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8. Beilage Sonnabend, 88. November 1998. Leipziger Tageblatt. Rr. «9. ISS. Jahrgang. Albert Lmll Brachvogel. lDem Dichter des „Narziß" zu seinem 30. Todestage.! Von Dr. Wilhelm Mießner. Die Welt ist undankbar von Grund aus. Noch alle, die um jeden Preis sich ihre Gunst erwerben wollten, hat sie genarrt. Und die klüg sten waren zuletzt stets, die das Reservatrecht ihrer eigenen Persönlich keit wenigstens bei diesem Hasardspiel nicht als letzten verzweifelten Ein satz hergaben. Hebbel oder Nietzsche, wahrscheinlich beide, haben das derbe Wort geprägt: Werke sind Exkremente des Geistes. Schwache Naturen können leicht dabei einen Durchfall bekommen. Es gehört eine strenge Disziplin dazu und eine gesunde Rücksichtslosigkeit, dem Buhlen Ruhm sich rechtzeitig zu versagen. > Albert Emil Brachvogel, dessen dreißigster Todestag aus den 27. November 1908 fällt, gehörte zu jenen Künstlern, die mit ihrem Talent leichtsinnig gewirtschaftet haben und dafür die bittere Erfahrung machen müssen, ihren Ruf zu überleben, welchen Zustand Diderot mit dem einer hübschen Frau vergleicht, die morgens eine Blatter auf der Nase gewahr wird. Es ist gewiß kein Zufall, daß von seinen fünfzig Bände umfassenden Dichtungen nur die zwei Eindruck auf seine Zeit gemacht haben, in denen die Helden dem gleichen Schicksal erliegen. Es war das Schicksal ihres Autors. Werke sind Exkremente des Geistes. Ich meine den „Narziß", noch heute die Glanzrolle in der Provinz gastierender Hofschauspieler, die den Namen des bühnengewaltigen Dessoir für sich ins Treffen führen können. Und den Roman „Friede mann Bach", der das traurige Schicksal des genialischen, aber im Strudel des sächsischen Hofes verwahrlosten Sohnes des Johann Sebastian in einer kernigen, mit seltener Sach- und Zcrtkenntnis geschriebenen Bil derfolge darstellt. Ja um dieser beiden Werke willen verdient auch ihr Dichter noch einmal aus dem Höllcnschlund der Vergessenheit gerissen zu werden. Aber ach, wie wenig ist das, gegen die Hoffnungen, die sich der rastlose Pläneschmieder einst gemacht hat und die er in unzähligen Nachtarbeiten endlich doch zu erhaschen hoffte. Brachvogel wurde am 29. April 1824 in Breslau als Sohn eines Hurzwarenhändlcrs geboren. Durch seine Geburt rettete er seine Mutter von einer Geisteskrankheit, die die Acrztc für unheilbar aus gegeben hatten, bis sie 1830 beim Tode ihres Gatten wieder in Schwer mut und Gemütstiefe zurücksank. Die Jugend des ebenfalls zurück gebliebenen Knaben war keine freudige, wie man sich leicht ausmalcn kann. Die kranke Mutter bestimmte ibn zum Theologen und war sehr unglücklich, als Emil mit vierzehn Jahren keine Lust mehr an den Wissenschaften des Gymnasiums fand. Er wurde, da sich der Junge entschlossen zeigte, Schauspieler zu werden, zu einem Graveur in die Lehre gegeben, das Aeußerste, was man ihm an künstlerischer Betätigung gestatten zu dürfen glaubte. Später ging man herauf bis zum Bild- Hauer. Die Folge davon war, daß der einundzwanzigjährige Jüngling, der eifriger als die Lehrstätte die NniversitätSvorlcsungen von der Familie bekannten Professoren besucht hatte, beim Tode seiner Mutter lbei ihrem Umherwandern waren sie gerade in Wien angelangts doch auf die Bretter flüchtete. Er spielte in Hitzing bei Wien den Kosinsky in Schillers Räubern. Als er hier sowie auf der Hosbühnc einen un zweideutigen Durchfall erlebt batte, entschloß er sich kurzer Hand für die literarische Tätigkeit. In Breslau ergänzte er zunächst, so gut cs noch gehen wollte, seine autodidaktische Bildung durch ein zweijähriges