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Beilkge zu Nr. 54 des Amts- u. Wochenblattes für Wilsdruff. Freitag, den 6. Juli 1883. Die 7 Cngel. Mir ist es, als ob ich die Hände Aufs Haupt euch legen sollt', Betend, daß Gott euch erhalte So rein, so fromm, so hold! Wieder war die Sonne hinabgesunken hinter den Bergen, die Sterne funke'ten am tiefblauen Himmel und die Schutzengel der Kinder, die vor dem Allmächtigen stehen, flogen still empor, um dem himm lischen Vater zu berichten von ihren Schützlingen. Nur wenige Boten Gottes waren voll Freude. Viele weinten und ihre Thränen fielen herab auf die Erde, leuchtend wie Sternlein. Sie weinten über die Menschen, über Väter, Mütter und Kinder. Immer höher und höher flogen die Engel und endlich standen sie vor Gottes Thron. Noch immer weinten sie. Der Herr aber sprach: „Weinet nicht! Erzählt mir von meinen Kleinen da unten auf der Erde. Vergeßt nicht, daß ich ein gerechter Gott bin und heimsuchen werde die Missethat der Väter!" Da begann der erste Engel zu erzählen: „O, Allmächtiger, du hattest mich gesandt zu dem Kleinen da unten in dem großen Hause, das von der Wittwe des reichen Gutsherrn bewohnt wird. Duweißt, daß ich alle Abende im Traum das Kind grüßen muß von seinem Vater, der nun schon zwei Jahre bei dir weilt. Doch nichts Gutes habe ich zu berichten von der Mutter des Kindes. Sie bricht nicht, wie ein Dichter der Menschen gesagt hat, dem Kleinen den Kopf und so wird später der Kleine der Mutter das Herz brechen. Was der Kleine haben will, wird ihm gegeben und seinem Willen müssen selbst des Nachbars Kinder gehorchen. Er schlägt und plagt sie und sie müssen es dulden; denn die reiche Wittwe kündigt sonst dem armen Nachbar das Geld, das ihm ihr Mann einst geliehen hat. Sie aber meint: „Mein Kleiner versteht es noch nicht; mein Kleiner meint es nicht so!" Weinend kommen oft des Nachbars Kinder zu ihrer armen Mutter und sie tröstet sie, mehr kann sie nicht thun. Die Mutter aber hofft und hofft, daß die reiche Wittwe und ihr verzogenes einziges Kind ein anderes Herz bekommen. Wie lange wohl noch?" Der zweite Engel erzählte: „Es war heut' abend. Die Sonne vergoldete das Kreuz des Kirchleins dort unten im kleinen Dörflein am großen Strom. Eine junge Mutter saß mit ihrem kleinen, drei jährigen Knaben vor der Thür auf der Bank und lernte dem Kleinen, doch, Allmächtiger, kein Gebet, sondern die Flüche des Vaters, die er ausstößt, wenn er abends von seiner Arbeit nach Hause kommt. Sie ging den Kleinen auf dem Arme, auf den freien Platz am Teiche und einige andere Mütter gesellten sich zu ihr. Mit Stolz zeigte die Mutter die Fertigkeit, die sich der Kleine im Fluchen erworben hatte, und mit Stolz sprach sie: „'s ist ein possierliches Kind und zu gescheit. Jedes Wort fängt es auf und flucht bereits wie sein Vater!" Zu dem Kleinen gewendet, sprach sie: „Wie spricht der Vater, wenn ," doch verzeihe, o Allmächtiger, Thränen ersticken meine Stimme, wenn ich an die Thorheit der Mutter denke." Der dritte Engel begann: „Du kennst das Haus in der einsamen Straße, die von der Armuth bewohnt wird. Es war heut' morgen, da wurde die Thür geöffnet und heraustrat, oder vielmehr wurde ge stoßen, ein weinender Knabe. „Geh," sagte sein Vater, „geh betteln und wenn du heut abend nicht genug bringst, so sollst du büßen!" Die Thür ward zugeschlagen; der Knabe stand allein da und weinte und sähe mit Thränen den anderen Kindern nach, die fröhlich zur Schule eilten, und er mußte für die faulen Eltern betteln gehen. Ich flüsterte ihm das Wort ins Ohr: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Thal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich!" Die unschuldigen Kinderaugen sahen deine schöne Welt, o Vater, die Thränen verstechten und ich ging mit. Draußen am Dorfe jenseit des Waldes begann er wieder zu weinen. Er sollte Bettelbrot sammeln, Bettelbrot mit nach Hause bringen und doch hatte sein lieber Lehrer gesagt: „Bettelbrot ist Diebesbrot!" Das kleine Herz wollte ihm zerspringen vor tiefem, tiefem Weh, als er das erste Mal um eine Gabe bat, und jedes Stück Brot benetzte er mit seinen Thränen. Erbarme dich, o Vater, erbarme dich des armen Knaben!" Der vierte Engel