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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 19.12.1908
- Erscheinungsdatum
- 1908-12-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190812197
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19081219
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19081219
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-12
- Tag 1908-12-19
-
Monat
1908-12
-
Jahr
1908
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Jeuill.) * Die Zweite Kammer vertagte sich am Freitag bis zum 7. Januar. Die nächste Sitzung der Ersten Kammer ist noch nicht festgesetzt. sS. Leitart. und Sächs. Landtag.) * Ueber 1000 Arbeitslose veranstalteten in Stettin am Freitag Straßendemonstrationen vor dem Arbeitsnachweis und dem Rathaus. Die Arbeitslosigkeit unter den Hafenarbeitern wird auf 50 Prozent geschätzt. * Laut New Parker und Londoner Meldungen fall Venezuela an Holland den Krieg erklärt haben. Im niederländischen Ministe rium des Aeußern mißt man diesen Nachrichten über eine Kriegserklä rung Venezuelas an die Niederlande, wie aus dem Haag gemeldet wird, jedoch keinen Glauben bei. (S. Art.) * Ein englisches Blatt berichtet aus Lissabon, daß zwei chine sische Kanonenboote die portugiesischen Forts bei Macao angegriffen haben. sS. Ausl.) Tandtagsvevtagung. Die erste Session im neuen Ständchause zu Dresden wird in der parlamentarischen Geschichte Sachsens wegen ihrer einzigartigen Dauer eine gewisse Berühmtheit erlangen. In 163 öffentlichen Sitzungen hat bis jetzt die Zweite Kammer, in 72 die Erste getagt, und noch ist damit die Zahl der Beratuugstage nicht vollendet. Denn erst am 22. Januar nächsten Jahres soll laut besonderem Dekret der feierliche Schluß des Landtags stattfinden. Von den Landboteu werden die meisten diese erneute Hinausschiebung des Endes der Session, das ursprünglich bestimmt noch vorm WeihnachtSfest erwartet wurde, mit gemischten Gefühlen auf nehmen. Und im Lande wirv die Einführung einjähriger Etatsperiodrn, die eine wesentliche Verkürzung der Arbeitszeit infolge einer ganz natür lich eintretenden Verringerung der Arbeitslast unbedingt nach sich zieht, eine stattliche Anzahl neuer Anhänger gewinnen. DaS Beispiel unseres Nachbarstaates Preußen, der in finanzieller Beziehung entschieden noch umfangreichere Aufgaben zu bewältigen hat, und die trotzdem verhältnismäßig kurze Dauer der preußischen Landtagssessioneu sind nur zu geeignet, die Erreichung dieses von verschiedenen Seiten seit längerer Zeit auch schon für Sachsen empfohlenen Ziels in greif bare Nähe zu rücken. Jedenfalls wird bei einer neuen Debatte über die Umwandlung der zweijährigen Etatsperiodeu in einjährige der alte Ablehnungszrund der Regierung, es ermangle dann an Zeit zur Ausarbeitung des neuen Etats, nicht mehr Stich halten, denn die gegen wärtige, ausgedehnte Ndchsession müßte eigentlich unter diesen Umständen die Fertigstellung des Etats bis zum Herbst 1909 unmöglich machen. Aber ein derartiges schlechtes Zeugnis ihres Könnens wird sich die Regierung nicht auöstellen wollen, der Etat für 1909 wird trotz der Nachsession pünktlich vorliegen, und so entfällt dieser bisher hauptsächliche Grund gegen einjährige Etatsperioden. Oberflächliche Beurteiler suchen die Ursache für die unverhältnis mäßige Ausdehnung dieser Landtagssession zuerst und ausschließlich in der Wahlrechtsfrage; aber es wäre doch ziemlich voreilig, diesem Urteil ohne weiteres zu folgen. In Wirklichkeit fallen mehrere Momente zusammen, die für die Verzögerung des Abschluffes der Arbeiten verantwortlich gemacht werden müssen. Die Regierung hatte eS für richtig gehalten, dem Landtag neben der Lösung des Wahl rechtsproblems auch noch die Erledigung einer großen Anzahl anderer gesetzgeberischer Arbeiten auszutragen. War schon diese Ueberfülle an Material einem normalen Verlauf des