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BeMAt zu Nr. 94 des Amts- u. Wochenblattes für Freitag, den 23. November !881. ilsdruff. Im We e. Novelle von Ludwig Habicht. Verfasser der Romane: „Auf der Grenze", „Der rechte Erbe" rc. Nachdruck verboten. (Fortsetzung und Schluß.) In unbeschreiblicher Aufregung harrte die Baronin auf eine Nach richt ihrer Verwandten. Jede Stunde wurde ihr zu lang; sie hätte die Minuten zählen mögen. — Sie bereme es, daß sie sich von Hen riette hatte bestimmen lassen, zurückzubleiben und in völliger Unlhä- tigkeit, in namenloser Qual die Zeit zu verbringen. — Wenn sie sich allein auf den Weg gemacht oder wenigstens ihre Freundin begleitet hätte, dann wußte sie schon alles, dann war sie bereits wieder im Be sitze ihres einzigen, theuren Kindes. Frau Harper hatte jedoch ihre ursprüngliche Absicht so entschieden wiederlegt. „Ettore ist viel zu ver schlagen, er würde auf der Stelle unsere Absicht errathen und dann mit allen Mitteln zu durchkreuzen wissen. Nein, lassen Sie mich allein reisen, und seien Sie überzeugt, ich setze alles daran, Ihnen Edith zurückzubringen, damit ich meine alte Schuld wieder gut mache," hatte sie in ihrer resoluten Weise erklärt, und die Baronin wußte wohl, daß ihre treue Gefährtin Wort halten werde. Mehrere Tage vergingen, und die unglückliche Fran erhielt keine Nachricht, ihre Unruhe steigerte sich auf das Höchste. Sie war schon der Verzweiflung nahe, da traf endlich ein Brief von Frau Harper ein, er enthielt nur wenige, schwer wiegende Zeilen: „Gesiegt! Kom men Sie auf der Stelle nach Berlin. Ich erwarte Sie mit dem nächstabgehenden Zuge auf dem Anhalter Bahnhof. Wir haben jetzt von unseren Feinden nichts mehr zu fürchten. Sie brauchen Ihre Abreise nicht geheim zu halten — im Gegentheil. Die Baronin sank in die Knie und schickte ein heißes Dankgebet zum Himmel. Sie sollte ihr Kind Wiedersehen, es auf immer wieder- haben, ihre kleine, liebe Edith, deren Verlust sie so tief betrauert. Es war fast zuviel des Glückes, und sie vermochte es kaum zu fassen. Selbst wenn ihr Henriette streng anempfohlen hätte, ihre Reise in den tiessten Schleier des Geheimnisses zu hüllen, sie hätte es nicht vermocht; denn sie war in ihrem Freudentaumel unfähig, für die Fahrt die mindesten Vorbereitungen zu treffen und mußte alles ihrem Dienst mädchen überlassen. Sie wäre am liebsten auf der Stelle und zu Fuß nach der nächsten Bahnstation aufgebrochen, und nur die Vor stellungen der Dienerin, daß sie dadurch gerade den nächsten Zug ver säumen werde, brachte sie von ihrem ersten Gedanken ab. Ein Wagen im Dorfe wurde rasch bestellt; denn trotzdem Frau Harper keine Gefahr mehr fürchtete, mochte die Baronin doch nicht ein Gefährt ihres Schwagers benutzen, und sie hielt diesem gefährlichen Menschen gegenüber noch immer die größte Vorsicht für nvthwendig. Wie lang, wie unsagbar lang wurden ihr die Stunden bis zur An kunst in Berlin. Endlich hielt der Zug in der stattlichen Hauptstadt. Henriette stand schon auf dem Perron und schloß ihre Verwandte stürmisch in die Arme. „Wo ist Edith?" fragte diese nur und blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. „Hier!" rief Frau Harper und führte ibr triumphirend ein halb erwachsenes Mädchen zu, auf desseu etwas gebräuntem Antlitz die Rosen der Gesnndheil blühten. Die Baronin blickte überrascht und verwundert auf die kräftige, blühende Erstheinuug. In ihrer Vorstellung lebte noch immer die kleine, zarte Edith, und sie brauchte Zeit, um sich bewußt zu werden, daß Jahre dazwischen lagen, und ihr Kind jetzt wirklich schon dies Alter erreicht haben mußte. „Bist Du meine Mama! Ja, Du bist's, so süß und freundlich hast Du immer mit mir gesprochen!" und das junge Mädchen schmiegte sich schüchtern und zärtlich an ihre Mutter an. „Es ist Edith, zweifeln Sie nicht, liebe Mary," sagte Frau Har per; „sehen Sie nicht das blaßrothe Mal am Ohr, daß wir alle im mer so hübsch gefunden?" Auch die Baronin fand sich jetzt in der Wirklichkeit zurecht. „Meine Edith, Ja, Du bist es wirklich!" jauchzte sie und zog die wiedergefundene Tochter innig an ihre Brust, während ihre