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244 lichen Eindruck. Er überlegte nicht, daß er sich zur Mittagszeit der Stadt näherte, wo fast jeder zu Hause ist, auch bedachte er nicht, daß jetzt das sonst so lebendige Oertchen dadurch, daß es nicht mit in das Eisenbahnnetz gezogen worden war, schon an Verkehr verloren hatte. Auf dem Strome war es auch still, er sah keine größeren Schiffe mehr; weil die Güter bis Schönbach auf der Eisen bahn gehen konnten, wurden sie von da per Achse weiter ti ansportirt und die Dampfschifffahrt zwischen Markheim und den größeren Nachbarstädten hatte aufgehört. Die Hitze war drückend, graue Wetterwolken lagerten sich über der Stadt, Otto eilte, um noch vor Ausbruch des Gewitters des Oheims Haus zu erreichen. Der alte Herr empfing ihn mit großer Herz lichkeit, aber nicht ohne Webmuth, ihm war indeß die Schwester, Otto die Mutter gestorben, der alte Mann schien dem jungen sehr gealtert; dem Neffen sagte der Oheim: „Du siehst krank aus, Otto, Du mußt Dich hier erholen, ehe Du meine Praxis übernimmst." „Tdätigkeit wird meine beste Erholung sein!" entgegnete Otto. Nach dem Mittagsmable, welches unter Don ner und Blitzen, aber ziemlich schweigsam einge nommen ward, nahm Otto seinen Hut und ging mitten durch den Platzregen ohne Schirm zu Gold haars Hause. In der Hausflur stand ein elegant gekleideter, aber gemein aussehender Mann. Auf des Doctors Frage, ob Herr Goldhaar zu sprechen sei, schlug er ein Gelächter auf und schrie: „Da kommen Sie einen Posttag zu spät. Die Familie Goldhaar ist schon seit sechs Wochen nicht mehr hier." Otto hatte nicht Lust, mit dem widerwärtigen Menschen mehr zu sprechen, er grüßte und ging. Der Oheim sagte ihm später: „Ich habe es Dir geschrieben, daß Goldhaars fortgezogen sind, Du Haft aber diesen Brief, weil er falsch adrcssirt war, nicht erhalten, ich sandte ihn noch nach Paris. Ein reicher Verwandter in England hatte an Gold haar geschrieben, daß er ihm sein ganzes Vermögen hinterlassen wolle, wenn er mit seiner Familie die letzten Jahre, welche der Vetter noch zu leben habe, in England bei dem alleinstehenden Manne bleiben wolle. „Goldhaar entschloß sich rasch und reiste mit den Seinigcn ab. Ein Münchner Kaufmann hat indeß Goldhaars Handlung übernommen und be wohnt das Haus. Den Garten läßt er auf un verantwortliche Weise verwildern, allein es ist ein Mann, mit dem sich nicht sprechen läßt." Otto berübrte diese Nachricht schmerzlich, er hatte die Familie Goldhaar aufrichtig lieb und na mentlich das Wiedersehen zwischen ihm und Con stanzen hatte er sich schön gedacht. Sie war ein so geistvolles, edelberziges Kind! Daß dieses Kind jetzt ein reizendes sechzehn jähriges Mädchen geworden war, hatte er kaum geträumt, noch weniger gedacht. Einige Tage nach Otto's Rückkehr siel sein Geburtstag. Der Oheim beschenkte ihn reich und hatte einige alte Freunde zur Tafel geladen. Nach dem Speisen, als die Herren in der Rosenlaube ihre Cigarre rauchten, Otto jedoch noch an der Hausthüre verweilte, trat eine wohlgekleidete Bür- gerssrau auf ibn zu, welche ein reizendes sechs jähriges Mädchen an der Hand führte. Das Kind machte eine kleine graziöse Ver beugung, reichte ihm einen Kranz und sagte ein kurzes, kunstloses, aber wohlgemeintes Berschen, an dessen Inhalt Otto die kleine Clara erkannte, welche er vor drei Jahren aus dem Main gezogen hatte. Um den Dankesausbrüchen der Mutter ein Ende zu machen, sagte er: „Daß ein guter Schwim mer ein Kind rettet, ist natürlich, wollen Sie durch aus bewundern, Frau Bertuch, so rühmen Sie Constanze Goldhaar." „Ach, das liebe Wesen, ich schließe es täglich in mein Gebet ein, Herr Doctor. Möchte sie bald wieder fröhlich sein." „Warum sollte Fräulein Goldhaar betrübt sein ?" „Zu Ihnen, wahrlich nur zu Ihnen gesagt, Herr Doctor, denn ich achte die Goldhaars und liebe Constanzchen, ich glaube, Herr Goldhaar mußte von hier fort, es ist nicht so, wie er sagte, und die guten Menschen baden jetzt schmale Kost." „Wie? War Herr Goldhaar nicht ein wohl habender Mann? Seine Geschäfte gingen vor drei Jahren herrlich!" „Ja, vor drei Jahren!" crwiederte die Frau mit einem Seufzer, „aber ich kam oft zu Constanz chcn und sah und hörte Manches, ich bemerkte auch, daß sich die Zeiten änderten. Andre Zeiten, andre Kassen! Die Eisenbahn wurde gebaut, die nur bis Schönbach führte, unsre Stadt ward vergessen, weil sich der Bürgermeister der Sache nicht angenom men, keine Eingabe an die Regierung gemacht hatte, und als die Kaufmannschaft sich rührte, war es zu spät. Durch Aufhebung der Dampfschifffahrt ver lor Herr Goldhaar, der zwei schöne Schiffe besaß, bedeutend; für einen Freund hatte er sich verbürgt, dieser machte Bankerott, kurz, Herr Goldhaar batte allerlei Verluste, durch die Lähmung des Handels in unserer Stadt erkielt er keine Mittel, die Ein bußen zu decken. Ich fürchte, der Münchner hat das Haus nebst Garten in Pfand und Herr Gold haar hat nicht Geld genug, um es zur rechten Zeit einlösen zu können. Merkwürdig ist es, daß er nur überall gesagt hat, er ginge nach London, ohne eine genauere Adresse anzugeben, auch hat er von England aus noch an Niemand hier geschrieben." „Seltsam!" sagte der junge Arzt und versank in Nachdenken. Die Frau empfahl sich jetzt, nachdem sie dem Doctor an das Herz gelegt hatte, ihre Mittheilungcn zu verschweigen. Otto gelobte es feierlich. In der Jugend überwindet ein kräftiger Geist viel, und Arbeit ist das beste Heilmittel gegen jeden Kummer, Auch Otto fand Freude, Anregung und