Universitätsstudium, da es ihm an guten Verbindungen nicht mangelte, und konnte schon 1850 die Erstaufführung eines Stückes „Jean Favard", eines politischen Tendenzstückes, aber auch das erste glänzende Fiasko als Dichter erleben. Da er durch seinen Anteil am Geschäft, das nach dem Tode des Vaters sein um vieles älterer Bruder übernommen hatte, unabhängig voi? den ausbleibendcn literarisch^ Einträhmen war, ver heiratete er sich mit Julie Hardt und kostete in einem Landhaus in GörberSdors im Riesengebirgc Familienglück und Schaffensfreude bis zum Jahre 53 ungestört aus. Der Bankerott des Geschäftes veranlaßte ihn dann, sich nach einer Brotstelle umzusehen, die er denn auch schnell als Sekretär des Berliner Feuilleton. Die verführerischeste Liebeserklärung für eine fein fühlende Frau ist die Verlegenheit eines geistvollen Mannes. , Balzac. Krollschen Theaters und dann als Sekretär des Besitzers der National- zeitung und Leiter eines telegraphischen Preßbureaus fand. Seine un ermüdliche Schaffenslust verschaffte sich auch jetzt noch so viel Zeit, daß er einer Reihe schon fertiger Dramen die Ausarbeitung des Narziß zufügte, der am 7. März 1856 im Berliner Königlichen Schauspielhaus zur Erstaufführung kam und mit einem Schlage das Glück des Autors machte, als ein Erfolg, der, wie Zeitgenossen behaupten, den späteren sebr ähnlichen Erfolg von Sudermanns „Ehre" noch um vieles übertraf. Das Berliner Schauspielhaus war damals die für Mittel- und Nord deutschland maßgebende Bühne. Dessoir, Hendrichs und Döring wirkten zu gleicher Zeit an ihrem Ruhm. „Ludwig Dessoir", schreibt Karl Frenzel, „war der geborene Narziß. Das Lumpen- und Virtuosentum, die schneidige Ironie, die hinschmelzende elegische Klage, durch die Ver wahrlosung der äußeren Erscheinung und die Verbitterung des Herzens hindurchklingend der Ton der Sehnsucht nach den Idealen, wie von ferner Aeolsharfe, aufblihend der Adel des Geistes wie ein Stern durch Wolken. Dabei kein Durchbrechen des Rokokorabmens, in den die Dich tung hineingestellt ist. Wenn Diderot diesen Neffen Nameaus hätte sehen können, welche Studie über die Schauspielkunst würden wir be sitzen. Die Leistung war Desioirs höchste." Diese Hymne auf den Schauspieler, wie sehr erinnert sic uns an unser gegenwärtiges Theater, in dem äuch ost das Hervorrufen des Schauspielers den Ruf nach dem Dichter überschreit. Wenn Goethe diese Bearbeitung seines geliebten nsvou ck« Uaineau erlebt hätte, welch scharfes Epigramm auf den Theaterdichter würden wir besitzen, müssen wir billig hinzufügen. Und doch müssen wir staunend anerkennen, wie die ganze Unruhe der Zeit, ihre unbefriedigte Kritik au den politischen Zuständen in dem Glüh ofen eines sich selbst vergessenden Schaffens hier zu einem der merk- würdigsten Bühnenstücke zusammengeschweißt wurde. Jetzr hatte Brachvogel Zeit, Muße und Unabhängigkeit genug, seine zahllosen anderen historischen Pläne in Dramen auszuarbciten. Aber ob er den alten Dcrslinger, die Prinzessin Montpensier, Eromwell oder den Erfinder der Dampfkrast Mon de Caus zu beschwören kam, es wollte ihm nicht wieder gelingen. Narziß blieb sein einziges Stück, das es über die ersten zu zahllosen Aufführungen hinausbrachtc. In Berlin, wo er noch einmal als Redakteur des Johanniterordens- blattes tätig war, dann in Lichtencldc in seiner Villa oder in Freien walde, wo er den Sommer verlebte, hat Brachvogel bis in die letzten Stunden vor seinem plötzlichen Tode ler starb in der Nacht zum 28. No vember an einem Herzschlags Werk auf Werk gehäuft, als cs mit dem Drama nicht mehr gehen wollte, Roman auf Roman immer in