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dtz Jeilage zu No. 18. des Wochen- und Amtsblattes für Wilsdruff rc. Freitag den 1. März 1878. Tagesgeschichte. Das Resultat der beiden Reichstagssitzungen vom vergangenen Freitag und Sonnabend ist bekanntlich dahin ausgefallen, daß die Vorlage des Gesetzes über die Besteuerung des Tabaks an die Bud- gelkonimisfionen verwiesen wurde und somit die Annahme berechtigt erscheint, daß mit diesem Beschlusse die Steuervorlagen für diese Session überhaupt beseitigt sind. Ucber das Interesse, welches der Kampf um die Besteuerung des Tabaks, die, was Niemand leugnet, tief in sehr große Kreise der Bevölkerung hineingreist, sind aber die höchst dramatischen Szenen hinausgegangen, welche sich in beiden Sitzungen zwischen dem Reichskanzler und dem Finanzminister Camp hausen abspiclten. Der Finanzminister hatte zuerst auf ein von ihm ziemlich genau vor einem Jahr verfaßtes Memoirc verwiesen, in welchem er sich für das Tabaksmonopol ausgesprochen hatte. Er hatte ferner den Reichskanzler förmlich zum Zeugniß aufgesordert, daß er sich mehrfach bereit erklärt habe, seine Entlassung zu nehmen, wenn dies aus politischen Gründen opportun sei und der Reichskanzler hatte dies nicht nur bestätigt, sondern seinem Nachbar in den wärmsten Worten seine Anerkennung für dessen charaktervolle Haltung ausge sprochen, eine Szene, wie sie in Parlamenten selten und gewiß noch seltner an Ministerlischen vorkommt. Trotz dessen hatte sie nicht den mindesten Einfluß auf die Entschließungen des Hauses, im Gcgentheil war die nationalliberale Partei in ihrer großen Mehrheit, bisher die stärkste Stütze des Finanzministers, durch einige gegen sie gerichtete Andeutungen und dadurch, daß der Finanzminister am ersten Tage seine eigentliche Ansicht über die Tabakssteuerfrage und seine Hin neigung zu dem Monopol verschwiegen hatte, in hohem Grade ge reizt und die Sprache ihrer Organe giebt dieser Stimmung einen sehr lebhaften Ausdruck. Erwähnt sei noch, daß Fürst Bismarck in der am Montag statt- gefundcnen parlamentarischen Soiroe nur ganz beiläufig auf die Steuervorlagcn zu sprechen kam. Er meinte, die Sache sei gar nicht so tragisch und ernst zu nehmen, um daraus eine Kabinetssrage zu machen! Sollte die Tabaksfteucrvorlagc abgelehnt werden, so werde man sich danach umsehen müssen, auf welchem Wege dem Reiche neue Einnahmen zuzuführen seien. Im Allgemeinen machte es auf die an wesenden Abgeordneten den Eindruck, als wenn der Reichskanzler sehr leicht und cavalicrement über diese Sachen hiuweggiuge. Das nunmehr endgültig scstgestelllc Programm zum bevor stehenden 5. allgemeinen Turnfest in Breslau gestaltet sich nach der „D. T. Zig." folgendermaßen: Sonnabend den 27. Juli: Vormittag 9 Uhr deutscher Turnlag. — Sonntag, 28. Juli: Vormittags IOV2 Uhr Gebächlnißfeier für Fr. L. Jahn im Schiebwerder. Nachmittags 2 Uhr Ansstellung zum Festzug im Schießwerder. 3 Uhr Festzug durch die Stadt auf den Festturnplatz am königlichen Palais. All gemeine Freiübungen. Mustcrlurncn der außerdeulschen Turner, der Kreise, Gaue und Vereine. Allgemeines Kürturnen. — Montag den 29. Juli: Vormittags 8 Uhr Ausstellung zum Festzuge auf dem Platze an der neuen Turnhalle vor dem Zicgelthore. 9 Uhr Fort setzung des Musterturncns auf Lem Festturnplatze am königlichen Palais (wen» cs nölhig ist und die Zeit cs gestattet). Wettturncn Einzelner am Neck, Barren und Pferd. Nachmittags 1—3 Uhr Mittagspause. 