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traurige Menschenkenntniß erworben, die nicht mehr an Uneigennützig keit, an ein wahres, tiefes Empfinden glaubt. Ueberall sah er Heuchelei, raffinirte Selbstsucht, die sich unter allerhand Masken versteckte und nur zu oft die Larve der aufrichtigsten Zuneigung und Liebe zu borgen wußte. Graf Sternthal war Pessimist geworden, noch ehe er es selbst geahnt, und er blieb ein um so bitterer Menschenfeind, je forgfältiger er vor der Welt seine wahren Gefühle verbarg. Die Furcht, als Original zu gelten, verfolgte ihn beständig. Er hatte auf feinen Reifen die Erfahrung gemacht, wie lästig es ist, von Andern abzustechen, wie man da von Allen begafit und bespöttelt wird, und er wollte jetzt in der Heimath, im Verkehr mit der guten Gesellschaft der Resi denz, nicht anders erscheinen, als sie Alle. Er hütete sich deshalb ängstlich, durch Aussprechen seiner innersten Gedanken Leute vor den Kopf zu stoßen, die allen Gedanken gern scheu aus dem Wege gingen; er wußte seiner Unterhaltung stets die alltäglichste Färbung zu geben, empfand eine Genuathuung über diese Komödie, die er in der guten Gesellschaft aufführte, und war doch zu gleicher Zeit unglücklich und verdrießlich, daß er sie spielen mußte. Zuweilen kam ihm die heißeste Sehnsucht nach Menschen, denen er zeigen konnte, was in ihm lebte und zum Lichte rang. Zuletzt doch ermüdet und angeekelt von dem Gesellschaftstreiben in der Residenz, hatte sich Graf Sternthal mit raschem Entschluß in einem der Seitenthäler des Rheines angestedell um sich hier in die tiefste Einsamkeit zu vergraben. So war er der Nachbar des Barons Henneberg geworden; ein Zufall hatte die beiden Herren zusammen geführt, und obwohl der Graf sich fest vorgenommen, auf allen Ver kehr mit der Außenwelt zu verzichten, war ihm doch nichts Anderes übrig geblieben, als jetzt dem Baron einen Besuch zu machen. Er sollte der erste und auch der letzte sein — das hatte sich Sternthal sogleich in feinem Unmuth geschworen; — er kam auf das Schloß — fand dort Hertha und war seitdem ein eifriger Besucher des Barons. Was den Grafen an das junge Mädchen fesselte, darüber mochte er sich Anfangs selber keine Rechenschaft geben. Er fand nur die Frische und Änmuth der Kleinen so anziehend, weil sie gar nicht anders erscheinen wollte, als sie wirklich war. Nie gab sie sich die Mühe, ihr Nichtwissen zu verbergen, nie suchte sie ihren Geist in ein besseres Licht zu stellen. Immer war sie einfach und natürlich und dabei von einer Fröhlichkeit, die etwas Sonnenhaftes hatte. Ihrem Hellen, glücklichen Lachen konnte fo leicht Niemand widerstehen, er mußte darin einstimmen. Mit einem Wort, sie war eine Natur, rein und unverdorben, wie eben aus der Hand der Gottheit gekommen, so wenigstens erschien sie dem Grafen, der bisher selbst hinter solch kindlicher Naivetät die ausgesuchte Koketterie gewittert hatte. „Wo ist Hertha?" fragte sogleich nach der ersten Begrüßung der Baron, der seinen Liebling augenblicklich vermißte. In jeder Andern als in Agathe hätte sich zuletzt der Neid erregt über die große Be vorzugung, die der Vater der Fremden angedeihen ließ. Er verhät schelte förmlich die Kleine und machte gar kein Hehl daraus, wie lieb sie ihm geworden war. Ohne ihre