freier historischer Behandlung des Stoffes sder unglückliche Schubart und Hamlets Vorbild der Graf Esser Irrten im Kreise aller ihrer Zeit genossen aufs, aber nur zweimal hat er die Geister, die er rief, auch wirklich bannen können. Der Roman Friedemann Bach fällt in die Zeit des Narziß. Er erschien das erstemal 1857 und erlebte seitdem viele Auslagen. Auch hier ist es das Rokoko, in dem ihm eine innere Wesens verwandtschaft zugute kam. Ein vorsichtiger Geist hätte sich diese Ver wandtschaft zunutze gemacht. Aber das war ja das Wesen Brachvogels und ein wenig Wohl das seiner Zeit, das auch noch Gegenpolen wie Hebbel und Ludwig sich bestätigt, daß er sinnlos seine Kräfte vergeudete, sich im Pathos der Worte ausgab und am Ende die Breite mit der Tiefe verwechselte und mit Behagen in seiner Welt der Oberflächen, der Wellcnkämme, die für Sturm, und der Donner, die für Gewitter gelten sollten, herumspaziertc. Brachvogel hat ein immenses Quantum an dich terischer Arbeit geliefert, ja dichterischer, aber nur weniges hat Wert für uns. Stefan Aweigs „Thersites". sU r a u f f ü h r u n g am Dresdner Hoftheatcr am 26. No- v e m b e r.j In einem seiner wundervoll reifen Essays zieht Karl Hillebrand einmal eine Parallele zwischen dem alten und dem neuen Roman und konstatiert fast mit Bedauern, daß die Kunst der Modernen immer mora lischer geworden ist — daß das einst Komische, nicht mehr objektiv, sondern subjektiv betrachtet, tragisch geworden ist, indem alle Erscheinungen und Typen, die sonst der Gegenstand des Spottes waren, heute nur» »sch mit Mitleid betrachtet und behandelt werden. „Die ganze Menschheit ohne Ausnahme bis zum 19. Jahrhundert lachte über den Greis, der das junge Mädchen heimsührt; klatschte, wenn der kecke Soldat dem schwachen Süß- ling Hörner ansetzt; spottete des unbeholfenen Pedanten, dem ein schlauer Lebemann sein Weibchen verführt"; wir — identifizieren uns instinktiv mit dem Opfer, sehen die LebenSbezichuugeu von ihm aus — und finden in der Komödie den tragischen Untergrund. Der alte Dichter formte mit objektivem Interesse die Dinge der Umwelt, wie er sie sah — der heutige fühlt sich in sie hinein, lebt mit ihrer Seele ein Stück ihres Lebens — und stellt sie hin, wie sie sich sehen — von innen heraus — sentimentalisch, wenn man so will. Was der Freund Eonrad Fiedlers hier vom neuen Roman behauptet, gilt gleicherweise vom neuen Drama — und gilt insonderheit von Stefan Zweigs homerischem Trauerspiele „Thersites , das gestern am Königlichen Schauspielhause zu Dresden, und gleichzeitig am Kasseler Hoftheater, seine Uraufführungen erlebie. Thersites, für Homer wie für die griechischen Helden ein Gegenstand des Spottes und Hohnes, wird für den Heutigen zum Helden eines Trauerspiels: aus der Komödie des häßlichen, neidischen Schwätzers, neben dem die Hellen Gestalten der Helden noch lichter und größer stehen, wird für ihn eine Tragödie — die Tragödie der Häßlichkeit selbst. Thersites wird zum Sinnbild, zum Symbol, über sein Einzelschicksal hinaus: in ihm und Achilles stehen sich zwei Menschheits typen gegenüber — vielleicht svgir die beiden Mcnschhcitstypen. Das Drama Stefan Zweigs beginnt wie der homerische Sang mit dem Zorn des Achilles. Die Troer dringen siegreich vor, nach den Schiffen der Griechen — Achill aber grollt. Grollt um so mehr, als auch Teleia, die gefangene Amazonenfürstin, ihm entflohen ist. Die Helden sind in banger Sorge — und als Thersites ihnen rät,Achill durch die Hos'- nnng auf Besitz der Helena aus seiner Untätigkeit zu reißen, lassen sic ihren Zorn an ihm aus — bis Achill, drohend aus seinem