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Komtesse Hermine hatte gegen ihren Bruder niemals den mindesten Neid empfunden, trotzdem er von Batcr und Großmutter so auffällig bevorzugt wurde, vielleicht war sic zu stolz dazu; aber jetzt konnte sie sich doch eines Gefühls der Bitterkeit kaum erwehren, als sie bemerken mußte, wie ihr Vater unter dem harten Schlage völlig zusammenfank und auch nicht den Schatten eines Trostes darin fand, daß ihm noch ein Kind geblieben war. Und wenn er sie in der nächsten Stunde gleichfalls verlor, mußte sie sich sagen, daß sein Schmerz damit um nichts mehr verstärkt würde. Wie ost wandelte sie die Sehnsucht an, ihn jetzt durch eine größere Zärtlichkeit über den Verlust ein wenig zu trösten, oder fein Herzeleid etwas zu beschwichtigen und zu ihrem tiefsten Schmerz konnte sic bemerken, daß er ihre Annäherungsversuche fast scheu und ängstlich zurückwies. Er trug sichtbar nicht das ge ringste Verlangen auch nur nach dem kleinsten Ersatz, und das junge, stolze Mädchen fühlte sich davon tief verletzt. Heute kam der Vater noch düsterer und mißmuthiger als sonst nach Hanse. Schweigend verzehrte er feine Mahlzeit und beachtete feine Tochter nicht, die an seiner Seite faß. Die alte Gräfin hatte wieder einen ihrer wunderlichen Anfälle und blieb auf ihrem Zimmer eingeschlossen; feit dem Verlust des geliebten Enkels kam sie überhaupt nicht mehr an die gemeinsame Tafel; sie vermißte dabei schmerzlich ihren Ottomar, der stets den Platz an ihrer Seite gehabt. Es war in der Tischordnung so geblieben, denn der Graf liebte die Verände rung nicht; aber für Komteß Hermine war diese Eßstunde, die sie im peinlichsten Schweigen an der Seite ihres Vaters zubringeu mußte, eine namenlose Oual, und doch brachte sie es nicht übers Herz, sich auch hiervon zurückzuziehen, denn sie sagte sich, daß sie es nicht dürfe und der unglückliche Manu sie doch vermissen würde. Auch heute nahmen Beide schweigend ihre Mahlzeit ein; beim Nachtisch griff der Graf, wie er es gewöhnt war, nach einem Zeit ungsblatt. Plötzlich blieben seine Augen auf einer Stelle haften und er rief lebhaft ans: „Da beschäftigen sich ja schon die Zeitungen mit dem düstern Gehcimniß! Sie bedauern, daß der Verbrecher dem strafenden Arm der Gerechtigkeit glücklich entschlüpft ist. Wohl bin ich außer mir darüber, daß der elende Mörder nicht eingefangen wor den und zuweilen jubele ich wieder darüber! Was hätte der Schurke bekommen? Ein paar Jahre Zuchthaus, weiter nichts! Unsere Gesetze werden ja immer humaner!" Der alte Herr lachte ingrimmig auf. Komtesse Hermine zerdrückte das Stück Kuchen in ihrer Hand und wagte von ihrem Teller nicht aufzublicken. Ihr Herz klopfte stürmischer im Busen; sie wollte antworten und Arno vertheidigen und konnte es doch nicht. Der Graf schien ihre tiefinnere Bewegung gar nicht zu bemerken, denn er fuhr eifrig fort, als fei es ihm ein unwiderstehliches Bedürf- uiß, seinem Herzen Luft zu machen. „Aber nun ist er feig und jämmerlich geflohen und hat sich als die Kanaille gezeigt, die er ist. Wie das den alten Federigo demü- thigen muß, der sich so gern als ehrenweriher großer Charakter auf- gefpielt hab!" Bei diesen Worten ihres Vaters hätte Hermine laut aufschreicn mögen. Nun erst kam ihr zum vollen Bewußtsein, wohin sie den Geliebten gedrängt. — Sie hatte an sich gedacht. Ihr war die Vor stellung unerträglich, Arno im Gefängniß zu wissen. Mochte immer- hin feine Uufchuld fpäter an den Tag