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zur kein die wir Hoch gestiegen. Erzählung von Ludwig Habicht. (Fortsetzung und Schluß.) Als wir in unserm Zelte angekommen waren, umarmte uns Direktorin vor Freude. „Fritz," sagte mein Bruder lachend, als allein waren, „ehe uns Madame noch einmal ihre feuerrothe» Arme öffnet, fall ich lieber vom Seil." — Er that der guten Frau Unrecht. Sie behandelte uns seit unserm großen Erfolge wie ihre Kinder und wir hatten bei ihr keine Noth. Unser Ehrgeiz ließ uns aber bei diesen Leistungen nicht stehen bleiben. Wir versuchten mehr. — Karl kam von unten, ich von oben, und auf der Mitte des Seiles, sprang ich über ihn weg. Ich hatte ja dies zu Hause aus unsern kleinen Trapez sehr ost geübt. Jetzt konnte sich die Direktorin schon in den größten Städten mit uns sehen lassen. Wir erregten überall Aufsehen. Einige Monate blieben wir bei der braven Frau; aber ein Franzose machte uns so glänzende Anerbietungen, daß wir nicht zu widerstehen vermochten und uns für eine Kunstreise nach England anwerben ließen. Der Mann hatte uns in Brüssel arbeiten sehen und sogleich unser Talent und unsere Verwegenheit erkannt. Wir schraken vor dem Schwierigsten nicht mehr zurück. Mit verbun denen Augen bestiegen wir das Seil, es mochte noch so hoch befestigt fein, wir nahmen kleine Drehorgeln mit und spielten unterwegs herz haft darauflos. Genug, wir erregten in Englund überall das größte Aufsehen und die größte Bewunderung. Nun ging es nach Frankreich „Karl," rief ich bestürzt, „was ist Dir ? War die Briefschreiberin noch älter und häßlicher, als Du gefürchtet, daß Du gar so traurig von ihr zurückkommst? Alter Junge! Laß den Kopf nicht sinken! Frankreich ist auch noch reich an schönen jungen Mädchen." — Da sprang Karl hastig auf, warf sich mir an den Hals und rief mit thränen- erstickter Stimme: „Nein, so schön giebt es keine auf der ganzen Welt! O Fritz, sie ist ein Engel! und ich bin wahnsinnig in sie verliebt!—" Er sprang voll Begeisterung, auf den Händen, wie toll im Zimmer herum. „Ach, aber nun höre auf mit Deinen Späßen und rede endlich vernünftig," ermahnte ich. „Sie war grauenhaft nicht wahr?" „Lästere nicht, sonst bist Du mein Bruder gewesen!" rief er zor nig und sprang wieder auf die Beine. „Ich sage Dir in allem Ernst, Eugenie ist das bildschönste Mädchen, das ich in meinem Leben ge sehen. Ich verlor bei ihrem Anblick beinah die Besinnung. Ach und wie lieb und gut war sie! Wie verstand sie zu schmeicheln und mir meine Einwilligung abzulocken! Fritz, ich entsage von heut ab unserer Kunst, denn ich werde Eugenie heirathen ..." Nun merkte ich, daß mein Bruder wirklich keinen Scherz trieb. Mir war's, als sollte mich bei seinen Worten der Schlag rühren. Ich vermochte vor Bestürzung kein Wort hervorzubringen, denn es begann mir vor den Augen zu wirbeln. Karl entsagte seiner Kunst! Dann mußte ich es auch! — Und das Alles geschah wegen eines ganz überspannten, wenn auch hübschen Frauenzimmers! „Fritz, laß den Kopf nicht hängen!" tröstete mein Bruder: „Du hast es ja in unserer Kunst so weit gebracht, Du kannst allein ganz gut weiter arbeiten." „Und Du kannst so rasch Deiner Kunst entsagen, die uns von Jugend auf so glücklich gemacht hat?" fragte ich vorwurfsvoll. „Ach, Du hättest es auch gethan, wenn Du zu Eugenie gekom men wärst," entgegnete er ein wenig kleinlaut. „Du glaubst nicht, wie wunderschön sie ist und wie liebenswürdig sie war, um mir meine Einwilligung