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414 Partei „Der Volksstaat" auf Antrag der Staatsanwaltschaft poli zeilich mit Beschlag belegt worden. Eine große Rolle' spielt das Jahr 1869 in der Geschichte der Erdbeben und Vulkanausbrüche. Europa zählte in dem einen Jahre mehr als 20 größere und kleine Erdbeben, kein Monat war ganz frei, auf den September fallen sogar sieben. Gut deutsch zu sprechen scheint in Berlin gefährlich zu sein. Ein Holzhauer, der vor Gericht sich hochdeutsch vertheidigte und so gar Schiller, Goethe, Humboldt zitirte und zwar sehr schlagend, schien dem Gerichtshöfe nicht ganz gesund zu sein. Ein Arzt mußte seine Zurechnungsfähigkeit prüfen. Der Arzt erklärte, dieser Holzhauer sei nicht nur ein gescheidter, sondern 1 auch ein sehr gebildeter Mann, und sein gutes Deutsch und seine Kenntnisse verdankt er einem Assessor, mit dem er an 20 Jahre zusammengewohnt hat, und seinem Studium. So war's. Getrennt und wiedervereinigt. Eine Erzählung aus dem Leben. Von I. Frach. (Fortsetzung.) „Ach, der Daus! Was treiben Sie denn da für sonderbare Studien Herr Zach?" Dabei griff Heinold nach einem Endchen breiten rothseidenen Bandes, das aus Zachs Buch heraushing. Theophilus wurde ganz verlegen und zog sein Buch weiter an sich. Heinold aber hatte das Band fest angefast und zog eine große rothseidene Schleife aus dem Buche hervor, die er sofort als diejenige erkannte, die gestern Fräu lein Hedwig Johnson an ihrem Busen trug und die ihm so sehr ge' fallen hatte. Theophilus wurde über und über roth. Heinold weidete sich, boshaft lächelnd, an seiner Verlegenheit. „Gewiß, Herr Oberlehrer, bereiteten Sie sich eben vor zu einem Vortrage über die Nützlichkeit des seidenen Bandes und dessen viel seitige Verwendung, nicht wahr? Dieser Gegenstand wird das Inte resse Ihrer Zöglinge der höhern Töchterschule gewiß erregen und Ihnen manchen dankbaren Blick cintragen. Theophilus hatte sich schon wieder gefaßt. „Sie irren sich, Herr Heinold; ich hatte eine ganz andere Ab sicht. Rothseidene Bandschleifen kann man als Sympathiemittel an wenden und zu diesem Zwecke wollte ich dieselbe, wenn auch nicht für mich, aber doch für Andere, aufbewahren." „Sie machen mich neugierig." „Schade, daß mancher dieses Geheimmittel nicht früher ge kannt hat." „Nun, darf man dieses wichtige Geheimniß nicht auch kennen lernen?" „O, warum nicht? So wissen Sie denn: Wer irgend etwas un ternehmen Will, Wozu außergewöhnlicher Muth gehört, der darf nur, falls ihm dieser Muth mangelt, die rothseidene Bandschleife, welche eine Dame trug, zu sich stecken und — der fehlende Muth wird sich sofort entstellen. Bei Duellen z. B. würde dieses Mittel für Leute, welche den Knall einer Pistole nicht vertragen können, fehr zu em pfehlen sein." Jetzt war die Reihe, verlegen zu werden, an Heinold. Erzürnt blickte er den ruhig sitzenbleibenden Theophilus an und warf hastig die Frage hin: „Was wollen Sie damit gesagt haben?" „Nicht mehr und nicht weniger, als was ich wirklich gesagt habe?" Der Eintritt Hedwigs unterbrach dieses Gespräch. Heinold un terhielt sich nunmehr mit dieser und warf nur dann und wann ei nen vernichtenden Blick auf den lesenden Theophilus. Kopfweh