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DageSgeschichte. Noch ist das erwartete Rundschreiben des Fürsten Gortschakoff nicht erschienen^ noch der Krieg von Rußland an die Türkei nicht offen erklärt, aber untrügliche Anzeichen machen es zur Gewißheit, daß wir uns auf ein Weltereigniß ersten Ranges vorzubereitcn haben, dessen Ausgang und Folgen sich menschlicher Voraussicht entziehen. Ein größerer Artikel der „Post" kennzeichnet die gegenwärtige po litische Lage mit folgenden Schlußworten: Tie russische Weltmacht steht vor einer ungeheuren doppelten Prüfung: vor der Prüfung ihrer Fähigkeit zu siegen, wo der Sieg gewaltig erschwert ist, nicht durch die Macht des Gegners, sondern durch die Natur der einzunehmenden Länder; und vor der Prüfung, im Fall des Sieges den Meister in der Beschränkung zu zeigen. Könnte Rußland die zweite Prüfung nicht bestehen, so würde es sich einem Weltbündniß gegenüber finden. Auf alle Fälle erregt das russische Unternehmen die Sorge der Welt. Die Stunde wird kommen, wo cs der kräftigen und staatsklugen Freundschaft bedarf, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Russische Stimmen haben in diesen Tagen an die Telegramme erinnert, welche am 27. Februar 1971 der deutsche und der russische Kaiser tauschten. Kaiser Wilhelm sprach zu seinem kaiserlichen Bruder: „Nie wird Preußen vergessen, daß cs Ihnen verdankt, daß der Krieg nicht die äußersten Dimensionen angenommen; Gott segne Eure Majestät!" Wenn Rußland das große Unternehmen, vor dem es steht, ehrenvoll und maßvoll durchzuführen im Staude sein wird, wie einst Deutsch land seine Abwehr, so wird Rußland Ursache haben, den Dank uns zurückzugeben, den unser Kaiser 1871 an den russischen Herrscher lichtete. Fertig! kann Rußland rufen, wie der Zugführer auf der Eisen bahn. Alles ist diplomatisch fertig zum Krieg und zur Noth auch soldatisch. Die Note an die Mächte, welche dem Krieg vorausgeht wie der Blitz dem Donner, ist fertig und wahrscheinlich bereit: ab- gegangen, sie wird in Berlin, Wien, Paris, London und Nom durch besondere Gesandte abgegeben. Montag den 23, d. M. sollte Kaiser Alexander im Kricgslager in Kischcneff cintreffen und andern Tags wird die Kriegserklärung folgen, vielleicht auch ein paar Tage später in Moskau, dem Sitz des alten Nussenthums. In Moskau herrscht große Aufregung, täglich versammeln sich große Massen in den Kirchen und erwarten die Kriegserklärung, die von den Kanzeln oder Altären verlesen wird. Hunderte und Tausende junger Russen aus den vor nehmsten Familien treten als Gemeine in die Regimenter ein. Man spricht nur von Krieg und die Aufregung ist die höchste. Nach dem Ausbruch des Kriegs wird der deutsche Gesandte den Schutz der Russen in Constantinopel übernehmen, in den andern türkischen Städten deutsche und österreichische Consuln. Das werde», wenn erst der Fa natismus ausgebrochen ist, böse Posten sein. Aus Petersburg 16. April schreibt man der Pol. Korresp.: Die Stimmung hier ist eine fieberhaft erregte. Täglich finden Sitzungen des Minister-Komitees und des Kriegsraths statt. Da man von England Alles zu gewärtigen hat, bereitet man sich auch ernstlich für die Eventualität eines Krieges mit demselben vor. Aus den Truppen der nördlichen Militärbezirke wird eine Nord-Armee zum Zwecke der Küstcn-Vertheidigung gebildet. Für die Ostsee-Häfen werden Torpedos vorbereitet. In Kurzem dürfte die Opoltschenje (Landwehr) einbernsen werden. Zahlreiche russische Untcrthanen sind von Constantinopel ab gereist. Ebenso verlassen alle russischen Handelsschiffe den Hasen. Auf der russischen Botschaft werden alle Vorbereitungen getroffen, um unverzüglich nach dem Eintreffen des bezüglichen Befehls abzureisen. Gegen Montenegro haben bisher keine militärischen Operationen statt- gesunden. Die Miridite» haben sich unterworfen. Von