abzuschmeicheln. Es ist Alles zwischen uns abgemacht. Sie heirathet mich in vierzehn Tagen, wenn ich nicht mehr mit dem Ballon in die Höhe steige und mein halsbrecherisches Gewerbe auf- gebe. Wenn Du sie siehst, Fritz, dann wirst Du Alles begreifen." „Ich will sie nicht sehen, niemals!" sagte ich mit beinahe kin dischem Trotz, und all' das vernünftige und freundliche Zureden mei nes Bruders war vergebens. Als ich sah, daß Karl wirklich von der Sirene auf immer gefangen worden, verließ ich grollend Paris, um in die Provinz zu gehen und meinen Schmerz über den Verlust des geliebten Bruders durch noch tollere und verwegenere Künste zu be graben. Es war vergebens — und merkwürdig genug — seitdem Karl nicht mehr an meiner Seite war, fühlte ich mich wie gelähmt, feine guten, ehrlichen Augen, die in den gefährlichsten Momenten so zurück; auch dort war zuerst die Begeisterung allgemein, man halte selche Tollkühnheit noch nie gesehen. Wir spielten mit der furchtbarsten Gefahr; aber die Franzosen wollen immer etwas Neues sehen, bald merkte unser Direktor, daß wir nicht mehr recht zogen, auch wir ge wahrten selber, daß wir nicht mehr mit demselben stürmischen Beifall empfangen wurden, wie zuerst, und, glauben Sie mir, das ist für jeden ehrgeizigen Künstler ein Stich ins Herz," setzte der alte Herr hinzu, der immer eifriger weiter erzählte: „Der Direktor hatte einen Luftballon erworben, um damit das Publikum anzulocken; aber auch damit erzielte er keine Wirkung, denn in Frankreich ist ein steigender Luftballon etwas alltägliches, und so kamen wir auf eine Idee. — Wir ließen ein Seil unterhalb des kleinen Schiffleins anbringen und der Direktor kündete auf Riesenzetteln an, daß wir während der Ausfahrt des Ballons auf diesem Trapez unsere Künste treiben und so in die Höhe steigen würden. Das zog. Zu Tausenden strömten die Leute herbei. Der Ballon wurde gefüllt, das Ungeheuer begann sich immer mehr aufzublähen, Wir standen auf einem hohen Seile und als nun das Schlfflein des Ballons in unsere Nähe kam, schwangen ivir uns hinüber und ergrif fen das Trapez. — Da hätten Sie die Franzosen sehen sollen! — Der Beifallssturm wollte kein Ende nehmen, während wir ruhig an unserm Seile schwebten und im nächsten Augenblicke oben standen, und, während der Ballon immer höher stieg, auf unserm Trapez so lange Kunststücke ausübten, bis wir den guten Leuten aus dem Gesicht ver schwunden waren, deren Jubel nnd Bravo immer noch zu uns herauf klang. Nun kletterten wir an dem aus dem Boote herunterhängenden Seile hinauf. Das war freilich eine sehr mühselige und gefährliche Geschichte, denn wir mußten genau von beiden Seiten, diejelbe Richt ung innehalten, wollten wir nicht das Boot in die gefährlichsten Schwank ungen bringen. Aber wir hatten das Alles sorgfältig einstuüirt und uns genau abgewogen, und bald saßen wir in dem kleinen Schifflein und waren geborgen. In der Nacht stiege» wir mit dem Ballon wieder herab und gelangten glücklich zur Erde. Dies Kunststück war noch nicht dagewesen, etwas ganz Neues, und die Kasse des Direktor zog davon den größten Nutzen; aber ich muß gestehen, der Mann war nobel, ein echter Franzoje, wir bekamen für unser tollkühnes Kunststück eine ganz bedeutende Gage, wir hatten dabei freie Kost, und unsern Tisch hätte kein Bischof verschmäht. , Eine Zeit lang machten wir wirklich mit unserer Luftfahrt das großartigste Furore; aber schließlich wurden die Zuschauer auch durch dieses