3 Uhr volksthümliche Wcttubungen. — Dienstag den 30. Juli: Turnfahrt nach der Schucekoppe. Oesterreich macht eine Anleihe von 60—100 Millionen Gulden, sie ist von sämmllichen Ministern unter Vorsitz des Kaisers beschlossen worden. Da Rothschild und die Bank Körbe gaben, ging man nach London und soll mehr Glück gehabt haben. Auch über die Mobil machung zweier Armeecorps laufen Gerüchte. Mit dem Geld und den Ärmeecoips in der Tasche wird Graf Andrassh zum Cougreß in Baden-Baden gehen. Das Kricgsministcrium in England kaust 21,000 Pferde an. — 10,000 Russen haben St. Stefano besetzt und sehen den Häusern in Constanlinopel unmittelbar in die Fenster. Das Hauptquartier des Großfürsten Nicolaus ist daselbst. Der Präliminarfrieden von Konstantinopel sollte schon am 24. Februar unterzeichnet werden, aber bis heute liegt noch keine Nachricht vor, durch welche es bestätigt würde. Dessenungeachtet ist wohl an dem erfolgten Abschlusse der Verhandlungen zwischen der Türkei und Rußland nicht mehr zu zweifeln, denn die Anwesenheit des Großfürsten Nikolaus in San Stefano, wohin gleichzeitig ein russisches Corps in der Stärke von 1200 Mann gerückt ist, während weitere 9000 Mann in Kutschuk Tschckmcdje sich befinden, deutet da rauf hin, daß die Pforte sich den Bedingungen Rußlands unterworfen hat. San Stefano ist, wie hier gleich bemerkt sein mag, ein kleiner Ort, eine deutsche Meile von Konstantinopel entfernt und an der Küste des Marmarameeres zwischen Kutschuk Tschekmedje und der türkischen Hauptstadt gelegen, es ist gleichzeitig Station der nach Adrianopel führenden Eisenbahn. Vor dem Sultan noch werden die Tscherkessen nach Asien wandern. Sie sind wilde Thiere, Bestien, die ohne Unterschied Freund und Feind überfallen und nicdermetzeln. Mord, Brand und Schändung find ihre Tagesordnung, einerlei gegen wen. Sie haben türkische Dörfer nicdergebrannt so gut wie christliche unh alles massakrirt. Neulich wollten sie Perg, die europäische Vorstadt Konstantinopels, anzünden, um nach Herzenslust zu morden und zu plündern; in Pera wohnen die europäischen Gesandten rc. Zum Glück wurde der Plan verrathen uud durch regelmäßige Truppen vereitelt. Nun will man sie endlich nach Asien zurücktransportiren, woher sie gekommen und es wird ihnen nichts mehr helfen, daß der Sultan, die Prinzen und Pascha's die Schwiegerväter und Sckwäger vieler Tscherkessen sind und mit Vorliebe die wilden Rosen des Kaukasus in ihre Haus gärten versetzen. Den „Daily News" wird unterm 20. Februar aus Bukarest geschrieben: „Ich habe soeben mit dem Oberstabsarzt Baker gesprochen, welcher in den letzten Tagen aus Tirnowa zurückgekehrt ist. Er hat alle russischen Spitäler zwischen Simnitza und dem Balkan besucht, und giebt an, daß sich in diesem Distrikt über 22,000 kranke und verwundete russische Soldaten befinden. Der größte Theil liegt am Typhus darnieder. Die Krankenwärterinnen leiden schrecklich unter diesem Uebel. In einem Spital zu Simnitza, wo sich zwanzig Krankenwärterinnen befinden, sind sechzehn am Typhus erkrankt und zwei soeben gestorben. Oberstabsarzt Baker spricht mit den wärmsten Ausdrücken von dem Muthe, der Energie und Hingebung, welche die russischen barmherzigen Schwestern überall zeigen." Das Erste, was der neue Papst Leo XIII. that, war, daß er in tiefstem Inkognito in seine alte Junggescllenwohnung fuhr, nm seine Papiere zu ordnen. Seine Papiere sind also in Ordnung. Das Zweite sucht er noch sammt seinen Cardinälen, nämlich den schicklichen Fuß, ans den er sich mit dem König Humbert und seinen Ministern stellen kann; er mutz doch einmal mit ihnen als seinen nächsten Nachbarn leben, und zu thnn, als ob er in seinem Vatikan ein Gefangener sei und auf Stroh schlafe, scheint ihm lächerlich. Mit dem Reformiren hat er wie billig bei sich und seinem Hause angefangen. Aus der Cajüte des Schiffleins Petri, die er selber be wohnt, hat er viel unnütze» Ballast über Bord geworfen 1) die vielen faulen Schmarotzer des päpstlichen Hauswesens und 2) sogar die päpstlichen Haustruppen, die ans der Welt nichts zu thun haben und ein Heidengeld kosten. Die Sammlung des Peterspfcnnigs soll er auch eingestellt haben. Der Klingelbeutel wird also nicht mehr in der katholischen Welt herumgchen und es wird nicht mehr wie zu seines Vorgängers Leo und Tetzels Zeit heißen: Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt! Oertliche