Landtags hinderlich, so wurde die Oekonomie der Beratungszeit weiterhin dadurch gestört, daß die hochwichtige Besoldungsresorm nicht von Anfang an geplant war, sondern von der Regierung erst nachträglich konzediert werden mußte. Die spätere Einarbeitung der entsprechenden Veränderungen der Ge haltssätze in die einzelnen Etatpositionen, die die Vorlegung eines recht stattlichen NachtragsetatS notwendig machte, ist also das zweite, gleichfalls von der Regierung veranlaßte, retardierende Moment für den Ablauf der Landtagsverhandlungen. Die Abwicklung der Geschäfte verlor dadurch auch an Uebersichtlichkeit. Dieser Nachteil verursachte allmählich ein bedauerliches Schwinden des Interesses an den Beratungen der Volks vertretung, und das hatten die Abgeordneten mit Rücksicht auf die Un summen von Fleiß und Opferwilligkei», die von ihrer Seite dem Lande gebracht worden waren, nicht verdient. Äußer der sehr umfänglichen Besoldungsreform, die nicht nur allen Staatsbeamten, sondern auch den durch staatliche Zuschüsse unter stützten städtischen Beamten, sowie den Pensionären und endlich den Witwen und Waisen verstorbener Beamter den längst erwünschten finan ziellen Ausgleich zwischen den gesteigerten Bedürfnissen und den dafür bislang ungenügenden Deckungsmitteln bringt, gelangten in dem Ende Oktober begonnenen Sessionsabschnitt das Gesetz gegen dieVer- unstaltung von Stadt und Land, das Fürsorgeerziehungs gesetz, die Berggesetznovelle, das Gesetz über Gewinnung und Verwertung des Radi um S und daSviel angefochtene Stempel steuergesetz zur Verabschiedung. Ueber daS von der Ersten Kammer bereits genehmigte Wassergesetz, das schon den vorigen Landtag und dann zwei Zwischendeputationen beschäftigte, wird in der Zweiten Kammer . noch einmal zu sprechen sein, da die bestehende Unstimmigkeit über die Unterhaltung der fließenden Gewässer noch zu beseitigen ist. Wenn die Erste Sammer i« BrreinigungSverfahren den Vorschlägen der Zweiten Kammer, ZwangSgenoffeuschasten zu diesem Zwecke zu bilden, entgegen- I kommt, so wird auch dieses wichtige Gesetz im neuen Jahre bald unter ! Dach und Fach gebracht werden. Kaum auf Schwierigkeiten dürfte die I Erledigung deS Gesetzes über Forst- und Felddiebstahl I stoßen, dessen Beratung in der Zweiten Kammer noch aussteht. I Abgesehen von dem vom Landtag sehr unfreundlich aufgenommenen I und vermutlich auch kaum mehr in Betracht kommende Entwurf über I das Kirchen- und Schulsteuergesetz harren in der Hauptsache nur die I Verfassungsfragen noch ihrer Lösung. Von diesen scheiden aber I wiederum zwei für den letzten Teil der Session des gegenwärtigen Land- I tages schon jetzt aus: die Anträge zur Reform der Ersten Kammer und I die Umgestaltung der Bezirksverbäude. Bleibt also nur das Wahl- I recht. Die harten, erbitterten Kämpfe um dessen zukünftige Gestalt, I die manchmal, wenn konservative Eigensucht die Grenzen überschritt, I häßliche Formen annahmen, haben unsere Hoffnung auf eine Lösung I dieser Aufgabe ganz zunichte gemacht; und wenn es überhaupt noch i weiterer Gründe für die Berechtigung unseres Zweifels bedurft hätte, ! so brachte sie uns daS Dekret, das den offiziellen Schluß des Landtags I auf den 22. Januar sestlegt. Bis dahin kann die Erste Kammer die ins Riesenhafte angewachsene Materie kaum selbst bewältigen; an rin Vereinigungsverfahren zwischen beiden Kammern ist erst recht nicht zu denken; und deshalb ist — sollten nicht ganz uner wartete Ereignisse eintreten — schon jetzt mit Sicherheit darauf zu rechnen, daß im Herbste des nächsten Jahres noch einmal unter dem bestehenden Dreiklassenwahlrechte gewählt wird. Diese wohlbegründeie Vermutung verlangt zum Schluffe einen flüchtigen Blick auf die politische Konstellation. Das Ringen um ein besseres Wahlrecht war nicht nur eine „zwangvolle Plage", eine „Müh' ohne Zweck", es hat auch die Gegensätze der