feuchten Augen immer wieder über das Antlitz der Kleinen hinwegirrten, als wolle sie all die lieblichen Züge wiederfinden, die sie sich so fest ein geprägt hatte. Der schwergeprüften Fran war es, als ob sich plötzlich der Himmel für sie erschließe, und ein neues Leben ihre Brust erfülle. Für sie war die Außenwelt nicht mehr vorhanden; sie hatte ja ihr Kind wieder, und alle Erdcnseligkcit jauchzte durch ihre Seele. Sie beachtete nicht, daß von den vorüberströmenden Reisenden so mancher diese überschwänglichen Ausbrüche einer Zärtlichkeit belächeln mochte, die freilich nicht ahnen konnten, unter welchen Umständen hier ein Wiedersehen gefeiert wurde. Frau Harper dagegen hatte trotz ihrer freudigen^Aufrcguug ihre scharfen, klugen Angen überall forschend umherschweifen lassen, und cs war ihr nicht entgangen, daß aus dem Zuge ein Mensch gestiegen war, dessen rothes gedunsenes Gesicht sie augenblicklich wieder erkannte, obwohl er es mit einem Tuch umwickelt, als ob er Zahnschmerzen habe, und noch dazu die Mütze tief in die Stirn gedrückt hatte. Mit großer Vorsicht und in einem weiten Bogen war er an der Gruppe vorübergeschlichen, hatte dann noch mit einem anderen Manne gespro chen, der sich sogleich entfernte, während er selbst in der Vorhalle noch immer auf und abschlendertc, als erwarte er jemand. Ucber das Antlitz der energischen Frau flog ein trinmphircndes Lächeln. „So hat mich meine Berechnung nicht getäuscht," dachte sie, „und Ettore hat richtig seinen treuen Jacques nachgeschickt, um uns von Neuem eine Grube zu graben; aber diesmal kommst Du selbst in die Falle." „Entschuldigen Sie einen Augenblick, liebe Mary," wandte sie sich zu der Baronin, die kaum darauf hörte; dann ging sie auf einen Herrn im Civil zu, der sich hartnäckig in einiger Entfernung gehalten hatte, flüsterte mit ihm einige Worte und der Herr verschwand augenblicklich. „Liebe Kousine, wollen wir nicht endlich unser Hotel anfsuchen?" drängte Henriette; „denn einige Tage Erholung werden Ihnen nun gut thun." „Verzeihen Sie, meine liebe, theure Henriette," bat die Baronin, und, ibre Tochter ängstlich an der Hand haltend, als fürchte sie, ma könne sie ihr noch einmal entreißen, schritt sie der Ausgangshalle zu Ein furchtbarer Lärm erregte doch etwas ihre Aufmerksamkeit. Um einen Menschen der verhaftet werden sollte, und der sich gegen diese Maßregel zur Wehr setzte, hatte sich rasch eine Gruppe gebildet. „Ich bin Beamter des Grafen Berkheim und will den sehen, der mich verhaften kann!" schrie der Mensch fortwährend und geberdete sich wie ein Unsinniger. „Eben deshalb werden Sie sich vor Gericht zu verantworten haben," bemerkte der Herr in Civil, mit dem kurz zuvor Frau Harper gesprochen hatte. „Da kommt die Frau Baronin Berkheim!" rief Jacques plötzlich, der in seiner Verzweiflung den ihm gewordenen geheimen Auftrag ganz vergesse» mochte. „Sie wird Ihnen sagen, daß ich ein achtbarer Mann bin und den man nicht wie einen Verbrecher behandeln darf. O Frau Baronin —" Diese erschrak beim unerwarteten Anblick des Schurken; denn sie fürchtete sogleich, daß wieder ein schändliches Komplot im Werke sei; aber eh' sie noch antworten konnte, kam ihr Henriette in ihrer resoluten Weise zuvor: „Nem, mein lieber Jacqnes, es ist kein Jrrthum," be gann sie höhnisch: „Sie sind von mir erwartet worden; denn ich ahnte schon, daß Ihr sauberer Herr bereits wieder auf der Lauer liegen würde, und deshalb habe ich diese Herren bestellt, damit Sie sich we gen Entführung eines Kindes und all der andern begangenen Schand- thaten endlich verantworten mögen." Bei den Worten der Frau Harper verlor Jacques plötzlich seine trotzige Haltung; er sah sich ängstlich nach allen Seiten um, als er warte er noch Hilfe von irgend einer Seite; aber als sie nicht kam, ließ er sich ruhig abführen, und nur seine Augen warfen noch einen giftigen Blick auf die unternehmende Frau, die ihn so gründlich über listet und in die Falle gelockt. Ein junger Mensch, der doch den scharfen Augen der Frau Har per entgangen war, halte sich in einiger Entfernung gehalten und war schweigender Zuhörer des ganzen Vorganges gewesen. Jetzt