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Tagesgeschichte. Das „Berliner Tageblatt" schreibt unterm 29. April: Die Reichstagssessioü geht mit schnellen Schritten ihrem Ende entgegen, nicht weil der Reichstag sein Arbeitspensum nahezu erledigt hat, son dern weil die Unfruchtbarkeit seiner weiteren Thätigkeit von Tag zu Tag in grellerem Lichte hervortritt. Die Regierung hat im Reichs tage nicht blos keine zuverlässige Mebrheit zur Seite, sondern hat überhaupt keine Chancen mehr, für irgend eine der noch zu erledigen den Fragen eine Mehrheit zu gewinnen, es sei denn, daß die Mög lichkeit, Konservative und Centrum für eine Rückwärtsrevision der Ge werbeordnung geschlossen zu finden, sie über die Mißerfolge auf anderen Gebieten zu entschädigen vermöchte. Daran kann aber selbstverständ lich der Regierung, selbst wenn sie mit allen Anträgen der Gewerbc- ordnuggskommission von Herzen einverstanden wäre, nur sehr wenig gelegen sein. Die Thatsache, daß die Kombination vom Mai vorigen Jahres auseinandergesallen, daß die konservativ-klerikale Union zur Herstellung einer zuverlässigen Majorität in Scherben am Boden liegt, läßt sich durch keinen noch so starken Optimismus hinweg philosophiren, und diese Thatsache ist entscheidens. In der Dienstagssitzung hat sich, wie schon erwähnt, der Schatzsekretär Scholz einer Interpretation des Steuerreformplanes des Reichskanzlers befleißigt. Stempelsteuer und Brausteuer sollen 37 Millionen Mark bringe», daraus sind zu nächst die Mehrkosten in Folge der Erhöhung der Friedenspräsenzstärke zu decken. Was übrig bleibt, soll mit dazu dienen, die Grund- und Gebäudesteuer an die Kommunen zu überweisen, die Klassensteuer ganz zu beseitigen und die Einkommensteuer in den unteren Stufen bis 6000 M., wo nicht gänzlich abzufchaffen, so doch zu ermäßigen. Es läßt sich nicht verkennen, daß derartige verlockende Aussichten von ihrer Wirksamkeit seit vorigem Jahre außerordentlich verloren haben. „Die Botschaft hör' ich wohl, indeß mir fehlt der Glaube", so heißt es im Reichstage wie im Lande. Sehr zur Unzeit erinnerte der Reichsfinanz sekretär an die Rede des Reichskanzlers vom 2. Mai vorigen Jahres. Denn in dieser selben Rede hatte der Reichskanzler die Erlangung der finanziellen Selbstständigkeit des Reiches in der präzisesten Form als die leitende Tendenz seiner Steuerreform in den Vorder grund gestellt die Beseitigung der Matrikularbciträge, die länger vor den Thüren der Einzclstaaten einzusammeln, der Stellung des Reiches nicht entspräche. Und wenige Wochen später fand der famose Francken- stein'sche Antrag seine Zustimmung, welcher die Abhängigkeit des Reiches von den Einzelstaaten zu einer dauernden Institution gemacht hat, ohne daß das Reich als solches einen Einfluß auf die Steuerre form der Einzelstaaten oder die Möglichkeit gewonnen hätte, später einmal eine Ermäßigung bei den Zöllen eintreten zu lassen. Die Ge neigtheit, den Steuerreformplänen des Reichstages weiter zu folgen, hat damit einen schweren Stoß erlitten. Die Folgen sind in dieser Session nur zu deutlich hervorgetreten. Die Reform ist in eine Sack gasse gerathen, aus welcher mit diesem Reichstage in keinem Falle mehr herauszukommen ist. Der Reichskanzler hat sonach, wie begreif lich, an der weiteren Fortsetzung der Berathungen kaum noch hin längliches Interesse, um nicht einen schnellen Schluß für das zur Zeit beste Anskunftsmtttel zu erachten. Die Pktitionskommission beschäftigte sich vorige Woche mit den gegen die Vivisektion