erzählte: „Mich jammert des Mädchens da unten im Gasthause zu M. In dem Gasthause geht es so wüst, so schänd lich zu bis in die Nacht hinein. Das arme Kind möchte gern seine Sprüche und Lieder lernen in seinem Kämmerlein; denn wenn es von Vater und Mutter in einer dunklen Fensternische mit seinem Büchlein getroffen wird, so rufen sie: „Wozu haben wir dich!" und es giebt Scheltworte, wohl gar Schläge. Bis tief in die Nacht hinein muß es die wüsten Gesellen bedienen und ihre unkeuschen, schrecklichen Reden mit anhören, und wenn es dann so traurig, wehmütig drein schaut, bekommt es wieder Scheltworte und Schläge. „Es soll den Gästen ein freundliches Gesicht machen," sagen die Eltern. Das arme, arme Kind! Willst du es nicht zu dir nehmen in deinen Himmel, ehe es verloren geht, verloren für immer durch der Eltern Schuld?" Der fünfte Engel erzählte: „O Thorheit, Thorheit der Eltern! Dort im Souterrain des neuen Hauses wohnt die Familie N. mit 5 Kindern. Das älteste ist 10 Jahr, das jüngste 11 Wochen. Sie be wohnen eine Stube und eine Kammer. „Nein, wir haben zwei Stuben," spricht die Mutter. Die Kammer nennt sie die Familienstube und die eine Stube hat sie zur Putzstube eingerichtet für — niemand. Inder Kammer liegt ihr jüngstes Kindlein unter dem Tische; denn für die Wiege ist kein Raum vorhanden. In den Ecken hocken bleichwangige Kinder vergiftet von der dumpfen Kellerluft der überfüllten Stube und — häkeln Spitzen für das Sofa in der Putzstube. Wehe dem Kinde, das die Putzstube betritt! Zwei Kinder aus jener dumpfen Kammer habe ich dir bereits in deinen Himmel gebracht und vielleicht noch in diesem Jahre bringe ich dir wieder zwei. Die thörichte, putz süchtige Mutter, die den Kindern keine Bewegung und keine frische Luft gönnt, wundert sich, daß alle ihre Kinder an der Schwindsucht dahin sterben und — sie ist doch die Mörderin ihrer Kinder." Der sechste Engel kam etwas später. „Ach," sprach er, „ich konnte nicht eher kommen; denn du hast mir das kleine vierjährige Mädchen anvertraut, daß ich es behüten soll, behüten vor der Rohheit seines Vaters. Ach, Herr, nimm es zu dir, denn meine Kraft ist bald zu ichwach, dem vom bösen Branntweingeist beherrschten Vater zu wider stehen. Thöricht ist sein Thun und gräßlich sind seine Flüche. Heu* abend hatte das arme Kind mit seinem Mütterlein hungrig zu Bett gehen müssen; denn gestern bereits war der letzte Pfennig ausgegeben worden. Wohl hatte der Vater heute Lohntag und Mutter und Kind warteten und weinten, das Kindlein vor Hunger, die Mutter vor tie fem Schmerz. Endlich brachte man den Vater halb bewußtlos nach Hause geführt. Wehe, wenn Mutter und Kind schlafen! Das Weib muß ihn bedienen, wie man ein kleines Kind bedient, wenn es nicht Scheltworte und Schläge haben will. Das Kindlein aber rüttelt er aus dem süßen Schlummer. Nur wenn es munter ist und ihn mit seinen blauen, unschuldigen Kinderangen anblickt, läßt er es in Ruhe. Ich zeigte mich dem Kindlein im Traume und spielte mit ihm. Als der Vater kam, erweckte ich es. Doch, Herr, erbarme dich des Kindes und seiner armen Mutter! Hilf, Herr, hilf!" Der siebente Engel kam voller Freude und trug ein schlummerndes, seliges Kindlein auf seinen Armen, das schaute so glücklich aus, wie es auf Erden wohl nie geschaut hatte. „Hier," begann der Engel, „bringe ich dir das Kindlein aus der . . . straße zu W. Ich konnte die Qualen nicht mehr mit ansehen, die es erdulden mußte von seiner Pflegemutter. Heut morgen, wie immer, ging der Vater fort an seine Arbeit. Das arme Kind aber hatte seit gestern früh nichts zu essen bekommen, weil es eine Tasse zerbrochen hatte. Weinend sah es ihm nach. Den ganzen Tag bekam es nichts zu essen, doch Schläge ge nug. Es wankte vor Hunger in der Stube nmher und bat um Brot. Die böse Pflegemutter aber schob es von sich, daß es sich mit seinem Herzchen an eine Ecke der Bank stieß. Ein Blutstrom entquoll seinem Munde. Ich nahm es sanft in meine Arme und hier, Vater, bringe ich es dir. Wie wohl wird es ihm in deinem Himmel sein!" Meißen. K. Reiche. Die Sirene. Novelle von Ludwig Habicht. Verfasser d?r Romane: „Zwei Höfe", „Auf der Grenze", „Der rechte Erbe". (Fortsetzung.) Wenn auch. Frau von Herbstein