Weltanschauung, die im Konservatismus und im Liberalismus Gestaltung gewinnen, ver schärft. DaS an sich natürliche Bestreben der im Machtbesitz befindlichen Agrarlonservativen, die Herrschaft ungeschmälert zu behaupten, hat nament lich in den letzten Debatten über die Wahlrechtsreform in der Zweiten Kammer Formen angenommen, die den schärfsten Widerspruch aller nach einem gerechten Ausgleich drängenden Elemente zeitigen mußten. Wir wollen nicht verhehlen, daß man sich in Einzelfällen auch auf liberaler Seite der Tragweite gewisser angewandter Mittel offenbar nicht recht bewußt geworden ist und dadurch den Konservativen kleine, wenigstens für den Augenblick gut nutzbare Vorteile geschaffen hat, aber damit wird noch lange nicht das Verhalten der Konservativen, das wir kurz schon nach der Entscheidung über die Wahlrechtsfrage in dec Zweiten Kammer einer Kritik unterzogen, auch nur im geringsten entschuldigt. Es müssen erhebliche Gründe schwerwiegender Art vorliegen, wenn eine ganze Fraktion, die mehr als ein Drittel aller Abgeordneten umfaßt, dem Präsidenten, den sie einst selbst mit gewählt hat, ein Mißtrauensvotum ausspricht. Die Bedeutung dieser im sächsischen Parlamentsleben bisher wohl einzig dastehenden Handlung kann auch keineswegs durch ostentative Ber- trauensbezeugungen von der anderen Seite abgeschwächt werden; eS ist vielmehr unumstößlicher Wille des nationalen Liberalismus, dafür Sorge zu tragen, daß die Aera Mehnert im Landtage ihren endgültigen Abschluß findet. Einzelnen Konservativen ist die Gefährlichkeit der Ueberspannung des von agrarlonservativer Seite so starr befolgten Prinzips der Eigensucht auch bereits zum Bewußtsein gekommen, und wenn sich auch bisher nur der Abg. Dürr zu dem gerade jetzt sehr bemerkenswerten Entschluß einer zwar anscheinend friedlichen, für die andern jedoch recht pein lichen Trennung durchgerungen hat, so ist doch die Schärfe schon längst vorhandener Gegensätze innerhalb der konservativen Fraktion nun nicht mehr zu vertuschen, und es ist durchaus nicht undenkbar, daß sich diesem ersten Abtrünnigen noch mancher andere beigesellen wird, der es im agrarkonservativen Lager nicht mehr aushalten kann. Wenn der NanonalliberaliSmus diese offensichtlichen Zeichen zunehmender Schwäche des Konservatismus recht zu werten weiß, dann können wir auf eine Gesundung unserer parlamentarische» Verhält» sse rechnen. Dazu bedarfs aber unter allen Umständen rückhaltloser Beiäiigung fester liberaler Grundsätze. Der holländisch-venezolanische Konflikt. lVenezuelas Kriegserklärung?) Aus Castros Republik kommen neue Alarmnachrichten. Laut New Parker und Londoner Meldungen soll Venezuela, das durch das energische Vorgehen der niederländischen Kriegsschiffe an seiner Küste in äußerste Erbitterung geraten ist, den Holländern den Krieg erklärt haben. Diese Nachrichten finden indessen bei der Haager Regierung, wie wir weiter unten mitteilen werden, vorläufig noch keine Bestätigung. Sie sind auch schon deshalb nicht als glaubwürdig zu betrachten, weil die südamerika- nifche Republik augenblicklich, da sie von Unruhen heimgesucht wird, sich kaum auf äußere folgenschwere Verwickelungen einlassen dürfte. Die amerikanischen Meldungen über die angebliche Kriegserklärung Vene zuelas lauten: New Bork, 18. Dezember. lTelegramm.) Wie aus zuver lässiger Quelle aus Caracas nach hier telegraphiert wirb, hat die venezolanische Regierung den Niederlanden am gestrigen Donnerstag den Krieg erklärt. Hierzu meldet ferner — laut dem ,,L -A." — die Londoner „United Preß' aus Washington: Der dortige kolombische Gesandte erhielt eine Depesche, dah"V enezuela an Holland den Krieg erklärte wegen der Wegnahme venezolanischer Schiffe durch hollän dische Kriegsschiffe. Die Londoner niederländische Gesandtschaft erhielt bisher jedoch keinerlei Bestätigung dieser Meldung. Die Meldung, die, wie