gerichteten Petitionen. Eine eigentliche Unterstützung fanden dieselben von keiner Seite. Von besonderem Interesse war das vom Avg. Prof. Or. Virchow, den dieKommflsion als Sachverständigen zur Berathung zugezogen hatte, abgegebene Gut achten. Virchow legte ausführlich dar, wie die ganze moderne Ent wickelung der medizinischen und physiologischen Wissenschaft durch das Experiment am lebenden Thierkörper bedingt ist, wie beispielsweise die fundamentalen Entdeckungen des Blutuuilaufes, der Nervenfunktion u. f. w. lediglich der Vtvifektion zu danken sind, und kam zu dem Resul tat, daß eine erhebliche gesetzliche Beschränkung dieses hauptsächlichsten Forschungsmittels zn einer Verkümmerung der Wissenschaft führen müsse. Was die mißbräuchliche Anwendung der Vivisektion anlangt, so seien — wenigstens für Berlin erklärte dies Virchow auf das Be stimmteste — zur Verhütung derselben die bestehenden polizeilichen Bestimmungen vollkommend ausreichend. Der Reichskanzler Fürst Bismarck soll parlamentarischen Freun den gegenüber erklärt haben, erwürbe, wenn es sein Gesundheitszustand irgend gestatte, bei der nächsten Berathung des Handelsvertrages mit Oesterreich-Ungarn im Reichstage erscheinen, weil er es angesichts der Vorkommnisse in England sür nöthig halte, in voller Öffentlichkeit und in amtlichem Charakter sich über die politische Lage zu äußern. Damit würden sich vollständig alle Gerüchte von einer beabsichtigten Reichstagsauslösung erledigen. Aus dem Kanzlerpalais kommen Mittheilungen, wonach der Reichskanzler sich in sehr nervös aufgeregtem Zustande bejände, und seine Aerzte ihm jetzt mehr denn je vollständige Ruhe anriethen. Es wird deshalb nicht überraschen können, wenn es zur Kenntniß der Oeffent- lichkeit gelangt, daß der Reichskanzler einen längeren Urlaub zur Wie derherstellung seiner Gesundheit anzutreten gedenkt. Mit aller Aufmerksamkeit folgt man in Deutschland und im Aus lande dem Fürsten-Hohenlohe-Schillingsfürst in seiner Laufbahn und seinem Auftreten. Er hat so eben für ein halbes Jahr seinen Botschafter-Posten in Paris mit dem Poften eines Staatssekretärs des Auswärtigen in Berlin vertauscht und wird wahrscheinlich noch höher steigen. Fürst Hohenlohe war früher Vicepräsident des Reichstages und ein hervorragender Vertrauensmann der Reichsvertretung, bei der er im höchsten Ansehen steht. In erster Reihe ist es die Ruhe und Milde seines Wesens, die Alle für ihn eiunimmt; in seiner jetzigen Stellung übt er sich wohl als künftiger Reichskanzler. Würde doch Fürst Bismarck, wenn er einmal zurücktrete, die Geschäfte vermuthlich in keines Andern Hände lieber legen als in die Hände Hohenlohes. Die Beziehungen dieser beiden Staatsmänner sind die vertraulichsten seit vielen Jahren; Fürst Hohenlohe gab nämlich als bayrischer Mi nisterpräsident zu erkennen, daß er ganz und wie sehr ein sehr deut scher Mann ist, auf den sich die Nation verlassen kann. Seitdem sind durch den unmittelbaren geschäftlichen Verkehr zwischen Berlin und Paris die beiden Männer nur noch mehr befreundet worden und es besteht ein Verhältniß zwischen ihnen, das, von Vertrauen getragen, Dauer verbürgt. Fürst Hohenlohe vereinigt in sich alle Eigenschaften eines leitenden Ministers; er ist unbefangen, kenntnißreich, geschäfts kundig, energisch und wohlwollend. Immer den Blick auf die Sache richtend, ist er Feind jeder Abschweifung; bei voller äußerer Unab hängigkeit — „Freiheit liegt im Besitz" — hat er sich eine Einfachheit im Auftreten bewahrt, die überall wohlthuend