vorschützcnd, entfernte sich Heinold zeitiger als ge wöhnlich, nachdem er vorher noch die Einladung zur Feier des Weih nachtsheiligabends angenommen hatte. Nach seinem Fortgänge befanden sich Hedwig und Theophilus allein im Gesellschaftszimmer. Die Erstere setzte sich an das Piano, schlug einige Accorde an spielte dann die bekannte Volksmelodie: „Ach, wie ists möglich denn, daß ich dich lassen kann," und begleitete sie mit ihrer angenehm klingenden Stimme. Leise beginnend, quollen nach und nach ihre Töne immer voller, runder und lieblicher hervor und vereinigten sich mit denen des Pia nos zu einem harmonischen Ganzen. Liebe und Sehnsucht, aus dem Herzen kommend, klangen deutlich aus dem Gesänge heraus. Wie ein Träumender sah Theophilus unverwandt über das Buch nach Hed wig, auf deren ausdrucksvollem Gesicht sich die Gefühle ihres Herzens wiederspiegelten. Er lauschte mit Spannung ihrem Gesänge. Sein Auge er glühte in einem cigenthümlichen Feuer; heißes, leidenschaftliches Ver langen sprach sich darin aus. Zum Glück sah Hedwig diese Blicke nicht. Ja, sie hatte in die sem Momente der Weihe gar keine Ahnung von der Anwesenheit ihres leidenschaftlich erregten Verwandten. Sie sang weiter. Theophilus zitterte; seine Hand vermochte das Buch nicht mehr zu hallen; er legte es beiseite. Hörbar klopfte sein Herz; seine Stirne brannte. Heißer, verlangender noch ruhte sein Auge auf der singenden Hedwig. Wie von unsichtbarer Geistermacht gezogen, stand er auf und ging nach ihr hin. Er stürzte ihr zu Füßen. „Hedwig!" Entsetzt sprang Hedwig auf. „Theophilus, Du hier? Und was beginnst Du?" „Hedwig, nur ein Wort, ein einziges Wort! Ich liebe Dich!" „Unglücklicher, dieses Geständniß mir, der Braut eines Andern?" Angst, Abscheu, Verachtung prägten sich in ihren Zügen aus. Sie wendete sich von ihm ab; sie wollte das Zimmer verlassen. „Hedwig, verdamme mich —vernichte mich mit einem Worte — aber höre mich an! Sieh, ich wurde erzogen von Deinem Vater; ich wuchs mit Dir auf. Kaum dem Knabenalter entwachsen, entkeimte eine Neigung zu Dir in meiner Brust; ich konnte sie nicht unterdrücken, obgleich ich alle meine moralische Macht dagegen aufbot. Ich, der Arme, Verachtete, Znrückgesetzte — Du, die einzige Tochter eines reichen Vaters — täglich hielt ich mir dies vor. Vergebens. Es kam ein Fremder, er eroberte Dein Herz. Ihr seid glücklich — Seid Ihr es wirklich?" Theophilus lachte; es klang wie das Lachen eines Wahnsinnigen. Hedwig war einer Ohnmacht nahe. Sie hielt sich an der Lehne eines Sessels fest, um nicht umzusinken. Fortzugehen war sie nicht im Stande. „Hedwig! Nie würde ein Wort über meine Lippen gekommen fein; ich würde meine Liebe mit in das Grab genommen haben — aber Dein Lied . . .! So, wie Du heute sangst, hörte ich Dich noch nie. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen; ich mußte Dir zu Fü ßen sinken. — Nun weißt Du Alles!" „Doch nein, noch nicht Alles." Wieder lachte Theophilus. Das Lachen drang der zitternden Hedwig durch Mark und Bein. Sie sank auf den Sessel nieder. „Ist Wellmann Deiner würdig? — O, wenn Du wüßtest.,, Hedwig raffte sich empor. Eine Wallung edlen Zornes gab ihr plötzlich ihre Kräfte wieder. „Schweige — fliehe! Sprich sie nicht aus, die Worte der Ver leumdung, die auf Deiner Zunge schweben." „Du Arme, Du weißt noch nicht, was alle Welt schon weiß!" „Ich mag nicht wissen; ich will nicht wissen!" Theophilus schien sich doch verrechnet zu haben, er wollte die Eifersucht erregen; war es ihm noch nicht gelungen? Er fuhr fort: „Hedwig, für mich bist Du verloren, das ist mir in diesem Augenblicke klar geworden — sei es auch für ihn! Wisse, Wellmann ist Deiner nicht werth. Ein Manns, der Dir Liebe heuch elt, während er sich für eine Andere schlägt, kann der noch ferner Dein Bräutigam sein? Und die Dame, deren treuer Ritter Wellmann ist? O, du kennst sie auch — Marie Hagen heißt sie." (Fortsetzung folgt.) Vermischtes. * Der Wegweiser berichtet folgenden edlen Zug eines ungari- 'chen Grafen. Die Eltern in der innern Stadt Pest waren kürzlich in Besorgniß darüber, daß die seit 25 Jahren bestehende, mit einem Kindergarten verbundene Kleinkinderbewahranstalt des Hru. Göbl diese sehr geeignete Localität verliert, weil Graf Franz Paul Zichy auf diesem großen Grunde schon lange ein Patais erbauen will. Als jedoch der Graf von dieser Besorgniß Kenntniß erhielt, erklärte er, daß er den Bau aufschiebe, weil er am schönsten Palast der Welt keine Freude hätte, wenn die Kinderwelt dadurch Schaden litte. * Ein Schiffscapitän kam ans dem Stettiner Bahnhof in Berlin an und fragte nach einem guten Gasthof. Wir logiren da und da, sagten ein paar Reisende, aber vorher trinken nur ein Glas Bier. Der Capitän sagte: ich auch! und ging mit ihnen in eine Restaura tion. Der Fremde schüttelte den Kops: uo no! Er trank sein Bier, bemerkte nicht, daß er immer müder wurde und endtich fest einschlief. Als er auswachte, waren seine Begleiter fort und mit ihnen ein Ta schenbuch mit 3500 Thalern. Er war Bauernfängern in die Hände gefallen. Der Wirth wollte nichts bemerkt haben. * Wohnungspreise in Nom. Als Beispiele der fabelhaften Preise welche dermalen in Rom gefordert werden, theilt man der „W. Z. in einem Schreiben mit, daß ein ungarischer Kirchensürst für eine Wohnung von sechs Zimmern im dritten Stock in einer ziemlich ent legenen Straße für sechs Monate 12,000 Fr. zahlen muh und zwar ohne Möbel, welche andere 11,000 Fr. gekostet haben. * Der letzte Sturm hat in Ampfurt bei Aschersleben den Thurm umgeworfen. * Im Canton Appenzell Jemerroden ist für die Dauer des Con- cils das Tanzen verboten worden. Aus Schmerz oder aus Freude? * In einem Pariser Blatte befindet sich folgende Anzeige: „Ein junger Mann, der im Begriff steht, sich zu verheirathen, sucht einen verständigen, erfahrenen Herrn, der es ihm ausreden kann!" Kindlicher Sinn. Eine Großmutter zeigte ihrer Enkelin, ei nem siebenjährigen Mädchen, einen buntilluminirten Kupferstich, den Apostel Petrus mit dem Himmelschlüssel vorstellend, und auf die Frage des Kindes: „Was ist das für eilt Schlüssel?" erhielt es die Antwort: „Es ist der Himmelsschlüssel!" Das kleine Mädchen stand am Abend am Fenster und blickte immer starr den Himmel an. — „Was hast Du denn da zu sehen?" fragte die Großmutter. „Liebes Großmütlerchen," versetzte die Kleine, „ich suche das Schlüsselloch." Norddeutscher Kalender für 1870.