10, 38 bis 11, 6, in welcher derselbe sich das Wort zum Thema genommen hatte: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben", und auf Grund desselben betrachtete: 1. den Glauben, ohne den es unmöglich ist Gott gefallen, 2. die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt und 3. das Leben, das aus der Gerechtigkeit und dem Glauben stammt, hielt der Herr Ephorus vom Altar aus eine erbauliche, von Herzen kommende und zu Herzen gehende Ansprache an die Gemeinde über 1. Kor. 15, 58: Liebe Brüder, seid fest und unbeweglich und nehmet immer zu in dem Worte des Herrn; sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht ver- geblich ist in dem Herrn. Nach dem Gottesdienste fand eine Bespre chung mit hiesigen Hausvätern im Schulsaale statt, in welcher nament lich darüber verhandelt wurde, wie der Kirchenbesuch zu heben, die konfirmirte Jugend zu den Katechismusunterredungen anzuhalten, die Kommunikantenzahl zu mehren und das kirchlich und sittlich-religiöse Leben der Gemeinde überhaupt zu fördern sei. Nachmittags wurde mit der konfirmirte» Juge»d Katechismusunterredung durch Herrn P. Dr. Wahl, für welche» später Herr Superintendent Dr. Kunze eintrat, abgehalteu, um 3 Uhr aber versammelten sich die hiesigen Herren Lehrer in der Pfarre, damit der Herr Ephorus als Oberinspektor des Religionsunterrichtes mit ihnen über den Stand desselben Rücksprache nehme. — Gewiß haben Geistlicher wie Gemeinde aus der Visitation das Gefühl mit herausgenommen: wie sehr es unserm Herrn Ephorns am Herzen liegt, das kirchliche und religiöse Leben unserer Gemeinde wachsen zu sehen. Möge Gott dazu seinen Segen geben. — Am Sonntag vor 8 Tagen feierte der Wilsdruffer Zweig verein der Gustav-Adolf-Stiftung zu Naustadt sein Jahresfest. Die Kirche war reichgefchmückt und wohl besucht. Die Predigt halte Herr- Pastor Dr. Ackermann aus St. Afra in Meißen übernommen, welcher auf Grund von Eph. 4, 3—6 ausführte: Unsere Theilnahme am Liebeswerke des Gustav-Adolf-Vereins 1. eine Glaubensthat, 2. ein Liebesopfer, 3. ein Hoffnungszeugniß; den Bericht erstattete Herr P. Dr. Schönberg aus Weistropp; die nach dem Gottesdienste gesammelte Kollekte, welche für Agram bestimmt ist, ergab 112 Mark. — Aus Meißen wird unterm 10. Oktober geschrieben: Die Manöverschäden, welche während der diesjährigen großen Herbst manöver der sächsischen Truppen auf den Feldern und Fluren der dies seitigen königlichen Amtshauptmannschaft angerichtet und während der letztvergangenen Wochen durch eine zu diesem Zweck niedergesetzte, aus Militärs und Verwaltungsbeamten bestehende Commission an Ort und Stelle taxirt worden sind, sollen sich gutem Vernehmen nach auf circa 10,000 Mk. belaufen. Diese Summe erscheint mit Rücksicht auf die Dauer und Ausdehnung der Uebungen keineswegs allzu hoch. — Nachrichten von dem frühen Hereinbrechen des Winters laufen aus den verschiedensten Gegenden ein. So ist im Riesengebirge bereits wiederholt Schnee gefallen, und selbst in den Straßen von Hirschberg hat man schon kleine Flocken bemerkt, die freilich sogleich wieder geschmolzen sind. Schlimm lauten aber die Berichte ans der Schweiz. In Graubündten, Uri, Berner-Oberland und OberwalliS liegt der Schnee in den oberen Lagen 1—2 Meter hoch. Die Straße zwischen Andermatt und Göschenen soll während des letzten Winters nie in der Weise von Lawinen überschüttet worden sein wie in den letzten Tagen. Die Wälder haben ungeheuer gelitten und Tausende von Bäumen sind unter der Last des Schnees gebrochen. — In Weesenstein sind unter den dortigen Schulkindern die Masern in bedeutendem Maße zum Ausbruch gekommen. Fast jedes Haus enthält ein krankes Kind. — Leipzig. Am 1. Oktober waren es 3 Jahre, seit im König reich Sachsen das Institut der Friedensrichter eingeführt worden ist. Welche umfangreiche Thätigkeit mit einem solchen Ehrenamte ver knüpft ist, möge sich u. A. aus der Mittheilung ergeben, daß einer der hiesigen Friedensrichter in diesen 3 Jahren 713 Termine anberaumt gehabt; von diesen konnten nur 554 wirklich abgehalten werden, während 159 — meist wegen Fehlens der einen oder der anderen Partei — wegfielen. Bei diesen wirklich abgehalteoen 554 Terminen wurden in 337 Fällen die Parteien geeinigt, wogegen in 217 Verhandlungen eine Einigung zu erzielen war. Leipzig ist in 5 friedensrichterliche Bezirke eingetheilt und man kann demnach obige Zahl mit 5 multiplizieren, um sich ein ohngefähres Bild von dem Wirken des Institutes der Friedensrichter zu machen. Es wird den königlichen Amtsgerichten sicherlich ein großes Stück Arbeit damit abgenommen. Kirchennachrichten aus Wilsdruff. Am 19. Sonntag nach Trin. vormittags predigt k. vr. W»U1. Nachmittags 1 Uhr «Kinderg»tte--ienst.