kommen, für ihr Empfinden war er damit doch beschimpft. Sie wußte es, eiuem Mann, der solche Schmach erduldet, konnte sie nicht angehören. Und jetzt mußte sie sich sagen, daß sie in ihrer Selbstsucht noch eine größere Schmach aus ihn gehäuft, feinen geraden tüchtigen Charakter gebrochen habe. Mit dieser qualvollen Erkcnntniß zögerte sie auch keinen Augenblick, ihre Schuld zu bekennen, mochte daraus entstehen, was da wolle. Langsam erhob sie das Haupt, ihrem Vater fest ins leidenschaftlich erregte Antlitz sehend, sagte sie ruhig nach einem letzten, rascher» Athemzuge: „Ich bin es, die ihn zyerst gewarnt und ihn aufgefordert hat, die Flucht zu ergreifen." „Hm, das ist ja>feltfam!" murmelte der Graf befremdet. „Aber ein ganz diplomatischer Schachzug! Du hast ihn damit besser getroffen, als es mir mit allen Gesetzen in der Hand möglich geworden wäre. Wie bist Du eigentlich auf die Idee gekommen?" setzte er hinzu und beugte sich auf seinem Sessel zurück, um Hermine anzusehen. „Weil ich ihn liebe," mar ihre Antwort, und ihre braunen Augen hielten den forschenden Blick des Vaters ruhig aus. Der Graf glaubte nicht recht gehört zu haben; er starrte noch einmal in sprachlosem Erstaunen seine Tochter an, und als er auf ihrem ausdrucksvollen Antlitz deutlich lesen konnte, daß ihre inhalts« schweren Worte die Wahrheit enthielten, stieß er ein kurzes Lachen aus. „Ach, Du bekommst wohl einen Anfall wie Deine Großmutter?" sagte er höhnisch. „Verschone mich damit, wenn ich bitten darf. Ich habe ohnehin genug zu ertragen." Er strich mit der Hand über die roch heißer gewordene Stirn und wollte sich erheben. „Du hast mich gefragt und fo war ich Dir die Antwort fchuldig," entgegnete Hermine mit jener Entschlossenheit, ja mit jenem sorglosen Trotz, der ihr eigen war. Stets war sie ihren eigenen Weg gegangen, nie hatte sie sich darum gekümmert, wie ihre Umgebung ihr Denken und Handeln aufnchmen würde. „Deine Capricen sind mir bekannt," entgegnete der Graf, der feinen auflodernden Zorn gewaltsam zu bändigen suchte, weil er sich verpflichtet fühlte, diesem störrischen Mädchen gegenüber seine Ueber- legenheit zu wahren. „Mag es Dir bisher immerhin Vergnügen ge macht haben, mit dem Sohne meines Todfeindes ein wenig zu koket- tiren, — Du hast Dir ja stets auf Deinen Eigensinn etwas zugute gethan; aber jetzt darfst Du nicht vergessen, daß dieser Mensch der Mörder Deines Bruders ist und ich will deshalb von Deinem ein fältigen Geschwätz nichts weiter gehört haben." Der Graf erhob sich rasch und schnitt mit einer energischen Handbewegung jede weitere Entgegnung ab. Ohne die Tochter noch eines Blickes zu würdigen, ging er zur Thür, und die Art und Weise, wie er das Zimmer ver ließ, bewies Hermiuen, daß von diesem Augenblicke ab die Kluft zwi schen ihrem Vater und ihr noch tiefer gegraben war. Im Unglück lieg: eine wunderbar erziehende Macht. Das schwächste Herz, das schon vor den unbedeutendsten Schicksalsschlägen ängstlich gezittert, erfährt erst, wie viel ungeahnte Kräfte in ihm fchlummern, wenn die erste große Prüfung hereinbricht. Auch Angelika sollte es erfahren; sie, die wie ein harmloses Kind durch das Leben gegaukelt, zeigte mitten in ihrer verzweifelten Lage eine Ruhe und Gefaßtheit, die Niemand dem jungen Mädchen zugetraut hätte. Ihr Vater ge fangen, ihr Bruder ein Flüchtling in fremdem Lande und sie allein mit ihrem namenlosen Schmerz, dem sie sich nicht einmal hingeben durfte, denn die AUtagssorge nahm sie