erwähnt, mitteilt, daß die Haager Regierung bisher noch keine Mitteilung von der venezolanischen Kriegserklärung erhalten hat, lautet dem Reuter-Bureau zufolge: Haag, 18. Dezember. sTelegramm.) Bis mittag erhielt daS Ministerium des Auswärtigen weder über die Wegnahme eines dritten venezolanische» Schiffe* durch die holländisch« Marin«, noch bezüglich einer Kriegserklärung Venezuelas au die Niederlande eine Bestätigung. Im Ministerium wurde erklärt, daß man sich auch . keine genaue Vorstellung machen könne, wie eine Kriegs erklärung an die Niederlande hätte gesandt werden sollen, es sei denn, daß man es für diesen Zweck als genügend angesehen hätte, in Vene zuela durch eine Proklamation den Kriegszustand zu erklären und mit den Feindseligkeiten zu beginnen. Indessen habe noch nichts ein kriegerisches Vorgehen seitens Venezuelas erwiesen. Die niederlän- dische Flottille, die augenblicklich in den Karaibischen Gewässern sich aufhält, wird im Verein mit dem vierten Panzerschiff, das sich augen blicklich auf dem Wege nach Venezuela befindet, vorderhand als aus reichend angesehen, um allen Möglichkeiten die Spitze zu bieten. Wie sich die Regierung der Vereinigten Staaten, die bisher übrigens auch noch keine Bestätigung von dem angeblichen Kriegsausbruch er halten hat, zum holländisch-venezolanischen Konflikt stellt, darüber wird aus London wie folgt berichtet: Nach einer Meldung aus Washing ton hat die Unionregierung bisher noch keine amtliche Bestätigung von der Erklärung des Krieges fettens Venezuelas an Holland erhalten. Man betrachtet ;edoch die Nachricht als zutrefftnd. Solange es sich nur um die bloße Blockierung der Küste bandelt, würden die Vereinigten Staaten in den Konflikt nicht eingreifen, dieS vielmehr erst im Falle einer Truppenlandung tun. Wie ferner dem Londoner „Daily Chronicle" aus Washington gemeldet wird, glaubt man dort im Ministerium des Aeuße- ren nicht an einen sofortigen Beginn von Feindseligkeiten zwischen Holland und Venezuela. Die türkische Thronrede. Das Ottomanische Reich hatte am letzten Donnerstag einen großen Tag seiner politischen Geschichte zu verzeichnen. Am Marmarameer ist — wie wir ausführlich berichtet haben — das neue türkische Parla ment eröffnet worden. Konstantinopel hatte sich festlich geschmückt. Ein frohes Intermezzo in Tagen schwerer Sorge, die über die Türkei und den übrigen Balkan hereingebrochen sind. Mit Spannung hatte man der Thronrede entgegengesehen. Merk würdigerweise ist sie jedoch weder vom Sultan selbst, noch von einem der Wesire verlesen worden, sondern nur von dem ersten türkischen Palastsekretär. Doch werden die Formalitäten der Verlesung heute weniger interessieren, als der Inhalt der historischen Rede, deren Wort laut wir schon ausführlich mitgeteilt haben. Die Thronrede gibt, soweit sie die letzten großen internationalen Ereignisse, insbesondere die Umwälzungen auf dem Balkan, behandelt, keinerlei Grund zu irgendwelcher Beunruhigung. Ihre Fassung war durchaus maßvoll. Sie wirkte besänftigend. Nur dem Bulgarennitsttn wird scharfer, offensichtlicher Tadel wegen der Nnabhängigkeitsproklamie- rung seines ehemaligen Vasallenstaates zuteil, eine Auslassung, zu der dem Sultan die Berechtigung nicht abgesprochen werden darf. Dagegen kann man den Passus der Thronrede nur begrüßen, der sich über die österreichische AnnexionStat ausläßt. Er enthält nicht die geringste Spitze, zeugt von keiner Erbitterung der türkischen Regierung gegen die habsburgische Monarchie. Es wird nur das Bedauern der Pforte über den Schritt ausgedrückt. Klar gebt aus diesen Worten des Sultans hervor, daß man nicht die leifeste Ab sicht am Bosporus hat, den alten europäischen Schwierigkeiten, die sich noch in der Schwebe befinden, neue hinzuzufüaen. Ein rühmliches Zeug- nis für die absolute Friedfertigkeit der Türkei. Auf dieser Linie wird die Thronrede