Schauspiel etwas abgestumpft. Der Direktor wollte Paris auf geben und in die Provinzen ziehen; aber das duldete nicht unser Ehrgeiz; wir mußten noch einmal durch eine größere Tollkühnheit die Leute ein wenig aufstacheln. Und es gelang uns. — Am andern Tage stieg der Ballon wieder langsam in die Höhe; kaum schwebte auch unser, unter dem Schifflein befestiges Trapez ei» wenig in der Luft, da schwang ich mich hinauf, aber ich hielt mich nur mit dem einen Fuße fest und, den Kopf nach unten, reichte ich meinem Bruder die Balancirstange zu, er umschlang sie mit seinen Füßen, und den Kopf ebenfalls «ach unten — so, in dieser gefährlichen Lage stiegen mir mit dem Ballon langsam in die Luft. — Die Musik schmetterte dazu, aber sie wurde von dem rasenden Beifallgeschrei übertönt. — Damit hatten wir die kühnsten Erwartungen übertroffen, und voll Entsetzen starrte uns das Publikum nach. Wir konnten die angstver zerrten Gesichter der Leute deutlich sehen, denn Alle glaubten, wir müßten jeden Augenblick Herunterstürzen. Eigentlich glaubten wir selbst nicht glücklich fortzukommen; aber Karl meinte, es hilft nichts, unsere Ehre ist auf dem Spiel, Du darfst nur kesthalten. Und ich hielt fest, es war ja mein einziger, theurer Bruder, dessen Leben durch mich auf dem Spiele stand. — Wenn ich jetzt daran denke, daß wir eine solch tolle Fahrt gewagt, kommt es mir selber ein Bischen gruselig vor. — Doch was thut man nicht Alles aus Ehrgeiz, und wie sagt der Lateiner: lortos kortuuu uckjuvat." Der alte Seiltänzer that sich sichtbar etwas zu Gute, daß er noch so. viel Latein ins Feuer führen konnte, und er bemerkte in seinem Mittheilungseifer mein unwillkürliches Lächeln nicht. „Ja, wir kamen glücklich auf die Erde," fahr der alte Herr tri- umphirend fort. „Wie es möglich gewesen, und wie wirs angefangen, könnte ich Ihnen heute nicht mehr erzählen; aber Alle, selbst der Di rektor, hatten uns für verloren gegeben, und der gutmüthige Mann Die guten Leute hatten sich stets auf die Höhe ihres Rathsthurmes etwas eingebildet, und ich muß gestehen, er war ziemlich hoch; aber das erregte nicht im Geringsten unsere Bedenken. Waren wir doch ganz frank und frei auf den höchsten steilsten Dächern herumgeklettert. Als wir endlich in unserm Kostüm an der Dachluke des Thurmes standen, klopfte mir wohl ein wenig das Herz, ich wills schon gestehen, aber Karl flüsterte mir zu: „Fritz, das ist ja dummes Zeug. Ob wir einen oder hundert Fuß von der Erde, das ist ganz gleichgiltig, wenn wir nicht daran denken. Heut sind wir wenigstens einmal auf der rechten Höhe" — und er kletterte mit feiner Balancirstange lachend hinaus und wanderte mit einer Sicherheit hinunter, daß den Zuschauern der Äthem ausging und sie in ein rasendes Beifallsklatschen ausbrachen. Nun durfte ich nicht hinter ihm Zurückbleiben; als er kaum Hälfte war, folgte ich ihm schon, und nun nahm das Bravorufen Ende. konnte sich vor Erstaunen gar nicht fassen, daß wir wieder glücklich bei ihm eintrafe». „Meine Freunde," sagte er, indem er uns mit feuchte» Auge» in die Arme schloß, „dies außerordentliche Kunststück dürft Ihr nur jeder einmal zeige», wir wollen es dnrch öftere Vorstellungen nicht wieder abnutzen." — Am liebsten hätten wirs schon wieder am andern Tage versucht, denn wir waren einmal im Zuge — wir mußten jedoch dem Direktor recht geben und unsere Ungeduld zügeln. Aber es sollie noch ganz anders kommen. Langsam strich sich der alte Herr über die heiß