außerordentliche Gutherzigkeit wäre Hertha gewiß verführt worden, ihre seltsame Herrschaft über den Baron zu mißbrauchen. Ihr konnte der sonst so launenhafte, leicht aufbrausende Herr nichts abschlagen, sie wußte sehr oft mit einem einzigen Schmeichelwort seinen Zorn zu besänftigen. „Sie hat etwas Kopfschmerzen und ist auf ihr Zimmer gegangen," antwortete Agathe, ohne das mindeste Zeichen von Verletztheit über die hastige Frage. „Kann die Kleine auch Kopfschmerzen haben?" rief der Baron verwundert. „Warum sollte sie es nicht?" entgegnete die Tochter ruhig. „Bei Euch Mädchen sind mir immer Kopfschmerzen bedenklich," erwiderte der Vater. „Dahinter verbirgt sich gewöhnlich eine Laune, und unsere gute Hertha hat bisher noch niemals etwas Launenhaftes gezeigt. Müssen Sie das nicht auch sagen, lieber Graf," wandte er sich lebhaft zu Sternthal. „Meine Bekanntschaft mit der jungen Dame ist noch zn kurz, um darüber ein bestimmtes Urtheil abzugeben," entgegnete dieser aus weichend. „Ach, sagen Sie das nicht," entgegnete lächelnd der Baron. „Einem so weit gereisten, scharfblickenden Manne wie Sie geht ja keine Falte in dem Herzen eines solchen Dinges verloren," und er machte dabei eine Handbewegung nach seiner Tochter hin. Das Antlitz Agathens färbte sich vor Unmuth, aber sie schwieg; nur um ihre scharf geschnittenen Lippen spielte ein Lächeln, als wollte sie sagen: „Damit hat es doch seine guten Wege." Graf Sternthal hielt es jetzt an der Zeit, sich nach dem Befinden der jungen Baroneß zu erkundigen und sie direkt in das Gespräch zu ziehen. Agathe gab scharfe zuweilen satyrisch gefärbte Antworten. Wäh rend sie früher dem Gaste gegenüber sich etwas bequem gemacht und sich selten in die Unterhaltung gemischt hatte, sprach sie heute unge wöhnlich viel, und sie schien die Absicht zu haben, dem Grafen in einem ganz anderen Lichte zu erscheinen. Sie war lebhaft, es fehlte zuweilen sogar nicht an geistreichen Bemerkungen; aber immer wieder brach doch die Nüchternheit und kühle Verständigkeit ihres ganzen Wesens hervor, wie sehr sie sich auch bemühte, die Behauptung ihres Vaters zu Schanden zu machen und dem Gaste einige Räthsel aufzu geben. Der Graf gewahrte ihr Bestreben und hatte dafür nur ein heimliches Lächeln. Mit Ungeduld erwartete er das Eerscheinen Herthas; sie kam nicht, und die junge Baroneß mochte immerhin ihren Geist zu zeigen suchen, Sternthal empsand nur ein Gesühl der Langeweile, und zum ersten Mal kam ihm der Zauber völlig zum Bewußtsein, der um Hertha gebreitet war. Ihre Gegenwart vermißte er so schmerz lich, daß ihm der längere Aufenthalt bei dem Baron unmöglich war; er brach unter irgend einem Vorwande weit zeitiger auf, als gewöhn lich, und verstimmt, mit sich und der Welt unzufrieden, ritt er nach Hause. „Was hatte nur Graf Sternthal, er war fo zerstreut?" fragte der Baron nach dem Weggange des Grafen feine Tochter. „Er vermißte Hertha," antwortete diese ruhig. „Kein Wunder, die Kleine bringt ja erst in die Unterhaltung das rechte Leben," entgegnete der Baron unbefangen. „Du bist ungerecht, Papa!" rief Agathe, und um ihre strengen Lippen huschte etwas wie ein Lächeln. „Ich glaubte wunder, wie brillant ich heute gewesen bin, und Du hast kein Wort der Anerken nung dafür." Der Vater sah seine