sicherlich zur Besserung der verdüsterten europäischen Lage beitragen. Zum Schluß gab der Sultan kund, daß er der Nation ein glückliches Gedeihen wünsche. Er bekräftigte sein Verlangen, das Reich der Verfassung gemäß regiert zu sehen, und rief Allahs Segen herab. So versucht sich die Türkennation inmitten neuer Entwickelungen, die der europäische Osten augenscheinlich nur nach verhängnisvollen Er- eignissen verlassen wird, dem Phönir gleich, ans dem Schutt und Chaos zerrütteter, morscher Verhältnisse als junger und frischer Verfassung? staut zu heben — zu besseren Evolutionen, die das autokratische Sultans regiment nicht erreichen, viel weniger dem türkischen Volk garantieren konnte. Am Bosporus werden heute viele Hoffnungen und Erwartungen an die kommenden freiheitlicheren Zustände geknüpft, und der Westen Europas, insbesondere auch das Deutsche Reich, kann die neue Türkei auf ihren neuen Bahnen, die sie heute eingeschlayen hat, nur mit den besten Wünschen, für eine glücklichere Zukunft, w,e sie im Augenblick aber dunkles Gewölk verbirgt, begleiten. In der politischen Theorie bedeutet das Ereignis der Parlaments errichtung in der Türkei eigentlich keine Umwälzung: denn cs bandelt sich im Grunde um die Neneinberufung jener ersten ottomanische» Volks vertretung, die vor 31 Jahren in der Stadt des großen Konstantin zu- sammentrat, die bis zum gegenwärtigen Moment keineswegs aufgehoben, sondern in ihrer Tätigkeit nur durch ein Jrade des Sultans labmgelegt wurde. Um so größer aber ist die praktische Bedeutung, die der Funktion des Parlaments von 1908 zugemessen werden muß. Der modernen Volksvertretung, zu der sich Abdul Hamid noch in der Spät- zeit seiner Regierung — es heißt, auch unter dem Drucke westlicher Ein flüsse — entschloß, wird die Lösung gewaltiger Aufgaben ausgcbürdct. Die schwierigsten politischen Probleme der Gegenwart drängen sich am Bosporus zusammen. Es bandelt sich nicht nur nm die immer uner bittlicher drängende Frage der Entscheidung über Krieg und Frieden am Balkan, die auch die Thronrede wiederum gütlich zu lösen sucht, sondern auch vor allem um die vollständige Reorganisation und Ver einheitlichung des großen europäischen Sultanats unter so schwierigen Umständen. Wird der große Wurf gelingen? Mutig bat sich das Jungtürkenregime an die Sysiphusarbcit gemacht, alle Kontraste, die bisher die Unsicherheit des Ottomanenreiches bedingten, zusammen zuschweißen. Die nationalen und religiösen Gegensätze im Reich spiegeln sieb gefährlich in der Zusammensetzung des Parlaments wider, das zunächst Ichon in zwei starke Gegensätze zerfällt, in die christliche und die mohammedanische Gruppe. Dazu kommen dann die Vertreter der ver- schiedenen Nationalitäten, wie die der Griechen, der Serben, Bulgaren, der Kurden und der Araber usw. Es gilt zunächst, alle diese verschie denen, durch religiöse und wirtschaftliche Tendenzen voneinander ge trennten Gruppen, die bisher immer in Feindschaft untereinander lagen, auf harmonierende Punkte zu vereinigen, bis daS Parlament seine eigentliche Arbeit und die einer solchen Institution immanenten Ab sichten durchführen kann. Die Favoritenwirtschaft um den Herrscher muß beseitigt werden. Dann kann man zur Heilung der Wunden, die am inneren Organismus des Landes klaffen, schreiten. Die Finanzen bedürfen notwendigster Ordnung, ebenso die Maschine der Staats beamtenschaft; die schon längst ins Stocken geraten war. Es bandelt sich da um eine völlige Verwaltungsreform, der eine Reform der Verkehrs einrichtungen folgen muß, der Post, Telegraphie, Staatseisenbahn usw. Erst wenn diese Umformungen geglückt sind, kann der eigentliche Zweck der Einrichtung einer Konstitution erfüllt werden: die Schaffung der großen ottomanische» Zentralregicrnng, wie sic die Thronrede vor läufig zu verbürgt» sucht.
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