der asiatisch-russisch-türkischen Grenze wild das Vorrücken der russischen Truppen gemeldet. Industrie und Handel stocken und alle Welt ist in Mit leidenschaft gezogen, auch in Frankreich, das bisher noch am besten gestellt war. Das „Journ. des Dsbats" widmet diesem „Marasmus" eine eingehende Betrachtung, um die Ursache desselben nachzuweisen. Eine dieser Ursachen sei die immer brennender gewordene orientalische Frage, die dem civilisirten Europa seit 1815 schon ungeheure Summen Geldes gekostet hat; die zweite Ursache das Gründerthum, das in jungen Industrieländern wülhcte und sich die Iankces zum Muster nahm, das in einem Jahre 11,000 Kilometer Eisenbahnen baute und damit in Wahrheit eine größere Ausschweifung beging, zu der ein Theil des Geldes in Europa aufgetrieben wurde. Auch Staaten Südamerikas liehen enorme Summen in Europa auf, um Eisenbahnen in wüsten Landstrichen zu bauen. Europa stürzte sich dann nach dem Kriege kopfüber in den Schwindel; die Ueberschätzung des Werthes der fünf Milliarden in Deutschland, die Speculationsraserei Oester reichs, die tollen Spekulationen Englands, das Alles ist weltbekannt. „Frankreich", fügt das „Journal des Döbats" hinzu, „war stets klüger und zurückhaltender als seine Nachbarn; aber setzt einen Weisen mit zwischen Ueberspannte und er wird unfehlbar von der Ueberspannt- heit angesteckt und in die Folgen der Narrheit verwickelt werden. Es ist daher gar nicht zu verwundern, daß alle Ausfuhr stockt, der Eisenbahnbetrieb nachläßt und wir anfangen zu ahnen, daß die neuen Steuern uns schwer aufliegen und unsere Production schwer be drücken. Das „Jounal dcs'Dvbats" schließt seine Betrachtung über die volkswirthschaftliche Lage mit der Bemerkung: „Die Stockung der Geschäfte ist eine Thalsache; niemals vielleicht hat die Welt den Frieden mehr nöthig als jetzt, um aus übertriebenen Operationen sich loszureißen, eine allgemeine Krisis zu beseitigen und zu einer so lideren industriellen Lage und zumGleichgewichte zu gelangen. Leider aber stand der Friede kaum je auf schwächeren Füßen. Die Un sicherheit der internationalen Beziehungen kommt zu so vielen nieder- drückenden Ursachen hinzu, und die Folgen davon sind geradezu un berechenbar." Nach einer New-Iorker Depesche der „Daily News" beträgt die Zahl der beschäftigungslosen Arbeiter in den Vereinigten Staaten gegenwärtig 3,000,000, wovon 50,000 auf New-Jork kommen. Ein allgemeiner Wiederaufschwung des Geschäfts wird während der nächsten Zeit nicht erwartet. Die Löhne sind fast in allen Bcschäftigungszwcigen beträchtlich gefallen und neigen sich noch immer abwärts. Es werden keine Eisenbahnen gebaut. Viele Fabriken in Neu-England sind ge schlossen und über die Hälfte der Arbeiter in dieser Section feiert. In den Bergbaudistricten herrscht großer Nothstand. Das Arbeits- bnreau in New-Jork berichtet, daß die Aussichten für die Arbeiter klassen sehr ungünstig seien. Vermischtes. Dresdner Pfandleiher. Im Dresdner Adreßbuch für das Jahr 1877 sind unter der Rubrik „Pfandleiher" 104 Personen resp. Institute aufgcsührt, welche sich mit dem Beleihen von Pfändern be fassen. Die in dieser Liste Genannten sind aber nur die Concessio- nirten, die Nichtconcessionirten verstecken sich hinter andere Firmen. So dürften z. B. unter den 65 Trödlern, welche das Adreß buch aufweist, manche sein, welche unter der Form von „Rückkaufs geschäften" Pfänder nehmen. Daß in den heimlichen Pfandgcsä ästen der ärgste Wucher getrieben wird, ist wohl zweifellos; aber auch in den concessionirlen Pfandleih-Anstallen nimmt man den kleinen Procenisatz von 120 Procent x. a. Auf 190,000 Einwohner Dres dens kommen also 104 Pfandlcihanstalten, d. h. circa ans je 475 Familien eine. Nimmt mau die heimlichen hinzu, deren Zahl die der öffentlichen wohl um das Doppelte übersteigen dürste, so