Tochter ganz verwundert an. Er war an ihr eine solche Sprache nicht gewöhnt. „Gewiß," sagte er, sich besin nend: „Der Graf war auch über Deine geistreichen Bemerkungen ganz überrascht." „Ich wollte ihm nur zeigen, daß ein solches Dings wie das Meer seine Untiefen hat," entgegnete sie, das jugendliche Haupt stolz in den Nacken werfend. „Ah, also Du wolltest mich nur mit meiner kühnen Behauptung aä ad8nräum führen?" rief der Baron in guter Laune aus. „Das hätte ich Dir wirklich nicht zugetraut. Aber hat Hertha wahrhaftige Kopfschmerzen oder birgt sich dahinter auch eine Untiefe, wie ich ver- muthe?" „Ich kann es Dir nicht sagen," entgegnete Agathe. „Weiche mir nicht aus. Warum ist Hertha nicht zum Vorschein gekommen, obwohl sie wußte, daß wir einen Gast hatten?" „Gestatte mir eine andere Frage," begann die Tochter in ihrer ruhigen, überlegten Weise. „Weißt Du, warum uns Graf Sternthal fo oft besucht?" „Was Du heut für wunderliche Einfälle hast!" rief der Vater verwundert aus. „Er ist ein höflicher, liebenswürdiger Mann; er langweilt sich in seiner Einsamkeit, kannst Du es ihm verargen, daß er ein wenig Unterhaltung sucht." „Aber er blieb heute merkwürdig einsilbig, obwohl ich Alles an wandte, ihn zu zerstreuen." „Das heitere Lachen Herthas wird ihm gefehlt haben," entgegnete der Baron unbefangen. „Du wirst leider Recht habeu," bemerkte die Tochter, und ihr Gesicht wurde noch ernster als gewöhnlich. „Was willst Du damit sage«?" „Daß der Graf sich sorglos dem Zauber überläßt, ohne zu be denken, daß er das Lebensglück eines lieben, guten Geschöpfes auf immer zerstört." „Du meinst also," — rief der Vater betroffen und stockte in seiner weiteren Rede. „Ja, ich bin fest überzeugt, daß in diesen Besuchen Sternthal's die höchste Gefahr für Hertha vorhanden ist. Er wird die reizende, kleine Idylle mit dem Kinde leicht wieder vergessen, aber der armen Hertha wird das Herz darüber brechen, und es ist die höchste Zeit, daß der Graf das gefährliche Spiel aufgiebt, wenn es nicht schon zu spät ist." „Nein, Agathe, so darfst Du nicht sprechen. Sternthal ist durch- aus ein Ehrenmann, er denkt nicht daran, mit unserer Kleinen ein Spiel zu treiben." „Er hat nicht die bestimmte Absicht, und das ist um so gefähr licher, denn der Erfolg ist derselbe," entgegnete Agathe nicht ohne Bitterkeit, und noch ehe der Vater etwas erwidern konnte, fuhr sie in ungewöhnlicher Erregtheit fort: „So unbekümmert sind die Männer. Sie überlassen sich der Annehmlichkeit eines solchen Verkehrs mit einen: harmlosen kindlichen Geschöpf, und wenn der Zauber wieder verflogen, dann wird das arme, unbedeutende Dings vergessen." „Du verkennst Sternthal. Er ist eine weit tiefere, edlere Natur, der eines solchen Leichtsinns unfähig ist." „Nun, glaubst Du wirklich, daß seine Neigung für Hertha so mächtig ist, "um allen Vorurtheilen zu trotzen und als hochgeborener Graf ein Findelkind als seine Gattin heimzuführen?" (Forts folgt.) Vermischtes. * In Berlin bestiegen zwei rumänische Seiltänzer bei auf steigendem Gewitter das Thurmseil. Plötzlich zuckte ein greller Blitz und Beide stürzten in die Tiefe, durchschlugen das unten ausgespannte Netz und kamen unverletzt auf dem Boden an. „Wie war Ihnen bei dem Falle zu Muthe?" fragte ein Herr den Einen und