berührt. Der Reichs tag, man merkte es ihm an, sah seinen alten Vicepräsidenten gern in seiner Mitte. Ach, es thut so wohl, gelobt zu werden, und noch Wohler, wenn man es nicht selber thun muß, was zwar manchmal nothwendig, aber immer bedenklich ist. Uns Deutschen hat diese Wohlthat der nord amerikanische Gesandte, Herr White in Berlin, angethan, noch dazu vor den Vertretern der ganzen Welt, also vor allen Leuten, was am wohlsten thut. Es geschah bei dem Festmahl der Fischerei-Ausstellung. Alle denkenden Amerikaner, sagte Herr White, sind Deutschland sehr dankbar. Deutschland hat den Amerikanern viele Tausende der besten und andauerndsten Arbeiter in der Industrie geliefert und unsere edel sten Geister verdanken Deutschen die besten Ideen in Kunst und Wissen schaft und unsere Schulen verdanken ihnen ihre gesunde Umwandlung. Augenblicklich studiren mehr als 1000 junge Amerikaner auf deutschen Universitäten, Gymnasien und polytechnischen Anstalten. Sogar die amerikanische Jagd nach dem Dollar wurde durch das freundliche Wesen der Deutschen, durch ihre Liebe zur Kunst und ihre Neigung zu geselliger Unterhaltung gemildert und zahllose Wisky- und Brandy-Säufer sind durch sie zum gesunden leichten Biere bekehrt worden. Vollends in unserem Kampf gegen die Sklaverei und in dem Bürgerkrieg um die Erhaltung der Einheit der Vereinigten Staaten haben sich die Deutschen fast ausnahmslos auf die gute Seite gestellt und waren Vorkämpfer der Freiheit und Einheit. In dem Kampfe zwischen dem gesunden Menschenverstand und dem Unverstand in den Fragen der Finanzen d. h. in dem Kampfe um das „ehrliche Geld" und die ehrenhafte Be zahlung der Schulden haben die Deutschen viel zum Siege der Ehr lichkeit beigetragen. „Wir bleiben die Schuldner Deutschlands" u. s. w. So sagte der Amerikaner und der Jubel war groß; denn es ist selten, daß wir gelobt werden. Zum Glück war das Fischessen schon vorüber, als der Amerikaner sprach; sonst wäre Manchem vielleicht eingefallen, daß uns dieses Lob etwas theuer zu stehen gekommen ist und viele Millionen Menschen gekostet hat. Manchem wäre am Ende beim Jubeln eine Gräte in die Kehle gekommen. Der liberale Wahlsieg in England hat nunmehr seine Früchte vollständig cingeheimst, das Cabinet Beaconsfield ist verschwunden und das Cabinet Gladstone ist fertig. Der Eröffnung des neuen englischen Parlaments steht nichts mehr im Wege und soll dieselbe in dielen Tagen stattfinden. Petersburg, 22. April. Zwei Thatsachen der jüngsten Zeit haben dazu beigetragen, die Popularität des Chefs der obersten Exekutivkommission, Grafen Loris-Melikoff, zu erhöhen. Die Na menliste der Mitglieder der obersten Exekutivkommission weist durchaus Persönlichkeiten aus, die entweder durch ihre Kompetenz in richter lichen Angelegenheiten oder durch ihren unabhängigen Charakter be kannt sind. Die zweite Thatsache bezieht sich auf die erfolgte Begna digung von drei in Charkow verurtheilten Studenten und auf den vom Kaiser genehmigten Beschluß der Exekutivkommission, betreffs Re vision der Akten aller jener Studenten, die mehr in Folge von Ver führung den geheimen Gesellschaften beigetreten sind. Man möchte diesen jungen Leuten, die unüberlegt handelten und nach ihrem sonstigen Verhalten nützliche Staatsbürger zu werden versprechen, ihre Carrwre nicht abschneiden. Diese Maßregeln haben, wie gesagt, auf die Be völkerung einen sehr günstigen Eindruck gemacht. — Nicht geringe Ueberraschung hat es hier hohen Orts hervor gerufen, daß ein fo ernstes