schlich er ängstlich zurück, suchte vorsichtig an den Schalter heranzukommen und löste ein Billet, um mit dem nächsten Zuge schon wieder zurückzufahren, trotzdem er erst vor einer Viertelstunde angekommen war. Dieser Vorgang hatte doch die Baronin ungeheuer aufgeregt, und es kostete ihrer Verwandtin Mühe, die arme Frau zu beruhigen, die nun überall Gefahren sah. „Seien Sie ohne Sorge," beschwichtigte Henriette, „ich habe schon die nöthigen Schritte gethan, um Ettore un schädlich zn machen. Als ich Edith glücklich aufgefunden, reiste ich sogleich hierher und wandte mich an den englischen Gesandten um Hilfe und um vor jeder etwaigen Nachstellung sicher zu sein." „Ach, Henriette, wie soll ich Ihnen danken!" rief die Baronin und drückte der wackern Frau herzlich die Hand. Sie fühlte selbst, daß sie ohne einen sattsten Beistand vielleicht niemals in den Besitz ihres Kindes gekommen wäre; denn sie Hütte in diesem schwierigen Falle niemals eine solche Umsicht entwickelt. „Damit war viel-gewonnen," erzählte Henriette weiter. „Mit der Empfehlung des Gesandten fand ich bei der Polizeibehörde und bei den Gerichten leichter Gehör. Deshalb schrieb ich Ihnen, Sie möchten Ihre Abreise nicht geheim halten, darauf baute ich meinen Plan, und Sie sehen, er ist mir gelungen. Ich wußte ganz genau, daß Ihnen Ihr Herr Schwager einen seiner Vertrauten nachschickcn würde, und nun das Gericht erst einmal Jacqnes in Händen hat, wird es schon von dem Patron ein vollständiges Gestündniß erpressen." „Und ich habe also nichts mehr zu fürchten?" fragte die Baronin, die noch immer nicht ihre Angst völlig los werden konnte. Sie hatte ja von der Heimtücke und Verschlagenheit Ettores zu Schlimmes und Furchtbares erfahren. Solange Ihr Schwager noch nicht völlig unschädlich gemacht ist, werden wir hinreichend vor jedem neuen Streich geschützt. Der Po lizeipräsident hat mir dies selbst zugesichert." Nun erst beruhigte sich die Baronin und gab sich von Neuem dem Glücke hin, daß ihr Edith wieder geschenkt worden. Sie hatte nach den Bekenntnissen der Frau Berthold gefürchtet, ihr geliebtes Kind völlig roh und verwildert wieder zu finden, und sie war angenehm überrascht, daß Edith eine weit bessere Erziehung zeigte, als sie vor ausgesetzt. Es fehlte ihr freilich an der nöthigen Haltung, man sah ihr auch an, daß sie ein Kind der Natur geblieben; aber ihr Herz war wunderbar entwickelt und selbst ihre Schulkenutnisse ragten weit über das bescheidene Maß hinaus, das sich ein Kind erwerben kann, das bei Fischerslcuten anfwächst. Frau Harper löste das Räthscl. Der Pfarrer des kleinen Fischer dorfes hatte sich viel mit der Kleinen beschäftigt, sie mit seinen eignen Kindern unterrichtet, und da Edith ganz ungewöhnliche Fähigkeiten ge zeigt, hatte der treffliche Geistliche dem armen Fischerkinde eine beson dere Aufmerksamkeit geschenkt. So hatte sich Edith weit vortheilhafter entwickelt, als es unter andern Verhältnissen möglich gewesen und als es vielleicht in der Absicht Ettores gelegen. Die Baronin war unsagbar glücklich über diese Entdeckung; ja sie mußte sich gestehen, — und Henriette hatte sie besonders darauf aufmerksam gemacht, — daß ihr Töchterchen gerade durch diese Ein fachheit, in der sie ausgewachsen, vor s» manchen Gefahren bewahrt worden, die ihr ein anderes Dasein vielleicht bereitet hätte. Jetzt war ihr ursprünglich guter und edler Charakter voll und rein zur Erschei nung gekommen. „Gestehen wir es nur," sagte Frau Harper lächelnd, „wir hätten Edith doch ein wenig verzogen und einen kleinen Eigen sinn ans ihr gemacht." Ein Tag tränten Zusammenseins genügte, um die Herzen von Mutter und Kind so innig mit einander zu verschmelzen, als ob sie niemals so viele, viele Jahre getrennt gewesen. In Edith kehrten so manche Erinnerungen aus frühester Kindheit zurück; sie erzählte, daß sie ihre liebe einzige Mama doch nicht vergessen, und ihr süßes Bild ihr immer vor der Seele geschwebt habe. Die Mutter konnte nicht müde werden, die Schilderungen Ediths von ihrem einsamen, einför migen Leben am Meeresstrande zu hören. Es war für das feine Empfinden der Baronin unsagbar Peinlich,