völlig in Anspruch. Zu ihrer Ueberraschung erhielt sie, wenige Tage nach der Verhaftung ihres Va ters, von Lomtesse Hermine ein Briefchen, in welchem diese schrieb, daß sie nothwndig die Freundin sprechen müsse und sie am andern Morgen vor der Jagdhütte erwarte. Angelika hatte die Unheilstätte noch nicht zu betreten gewagt, dennoch durste sie nicht zögern, der Einladung zu folgen. Sie traf Hermine schon anwesend, die auf der schmalen Bank vor der Hütte saß und ganz gegen ihre Gewohnheit in düsteres Sinnen verloren zu den halb entlaubten Wipfeln der nächsten Bäume emporstarrte. Sie hatte deshalb auch nicht die Annäherung Angelikas bemerkt und konnte bei dem Gruß derselben ein heftiges Aufschrecken nicht ganz verbergen. Unter welch traurigen Verhältnissen iahen sich die beiden Freun dinnen au eiuem Orte wieder, der ihnen in glücklichen Kindertagen sehr oft als Spielplatz gedient hatte! — Hermine mochte an diese selige Jugendzeit gedacht und über ihrer Träumerei die düstere Wirk lichkeit vergessen haben. Bei dem Gruß Angelikas erhob sich die Komtesse und die Freundin zärtlich an ihre Brust ziehend sagte sie: „Armes Kind! Wie furchtbar werden Sie gelitten haben!" Selbst in ihrer herzlichen Theilnahme schimmerte doch wieder etwas von jener geistigen Üeberlegenheit hin durch, mit der sie die Kleine stets behandelt hatte. Zu ihrem Er staunen zeigte Angelika nicht die völlige Gebrochenheit, die sich bei ihr vorausgesetzt, wohl schluchzte sie leise an dem Halse der älteren Freun din; aber thr ganzes Wesen verrieth nicht eine grenzenlose Verzwei flung, sondern eine stille Resignation. „Ich trage nur, was ich verschuldet," antwortete Angelika auf das Trosteswort der Freundin, und als diese sie fragend ansah, fuhr sie ruhig fort: „Warum hatte ich nicht den Muth, Arno zu sagen, daß er meiner Liebe nicht feindselig cntgegentrete» dürfe und es ihm nicht gelingen werde, mich von Ottomar zu trennen? — Dann wären die Beiden nicht zufammengctroffen! Aber ich war feig und elend, ich hoffte, das Glück würde mir in den Schovß fallen und jetzt weiß ich, daß man nichts auf Erden gewinnt, was man nicht muihig mit seinem Herzblut erwirbt." Sie hatte zuletzt mit großer Lebhaftigkeit gespro chen; ihre blassen Wangen rötheten sich und die blauen, sanften Augen erhielten ei» höheres Feuer. Welcher Gegensatz hatte stets zwischen den beiden Mädchen ge herrscht, der sich schon in ihrem Aeußern bekundete! Die fünf Jahre ältere Hermine mit dem fast gedrungenen Körper, dem unregelmäßigen Antlitz, aus dem nur die wunderbaren Augen als schönster Schmuck hcrvoÄeuchteten, konnte auf Schönheit und Grazie wenig Anspruch machen. All ihre Bewegungen waren rasch und heftig und schienen von einem unruhige», stolzen Geiste diktirt, der an Befehlen gewöhnt war. Auf der hohen, gewölbten Stirn zeigten sich leicht Furchen, sobald sie ihren leisesten Wunsch nicht erfüllt sah. Trotz und Eigen sinn verriethe» deutlich das hervorsteheude Kinn und der energische Zug um den M«nd, wie die ganze Haltung des ausdrucksvollen Kopfes. Ein männlicher Grist lebte sichtbar in diesem Frauenkörper. In An gelika dagegen herrschte die ausgeprägteste Weiblichkeit. Ihre sanfte, liebliche Erscheinung hatte etwas Blumenhaftes; während die junge Komtesse gewöhnt war, von Jngend auf allein zu stehen und den höchsten Reiz darin sand, andere unter ihren Wille» zu beugen, hatte ihre Freundin stets die Sehnsucht empfunden, sich anzulehncn und gerade dies Bcdürsniß, sich