konservatives Orkan, wie die Berliner „Kreuzzeitung", die ehemals Rußland sympathisch gesinnt war, die lächerliche Nachricht in seine Spalten ausgenommen hat, daß Groß fürst Constantin der Komplizität in der Affaire des l)r. Weimar überwiesen wurde. Letzterer ist bekanntlich der Theilnahme an der Er mordung des General Mezentseff beschuldigt. Während die „Kreuz- zeitung" weiteres wissen will, daß Großfürst Constantin bereits einen Ausweisungsbefehl nach Amerika oder Spanien erhalten hätte, behaup tet ein anderes deutsches Journal, daß in der Festung Schlüsselburg Appartements „sür eine sehr hochgestellte Persönlichkeit" hergerichtet werden. Wenn kleine radikale Blätter solche Märchen ihren Lesern auftischen, so ist es allenfalls begreiflich; doch ist es sehr bedauerlich, daß auch Blätter ernsten Charakters derlei Sensationsnachrichten nicht verschmähen. Petersburg, 27. April. Entsprechend einer Verfügung der obersten Exekutivkommission wird im ganzen Reiche eine Revision der Akten der politisch Verdächtigen und der Gefängnisse vorgenommen. In Kischeneff weilt im Auftrage des Generalgouverneurs von Odessa der General Sarantscheff behufs Inspektion des Gefängnisses, in wel chem sich politische Gefangene in Haft befinden. Die Zahl der po litisch Verdächtigen, welche gegenwärtig begnadigt oder der Polizei aufsicht entzogen werden, erreicht die Höhe von sechstausend. Leider giebt das Befinden der Kaiserin von Rußland neuerdings wieder mehr Veranlassung zu den traurigsten Befürchtungen. Die Kräfte schwinden. Mit großen Sorgen sieht man den nächsten Tagen entgegen. Dagegen kommt Fürst Gortschakoff ungeachtet seines hohen Alters von 82 Jahren wieder zu Krästen. Kürzlich war er schon im Stande, seinen Beichtvater bei sich zu sehen und mit seinen Söhnen die Kommunion zu empfangen. Petersburg, 26. April. In den Saratowschen und Samaraschen deutschen Kolonien auf beiden Usern der Wolga ist eine Hungers noth und Theuerung ausgebrochen, welche den Pastor Stückel veran laßt, in der deutschen „St. Petersburger Zeitung" und anderen Blät tern einen Aufruf an die öffentliche Wohlthätigkeit zu richten. Nach der Schilderung des Herrn Stückel hat der Nothstand eine Höhe er reicht, wie wohl noch nie seit Gründung der Kolonien. Es fehlt an den uothwendigsten Lebensmitteln, sogar an Kartoffeln; Brod empfangen die Nothleidenden in unzureichendem Maße, da die Vorrathshäuser hin und wieder bereits völlig geleert sind. Schlimm ist cs auch mit der Feuerung bestellt. Manche Bewohner haben schon ihre Wagen und Handwerksgeräthe verbrannt. Dazu kommt, daß auf den einzelnen Gemeinden ungeheure Schulden lasten, auf Gemeinden von 150—200 Familien 10,000—30,OM Rubel. Die Nvthlage ist der Art, daß man dem Aufruf des Herrn Stöckel nur den besten Erfolg wünschen kann. Vaterländisches. Wilsdruff. Am gestrigen Sonntage Nachmittags in der siebenten Stunde hatten die zahlreichen Besucher des in hiesiger Ge gend gelegenen reizenden Aussichtspunktes Osterberg bei Oberwartha die Freude, Ihre Majestäten den König Albert und die Königin Carola mit Gefolge auf dem Osterberge erscheinen zu sehen. Dieselben waren mit zwe: Wagen bis Cossebaude gefahren. Auf der Bergstraße in Cossebaude verließen sie die Wagen und erstiegen die Höhe des Oster berges zu Fuß. Dieselben genossen von dem Plateau der Restauration aus die herrliche Aussicht nach allen Seiten und verließen unter einem denselben gebrachten dreimaligen Hoch den Berg in voller Befriedigung. (Dem Einsender besten Dank, D. R.)