und sächsische Angelegenheiten. Dresden. Die Zweite Kammer hat vor ihrer Vertagung noch die Beralhung der Steuervorlage beendet. Die Regierungsvorlage, wonach die Gewerbe- und Personalstcuer wegfallen, die Einheit für die Grundsteuer 4 Pf. betragen soll und der Fehlbedars im Budget lediglich durch die Einkommensteuer zu decken ist, wurde mit 47 gegen 22 Stimmen angenommen. — Am Freitag ward in der Albcrtvereins - Lotterie der erste Hauptgewinn: das silberne Tafelservice (Werth 36,000 Mark) für die Nummer 193,590 gezogen. Der glückliche Gewinner ist ein Lehrer in Gölzau an der Nordsee. Die im Oktober 1876 in Angriff genommene, im Juli 1877 aber bis auf Weiteres sistirtc Durchtunnelung des Gicß- mann'schcn Weinbergs zu Niederlößnitz ist seit 4 Wochen wieder Tag und Nacht im Gange. Die Länge des zu durchbohrenden Sienitge- birges beträgt 370 in mit einer Weite von 2 rn Höhe und 1 rn Breite im Lichten und sind jetzt noch 70 w zu durchbohren, so daß man die Beendigung des schwierigen behufs Zuführung reinen Quell wassers für die Niederlößnitz unternommenen Werkes Anfangs Mai erwarten kann. Gegenwärtig ist der von beiden Seiten in Angriff genommene Tunnel bis in des Berges Mitte vorgerückt und beträgt hier die Mächtigkeit des Gesteins über demselben etwa 40 rn DurchschniltShöhe. Monsieur Herkules. Humoreske von Emilie Heinrichs. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Dieses Schreiben, welches, wie wir wissen, die zumeist dabei Be- theiligte bereits gelesen hatte, las der Müller in diesem Augenblicke seiner Frau vor, die mit sichtlichem Interesse zuhörte und zu dem Schluffe desselben befriedigt nickte. „Der Schwager Hal recht", sprach sie, wer in der Jugend nicht ausgerast hat, thut's in der Ehe, drum mögen sie den Wilhelm immerhin locker schelten —" „Die Theologen sollen darin besonders hervorragen", schaltete der Müller schalkhaft ein, „kanns ihnen nicht verdenken, da sie späterhin Andere davor warnen sollen, was man natürlich nur durch eigne Erfahrung vermag." Die Müllerin überhörte die beißende Bemerkung ihres Gatten und fuhr hastig in ihrem Satze fort: „ich muß ihn deshalb loben und ersuche Dich, dem Schwager nur sogleich das Jawort hin zuschreiben." „Ohne unsere Marie gefragt zu haben?" Diese machte große Auge» und schüttelte erstaunt den Kopf. „Haben denn meine Eltern mich gefragt, als ich Deine Frau werden follte, Lorenz? — Seit wann ist das Mode geworden in unserm Lande?" „Na, die Zeiten ändern sich, Grethe", lachte der Müller. „Du bist auch nicht in der Stadt erzogen worden, spieltest kein Clavier und dergleichen mehr. Jetzt wollen die Kinder auch gesragt werden, wenn sie heirathen sollen, und man kann Gott danken, wenn sie nicht Hinterm Rücken der Eltern ihren Schatz sich aussuchen und ihren Willen durchsetzen." „Ei, das sollte mir nicht passiren", rief die Müllerin, „meine Kinder sind nicht gewohnt, nach ihrem eigenen Gefallen zu schallen, — darum thue, was ich sage, Lorenz, schreibe dem Schwager unsere Einwilligung und daß er den Wilhelm nur selber herschicke. „Meinetwegen", nickte der Müller, „ich will Deinen Willen re« spectiren und noch heute den Brief beantworten." Er nahm bei diesen Worten eine Zeitung und vertiefte sich in die Lectüre derselben, während die Müllerin ihr Spinnrad hervor holte und es fleißig schnurren ließ. Der Müller war ein großer Bücherfreund und sammelte, wie die Bienen, selbst aus der schlechtesten Lectüre ein goldenes Körnchen der Weisheit. Er las deshalb auch Alles, was ihm in die Hände gericlh; „denn", sagte er, „giebt es Menschen, die sich der Mühe unterziehen, solches zu schreiben und zu drucken, so kann ich mir auch wohl die geringere Mühe machen, es zu lesen." — Der Müller Lorenz war auch hierien ein Original, wie man deren nur wenige im deutschen Vaterland« treffen mag, und manches längst vergessene oder unbeachtete Buch kam in seiner Hand zu Ehren.