Gezelte tretend, ihn befreit. Den Dank des Geschlagenen stößt er verachtungsvoll zurück — zumal Patroklos in diesem Augenblick mit der wieder cingesangcneu Teleia zurückkehrt. Thersites aber kommt wieder — und durch die Zclt- wand hindurch, ungesehen, verspricht er Teleia Hilfe und Rettung, mut voll und beredt — wenn niemand ihn sieht. Teleia jedoch — hier spielt von weitem das Penthesileamotiv hinein — liebt im Grunde den Star ken, der sie besiegte — nur will sie in Freiheit, mit eigenem Willen ihm folgen, sich selbst ihm zum Geschenk darbringen. Und sie sagt es ihm, ringt mit ihm um ihre Freiheit — da er bereits beschlossen hat, sic dem bcimkehrcndeu Patroklos, den er den bedrängten Griechen zu Hilse gc- sandt hat, als Siegesbeutc zu schenken. So weist er ihre Bitten zurück und die Helden, die sic ausruft, ihn zu töten und sic zu nehmen, weichen scheu in das Dunkel — zuletzt Thersites, von dem Teleia, da sie ibn sicht, selbst schaudernd sich abkehrt. Als aber Achilles jubelnd über die Siege des Patroklos von dannen eilt, dem Sieger entgegen, sinnt sie aus Rache. Sie läßt Thersites rufen, um sich ihm zu schenken und so die Sicgcsgabe für Patroklos zu vernichten. Thersites kommt — aber wieder schaudert sie vor ihm zurück — und während die Dienerin eilt, um aus Teleias Geheiß Achill das Geschehene zu melden, klagt drinnen ThersiteS der geliebten Frau sein Leid, ohne sic zu berühren. Bis der Pclide kommt und in blinder Wut Teleia erschlägt — und Thersites, der jetzt zum ersten Male seine Furcht überwindet und ihn voll Haß und Wut beschimpft, durch die Diener hiuaustreiben läßt. Thersites aber kehrt zurück — frohlockend, mit der Botschaft vom Tode des Patroklos, die er Achill so lange jubelnd zurust, bis dieser ihn erschlägt und er sterbend neben der geliebten Frau niedersällt, zum ersten und letzten Male im Tode ihre Lippen küssend. Zwei Tragödien greisen ineinander. Die Tragödie des Weibes, das sich als Ding behandelt fühlt und, wie Hebbels Mariamne, um sich zu rächen, zum Betrüge greift — und die eigentliche Thersitestragödie, di ' Tragödie der Häßlichkeit. — Thersites, der Bucklige, Schielende, Hinkende, steht neben Achilles, dem leuchtenden Helden — der Feige, Mutlose, Un fruchtbare neben dem sieghaften, kraftvollen Menschen der Tat. Wie Tag und Nacht stehen sie nebeneinander, fremd und feindlich und doch geheim nisvoll verknüpft vom Schicksal — versponnen miteinander zu unlös barer Einheit. Der Mensch, aus dem wie ein Fluch seine lächerliche Häß lichkeit liegt, der nie den Mut hat, sein Leben zu leben, nur Beute fremden Willens und niemals Aufstrahl des eignen Lebens ist — er ist zuletzt der reichere. In dieser armseligen Hülle glüht die Seele eines Dichters, eines Träumers, der seine Einsamkeiten mit leuchtenden Bildern schmückt — und der zuletzt, in den wenigen Augenblicken, da er zum ersten Male scheu seine arme Seele in die Hände einer Frau zu legen wagt — sein Leben fühlt, so tief und stark, wie es der Pelide im Rausch der Taten nie empfunden hat. Thersites fällt — aber im Grunde ist er der Sieger. — AchilleZ. der starke Mensch des Handelns steht allein, unter dem dunkeln Schicksalswort der Mutter, daß er früh sterben muß. Seine Taten, die er ohne zu sinnen, ohne zu denken aussührt, verwehen — und der einzige Mensch, den er in glühender Sehnsucht umfaßt, Um über seiner Tage Grenze Jugend Und lichtes Leben ewig zu umfassen, l^sbsrall ru stsbsn. lnermos Naseben ^ItenolineMemtmg , otme LkemiksIiea "eisse KelMe Kalte KetMe A tielsrenLommeklA^ olmeks Kg.,,», eiskalt kisu! 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