ein wenig geliebt und gehätschelt zu wissen, hatte ihr soviel Liebe eingetragen. Ihrem harmlose», unschuldigen Wesen, diesen blauen Kinderaugen konnte so leicht niemand widerstehen; während ma« ihrem schwermüthigen Vater sorgfältig auswich, selbst der ernste Bruder nicht völlig beliebt war, erfreute sie sich der allge meinsten Sympathien und ihre große Jugend hatte bisher noch die Stimmen der Neider zum Schweigen gebracht, die ihre rasch und wunderbar erblühende Schönheit so leicht erregen konnte. Jetzt schienen die Beiden ihre Rollen vertauscht zu haben; wäh rend Angelika mitten im Unglück einen ungewöhnlichen Muth entwickelte, zeigte Hermine einen weichen, träumerischen Zug, der sonst an ihr fremd war. Wohl nickte sie den entschlossenen Worten der jungen Freundin beistlinmend zu, — waren es doch von je ihre eigenen An sichten gewesen, — aber ein trübes Lächeln spielte dabei um ihre Lippen. „Sie haben Recht, Angelika," sagte sie, und ihre sonst Helle, beinahe scharfe Stimme hatte eine gedämpften Ton. „Dennoch weiß ich jetzt, wie leicht man in den Mitteln fehl greift, wenn man sich ein Glück erwerben will." Auf den fragenden Blick der andern fuhr sie nach einem tiefen Athemzuge fort: „Nicht Sie mit ihrer liebenswürdigen Schwäche haben das Schlimmste verschuldet, sondern ich mit mein«r energischen Willenskraft", und nun bekannte sie ohne weiteres, daß sie cS gewesen sei, die Arno zur Flucht getrieben habe. Die beiden jungen Mädchen hatten auf der schmalen Bank vor der Mooshütte Platz genommen. Angelika wurde von der Erzählung Herminens tief ergriffen, denn sie konnte wohl die bittere Reue be merken, die jene darüber empfand, daß sie Arno zu einem Schritt ver leitet, der einen folchen Schatten auf feinen Charakter warf und den unglücklichen Vater mit in die Gefahr verwickelte. Sie konnte deshalb der Jugendfreundin keine Vorwürfe machen und ihr weiches Herz hätte dies ohnehin nicht vermocht. „Ich habe den Schritt Arnos nicht begreifen können; jetzt freilich verstehe ich Alles. Wie groß muß feine Liebe fein, daß er Ihnen ein solches Opfer bringen konnte!" sagte Angelika und blickte der Freundin offen in das sich höher färbende Antlitz. Trotz ihrer tiefinneren Erregung entging Komtesse Herminen die Wandlung in dem Wesen der Jugendfreundin nicht. Sie schien in den wenigen Tagen um Jahre gereift zu fein, das bewies jetzt wieder ihre Entgegnung. „Und nun beklage ich es bitter, daß ich es gefordert habe," sagte sie leife und tief niedergeschlagen; dann erhob sic mit der ihr eigenen, raschen Bewegung das Hm'pt. „Ich will aber meine Schuld wieder gut machen. Wissen Sie bereits Arnos Aufenthaltsort?" „Er hat uns vor einigen Tagen geschrieben." „Dann bitte, sagen Sie ihm, daß ich ihn seines Wortes entbinde, ja, daß ich feine Rückkehr dringend wünfche"; als Angelika etwas da rauf erwidern wollte, fuhr Hermine in großer Erregung fort: „Oder noch besser, geben Sie mir feine Adresse, damit ich ihm selber schrei ben kann." (Fortsetzung folgt.) Vermischte». * Im Dorfe Kot schka bei Elsterwerda brachen am 5. Februar drei kleine Mädchen durch die mürbe Eisdecke der Elster. Zwei von ihnen, die 12jährige Tochter des Häuslers Richter und die 12jährige Tochter des Gutsbesitzers Weber ertranken, während es der Tochter des Häuslers Bräuning gelang, sich solange über Wasser zu halten, bis sie durch die schnell Herbeigcholtcn Eltern gerettet werden konnte. Redaction, Druck und Verlag von H. A. Berger in Wilsdruff.