öffentlich vor dem Franzosen einen ganz entschiedenen Widerwillen an den Tag legte, war man doch überzeugt, daß sie das tolle Treiben des Kapitäns heimlich wie den größten Triumph empfinde, den ihre von den Jahren noch nicht zer nagte Schönheit feiern könne, und Niemand glaubte ihr, daß es ihr mit ihren Klagen und ihrer Angst vor Herrn von Brosse wirklich Erust sei. Ihr Benehmen wurde für die berechnetste Koketterie ausgelegt. Dieser schwärmerische, alle Rücksichten bei Seite setzende Verehrer war ihr gewiß sehr willkommen; er lenkte auf sie die allgemeinste Aufmerk samkeit und lockte, wie dies ja immer der Fall, noch einen ganzen Schwarm Bewunderer herbei, die von ihren alternden Reizen nur um deshalb so entzückt waren, weil sie sahen, daß sie noch solche Flammen anzublasen vermochten. Vielleicht würde die schöne Wittwe die ihr lästig werdenden Ver ehrer leichter zurückgescheucht haben, wenn sie ganz allein gestanden hätte; aber der alte Herr von Herbstein war glücklich über die Huldigungen, die seiner Schwiegertochter zu Theil würden, und sie machten seinen ganzen Stolz aus. Wußte er doch, daß seine kleine gute Edith an all die Narren, die sie umschwärmten, nicht ihr kluges, festes Herz verlieren würde, und so belustigte ihn der Tanz, den diese Motten ausführten, ja er bemühte sich eifrig, seiner Schwiegertochter Gelegen heit zu geben, die Zahl der Unglücklichen zu vermehren, die nach ihr seufzten. Freilich wurde auch dieser wunderliche Eifer des alten Herrn, der so sichtbar zu Tage trat, der Wittwe in Rechnung gestellt. Sie ver mochte ja Alles über ihren Schwiegervater und trieb ihn gewiß dazu, ihr solche Vergnügungen zu verschaffen, während sie öffentlich darüber seufzte und anscheinend nur widerwillig — dem alten Herrn zu Liebe — sich in das Gesellschaftsleben fand, das der Oberst suchte. Es war eigentlich der schönen Frau nicht zu verargen, daß sie ihren Wittwenstand nicht aufgab, sie wurde ja von ihrem Schwieger vater völlig verhätschelt, der ihren leisesten Wunsch zu erfüllen suchte und kein Hehl daraus machte, wie theuer sie seinem Herzen im Laufe der Jahre geworden war. Wie wußte aber auch das kluge Schwiegertöchterchen den alten gichtbrüchigen Mann zu umschmeicheln; sie war der Sonnenschein, der sein Alter wohlthuend erwärmte und belebte. Ein zartes und ange nehmeres Verhältniß, als zwischen diesen beiden, im Grunde so ver schiedenartigeren Charakteren bestand, konnte nicht gedacht werden. Der Oberst ragte über Mittelgröße weit hinaus, nur sah er jetzt etwas kleiner aus, da ihn seine Krankheit zu einer gebückten Stellung zwang. Er konnte in seinem ganzen Auftreten den ehemaligen Offizier nicht verleugnen. Etwas Barsches, Strenges lag in seinem ganzen Wesen, leicht flammte er auf und war dann in seinen Ausdrücken nicht gerade wählerisch. Sein ganzes Leben über hatte er einen unbeugsamen Ei gensinn an den Tag gelegt, der auch Ursache zu dem harten Zerwürf- niß mit dem Sohne gewesen war. Und derselbe starrköpfige, rücksichtslose Mann, den seine Umgebung, selbst seine längst verstorbene Gattin mehr gefürchtet als geliebt, war weiches Wachs in den kleinen Händen der klugen Schwiegertochter. Sie vermochte Alles über ihn und seinen heftigen Zorn durch ein freundliches Lächeln zu entwaffnen. Edith verstand aber auch, sich dem alten Herrn ganz unentbehr lich zu machen. Sie schien ein wunderbares Talent zu besitzen, seine geheimsten Wünsche zu errathen und zu verwirklichen. Er durfte kaum die Lippen öffnen, um irgend ein Verlangen auszusprechen, und es wurde von ihr erfüllt. Mit einer bewunderungswürdigen geistigen Schmiegsamkeit fand sie sich in seine Launen, seiue Anschauungen. Für den alten Oberst war Edith das Muster aller Frauen, er vergötterte förmlich seine Schwiegertochter, und Jeder, der nicht eine günstige Meinung über sie gctheilt hätte, wäre sein Todfeind geworden. Sie mußte ihm dorlesen, denn Niemand verstand das so gut, hatte eine so klangvolle, prächtige Stimme wie sie; nur wenn seine liebe Edith ihm den Kaffee einschenkte, fand er ihn nach seinem Geschmack. Nur seine Schwiegertochter verstand es, ihm den Stuhl so zu rücken, daß er am bequemsten und am angenehmsten saß; sie allein hielt aus