dieser antwortete mit blaffen Lippen: „Hab' ich gedacht — ade, nun ist futsch die schöne Wett." * Paris hat dieser Tage seinen Vielfraß verloren. Alfred Mouchet war ein langer, trockener Geselle, mit ungeheuren Händen und Füßen. Als Makler auf dem Pferdemarkt verdiente er 5 dis 6 Francs den Tag. Mouchet vermochte sich mit diesem Einkommen kaum vor dem Hungertode zu schützen. Oft wurden Wetten eingegangen oder es fanden sich Liebhaber, welche ihn essen sehen wollten und für ihn ein „kleines Frühstück" bezahlten, das aus einem Truthahn, einem Hammelstück von 6—7 Pfund, einem Pfund Käse, mehren Pfund Brod und 10—12 Liter Wein bestand. Die Fremdenführer führten ihm öfter Neugierige zu, darunter einmal einen Engländer, der eine Wette gegen Mouchet einging. Der Engländer brachte aus Deutsch lang oder Oesterreich einen gewissen Hans Dietrich herbei, um Mouchet im Essen zu übertreffen. Die beiden Gegner arbeiteten über zwei Stunden ununterbrochen; Deitrich erklärte sich überwunden, er hatte 8 Pfund Hammelkeule und ebenso viel Geflügel in seinen Magen geschickt. Doch verschaffte dieser Sieg dem mackeren Mouchet einiges Unwohlsein. * Eine Massenvergiftung durch Fleisch. Ueber eine in Berlin durch den Genuß von rohem gehackten Rindfleisch herbeige führte Vergiftung von nicht weniger als sechs Personen geht den dortigen Blättern folgende Mittheilung zu: Eine in der Alexandrien- straße wohnende Frau F. entnahm von einem Schlächter in der Dresd nerstraße am Freitag Abend auf die besondere Empfehlung der Frau des Schlächtermeisters ein halbes Pfund gehacktes Rindfleisch, welches mit seiner schönen rothen und frischen Farbe recht appetitlich aussah. Von diesem Fleisch aßen alsdann Frau F., ihr Söhnchen zwei Pensio näre, die Schneiderin der Frau F. und das Dienstmädchen. Bereits am Sonnabend früh stellten sich bei einem der Pensionäre, welcher die größte Quantität Fleisch gegessen, heftige Diarrhoe, Erbrechen und Kopfkolik ein. Sodann wurden sämmtliche übrige fünf Personen von der Krankheit befallen. Bei der Näherin kam die Blutvergiftung ekla tant zum Vorschein, indem deren Hände eine dunkelgelbe Farbe annah men. Ein Arzt konstatirte auf Grund der Symptome bei sämmtlichen Personen eine Vergiftung, welche nur auf den Genuß des anscheinend mit Anilin gefärbten Rindfleisches zurückzuführen ist. Die sofort angewendeten Gegenmittel setzten die Betroffenen zwar außer Lebens gefahr, doch werden nach Ausspruch des Arztes bei Beobachtung strengster Diät immerhin vierzehn Tage zur vollen Wiederherstellung der Patienten vergehen. Von der Kriminalpolizei, welcher von diesem Falle sofort Anzeige gemacht ist, sind die Ermittelungen zur Feststellung der Ver giftungsursache eingeleitet worden. * Der Wallfischfänger „Ellen Rizpah" verlor, wie aus London berichtet wird, auf der Jagd nach einem Riesenwallfisch seine halbe Besatzung. Zwei Boote verfolgten das Ungeheuer und harpunirten es glücklich. Kaum saß jedoch die Harpune in dem Rücken des Thieres fest, so tauchte es mit Blitzesschnelle in die Tiefe; die Leine der einen Harpune verwickelte sich auf der Rolle und der Wallfisch zog daS Boot mit der ganzen aus neun Mann bestehenden Besatzung in die Meeres tiefe hinab, aus der es fammt seiner lebenden Fracht nicht wieder auftauchte.