kann man ungefähr ermessen, wie viel Wucherzinsen von der Dresdner Bevölkerung — und gerade von der ärmeren — aufgebracht werden müssen. Interessant ist auch der Umstand, daß unter den 31 Auctio- natoren, welche das Adreßbuch aufführt, sich 6 befinden, die zugleich Pfandleiher sind. Im österreichischen Erzgebirge, wo Spitz enkl öppelei gerade Wie im sächsischen die bedeutsamste Hausindustrie bildet, herrscht un unterbrochen Nothstand, er hat aber gegenwärtig die gewöhnlichen Grenzen weit überschritten. In Folge dessen hätte der Obmann des Prager Vereins zur Beförderung der Erwerbsthätigkeit im böhmischen Erz- und Riesenzebirge das Wohlwollen der Kaiserin für die armen Spitzenmacherinnen «»gerufen und gleichzeitig eine Mustersammlung von Spitzen aus dem böhmischen Erzgebirge vorgelegt. Die Kaiserin bewilligte 3000 Gulden für Hebung der Spitzen-Industrie, machte selbst bedeutende Bestellungen und beauftragte die Fürstin Auersberg, die Wiener Dame» für reichere Verwendung von Spitzen zu ge winnen. Ritter v. Dotzauer, Präsident der Handelskammer in Prag, richtet nun an alle deutschen Modezeilungen die Bitte, mitzuwirken, um die Spitzen wieder in Mode zu bringen. Krupp in Essen hat der ernsten Verwarnung an seine Arbeiter, daß er keine Wühler brauchen könne, die ernste Thas folgen lassen. 30 Arbeiter, die sich der Ordnung nicht fügen wollten, hat er ent lassen; die socialistischen Blätter sprechen von 130; sie zählen wahr scheinlich die hinzu, die auf dem Sprunge stehen. In Dessau große Bestürzung, weil die beiden Directoren der Gewerbebank, der Stadtrath Fiedler und der Kaufmann Eiseck, flüchtig geworden sind und wegen Betrugs m>d Fälschung steckbrieflich verfolgt werden. Beide waren angesehene Leute und galten als sehr vermög- liche Männer. Das Defizit soll an 160,000 Mark betragen und viele kleine Leute schädigen. In der Eger bei Eger wurde dieser Tage ein Hecht von 59 Pfund Gewicht gefangen; er trug 13 Angelhaken an seinem Leibe. Die Folgen der deutschen Gewcrbefreiheit, Freizügig keit und Heirathssreiheit sind ganz besonders in dem industriellen Königreich Sachsen beachlenswerth. Sachsen war 'der erstsjlgrößere deutsche Staat, welcher (schon im Jahre 1861) die Gewerbefreiheit emgesührt und seitdem verhältnißmäßig weit mehr Arbeitskräfte an gezogen hat, als andere Staaten. Die sächsische Bevölkerung ist auch nach der letzten Volkszählung von 1871 bis 1875 wieder von 2,556,244 aus 2,760,586, d. i. um 204,342 Personen, gewachsen, was eine jährliche Zunahme von 2 Procentausmacht, während die durchschnitt liche jährliche Zunahme der Bevölkerung im ganzen deutschen Reiche nur 1 Procent beträgt. Diese wachsende Bevölkerung scheint sich nach den Ergebnissen der officiellen Statistik in viel günstigeren Erwerbs- vcrhältiüssen als früher zu befinden. Aus dem neuesten Hefte der Zeitschrift des königl. sächs. statistischen Bureaus, welches eingehende Untersuchungen über die socialen Zustände der sächsischen Bevölkerung enthält, ergiebt sich, daß im Jahre 1867 in Sachsen nur 22,077 und 1869 23,778 Ehen geschlossen wurden. Die Zahl der Ehen sank zwar in den Kriegsjahren und betrug im Jahre 1871 nur 21,547, hob sich aber 1872 auf 26,140 und ist bis 1875 auf 29,068 Eheschließungen gestiegen. In Folge dessen hatte die Zahl der ledig gebliebenen Frauenzimmer im Jahre 1875 im Vergleich mit 1871 bei den Alters stufen von über 20 bis 30 Jahren um 3471 abgenommen. Höchst erfreulich ist, daß die Zahl der unehelichen Kinder, besonders im letzten Jahrfünft, erheblich abgenvinmen hat. Herr Patsch kommt vom Bade zurück und begegnet einer guten Freundin. „Glücklich vom Bade zurück?" — Ja wohl, aber bis jetzt spüre ich keine Wirkung vom Wasser. — Thut nichts, die Wirkung kommt schon noch. Ich habe Jemand gekannt, der erst ein halbes Jahr danach gestorben ist.