gewordene Stirn, dann rief er einen Kellner herbei, bestellte ein neues Seidel und horchte, während der sich selbst gegönnte» Pause, auf den Lärm im große» Saale. Eine Sängerin hatte soeben ihren letzten kostbaren Triller hinausgeschmettert, und nun begann wieder da drinnen ein stürmisches Bravoklatschen und heftiges Dacaporufen. „Das haben wir Alles genossen," sagte der Seiltänzer nachdenk lich. „Sieglauben gar nicht, wie das den Künstler aufstachelt. Alles, Hunger und Durst kann er ertragen, aber nicht den Mangel an Bei fall. — Nun, der hat uns nie gefehlt, und ich bin eigentlich doch froh, daß wir unsrer Kunst entsagt, als wir noch auf der Höhe standen. Weiter hätten wirs ja doch nicht bringen könne», wen» wir nicht mit aller Gewalt das Genick breche» wollten." „Sie haben also schon früh Ihre Kunst aufgegeben?" fragte ich. „Hören Sie nur, wie das gekommen ist, es war zu merkwürdig," antwortete er mit behaglichem Lächeln, und nachdem er einen tüchtige» Schluck aus dem neuen Seidel genommen, das ihm der Kellner in zwischen gebracht hatte, fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Ain andern Tage erhielten wir ein zierliches Briefchen mit der Adresse: „An die weltberühmten Künstler, die Schweizer Brüder," — so figurirten wir stets auf dem Zettel. — „Lies Du," sagte Karl, „der ist gewiß von einem Frauenzimmer." — Dazu gehörte freilich weiter keine feine Nase; aber was in dem Briefe stand, das war uns doch etwas ganz Neues. Die Schreiberin bewunderte unsere kühne Leistung, war entzückt davon, aber sie bat uns zugleich himmelhoch, unser theures Leben nicht mehr anfs Spiel zu setze», den» sie liebe uns unaussprechlich, und sie sei reich genug, uns ein ganz sorgenfreies Leben zu bieten. Dringend wünsche sie, daß wir sie noch heut besnchrii möchten, damit sie uns wenigstens ihre grenzenlose Verehrung aus drücken könne. Ja, das war ein wunderliches Schreiben, und wir brachen Beide zuerst in ein tolles Gelächter aus. Wen liebte sie denn eigentlich? — Der Brief war an uns Brüder gerichtet. „Das ist ein überspanntes Ding!" meinte Karl, „aber Du magst hingehen und ihr de» Kopf zurecht setzen, das ist wenigstens unsere Ritterpflicht." „Dann mußt Du hingehen, Karl, Du bist älter," rief ich lachend, und wir stritten uns lange herum, wer der Französin den Besuch machen solle. „Fritz, sie wird häßlich wie die Nacht und vierzig Jahr alt sein, ich hab so meine Ahnung," sagte Karl. „Das ist nm so ungefährlicher," meinte ich lächelnd, „denn das wär eine schöne Geschichte, wen» D» eine junge Schönheit träfest und sie Dich Deiner Kunst untreu machte. Was sollte ich dann allein anfangen?" Nun wollte sich mein Bruder ausschütten vor Lache». „Gieb Acht, sie ist vierzig Jahr und schielt; aber Du hast Recht. Ich bin älter als Du, und es ist deshalb meine Pflicht, daß ich zu der jungen Sirene gehe." In übermüthiger Laune machte er sich auf den Weg, ich sah ihm lachend nach und war froh, daß Karl gutmüthig genug sich wirklich dieser mir sehr schwierig dünkenden Aufgabe unterzog, den» eine alte, phantastische Französin! das ist kein Spaß. — Ich ging inzwischen ruhig ins Kaffeehaus, flanirte dann ein wenig in den Straßen herum und hatte die Geschichte mit dem Briefe beinah vergessen, als ich nach Hause kam. Zu meiner größten Verwunderung saß Karl niedergeschlagen auf dem Sopha und rührte sich nicht. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und mußte nicht einmal meinen Eintritt gehört haben.