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MnM ffir Wl'Änifs Beilage zu Nr. 119. Dienstag, den 9. Oktober 1900. ^nvistische LVinke. (Nachdruck verboten.) Eine Pflicht der Geschädigten. Der grundlegende Satz einer wahrhaft modernen nnd billigen Schadenersatzregelung - „Wer Schaden thut, soll Schaden heilen" ist im B. G.-B. mit gutem Grunde von einer wichtigen, durchgreifenden Ausnahme durchbrochen, deren Inhalt sich Jedermann zu eigen machen sollte. Bietet sich doch einem Jeden täglich und stündlich tausendfach Gelegenheit, zum Schädiger zu werden. In dieser Aus nahme erkennen wir so recht das Walten des Gesetzgebers, wie er einmal selber ein bischen die Vorsehung spielt und dem tückischen Zufall dasSeepter zu entreißen sucht. Be ginnen wir mit einem praktischen Beispiel: Ich beauftrage mein Dienstmädchen, zu einem Freunde eine kostbare Vase, die mich mehrere hundert Mark gekostet, zu tragen, und ich, um ihn zu überraschen, mit einfacher, unscheinbarer Hülle umwickelte. Der Ueberbringerin sage ich, damit sie nichts vorzeitig vcrrathen kann, es sei eine Kiste Zigarren. Unterwegs läßt das Mädchen das Packet fallen, und mir entsteht ein gewaltiger Schaden. Ein anderes Bild: Mein Dienstmädchen stellt die brennende Petroleumlampe gauz in die Nähe meiner kostbaren Portieren. Ohne darauf zu achten, öffne ich das Fenster, und infolge des eindringendcn Luftzuges fangen sie Feuer. In beiden Fällen, — so sagt wohl einem Jeden das gesunde Rechtsgefühl, — wäre cs unrecht, wenn das Gesetz dem Mädchen, das ja allerdings beide Male Be dingungen gesetzt hat, ohne die der Schaden nie entstanden wäre, die volle Haftung allein aufbürden würde. Denn auch ich habe zweifellos mitgewirkt: Das erste Mal, weil ich es unterließ, das Mädchen (das Gesetz sagt all gemein „Den Schuldner") auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens aufmerksam zn machen, die es weder kannte noch kennen mußte Das zweite Mal, weil bei der Entstehung des Schadens (des Brandes) ein Verschulden von mir (des Beschädigten) mitgewirkt hat. Und deshalb hat das Gesetz den trefflichen Ausweg gefunden, denSchadeu angemessen zn vertheilen: es soll nicht nur die Ver pflichtung zum Ersätze des Schadens, sondern auch der Umfang des zu ersetzenden Schadens „von den Um- ständeu ", insbesondere davon abhängcn, inwie weit der Schaden vorwiegend von deni einen oder dem anderen Theile verursacht worden ist. Das Mädchen würde sicherlich in beiden Fällen sehr billig da von kommen. Die Sorgfalt, die es auf eine Zigarren kiste hätte verwenden müssen, ist gewiß eine geringere, als die wenn ich ihr cingeschärft hätte, was bei der Majolika Base auf dem Spiele steht. Deshalb ist einem Jeden zu rathen, nicht auf seinen Schein, bezw. Vertrag zu pochen, sondern immer lieber ein Wort zu viel als zu wenig. Das Leben ist auch dann noch schwer und pflichtenreich genug. Die des Lostsen Eine wahre Geschichte von E. Heinrichs (Fortsetzung.) ' (Nachdruck verbaten.) „Aa so", fugte er langsam, „das vergaß ich, Du liebst sie auch, nicht wahr?" „O, gewiß, und es fragt sich noch, ob sie den Sohn des Käpitäns oder den des Lootsen vorzieht." Lorenz blickte ihn starr an und wandte sich ab. „Höre, Bruder," setzte Hans rasch hinzu, „laß uns einen schriftlichen Pakt miteinander machen, denn das siehst Du wohl ein, daß ich nicht hier im Hause bleiben könnte, wenn das Glück Dir beides, das Lootsen-Amt und die Braut, geben würde." „Ich auch nicht - ich auch nicht", murmelte Lorenz. „Gut, das wäre abgemacht, denn so viel ich unsere stolze Marion —" „Neune sie nicht so", rief Lorenz rauh. „Gut, soviel ich Marie kenne, hält sie viel darauf, überall die erste zu sein, und wird es deshalb auch nimmer dulden, künftighin, wenn der Lootse, den sie verschmäht, sein Weib als Herrin des Hauses gelten lassen will, die zweite zu sein. So laß uns abmachen, daß derjenige, welcher das schwarze Loos in Sondcrburg zieht, sein Glück sofort anderswo versucht." „Es sei so", nickte Lorenz, ihm die Hand reichend. „Wollen es schriftlich machen, damit es ehrliches ^"t bleibt und den Eltern klar gemacht werden kann." pcschiosi ^'z zufrieden, und der seltsame Pakt wurde Mariens sechzehntem Geburtstage erklärte die b das Geheimniß bis zu ihrem achtzehnten ^ahre b wahrt bleiben sollte. nämlich nichts Gutes", sprach sie zu ihrem Mann, Im Mrchto, daß es besser gewesen wäre, wenn der Oans nur seinem Vater in der See geschwommen hätte, er ist nicht io treu und gut wie unser Lorenz, und —" „Na, na, Mutter", begütigte der Alte, „mache kaue Grabbeu; cs wäre doch Unrecht gegen den Jungen, wenn Du unser leibliches Krad für hälft —" „Nein, Vater, das ist es nicht, aber das Kind, die Marie, hat cs, fürchte ich, beiden augethan; wenn das nur nachher kein Unglück giebt, weil sie doch nur einer heirathen kann." „Meiner Seel!" rief der Alte bestürzt, „daran habe ich nicht gedacht, — nun geht mir auch ein Licht auf —" „Warum ich die Aufklärung von wegen der Marie bis zu ihrem achtzehnten Jahre aufgehoben habe", nickte Mutter Jansen; „habe ich's recht gemacht?" „Wie immer, meine kluge Alte!" seufzte Peter. II. Es war ein wunderschöner Frühmorgen im wonnigen Mai. Die Sonne war eben aufgegangen und wob ihren blitzenden Diamantschleier über die ruhige See, deren stille Fläche sich nur unmerklich kräuselte.. Im schmucken Sonntagsstaat präsentirten sich die beiden Söhne des Lootsen-Hauses der Familie, welche auch be reits ihrer harrte, um sie an den Strand zu geleiten, wo die beiden buntbewimpelten Kähne zur Abfahrt nach Sonder burg bereit lagen. „Es will mir nur nicht in den Kopf," meinte der Vater, seinen blonden, blauäugigen Sohn wohlgefällig be trachtend, „warum ein jeder von Euch apart fahren will. Hätte Euch lieber recht einträchtig in einem Kahn beisammen gesehen." Sein ehrliches Auge schweifte dabei nachdenklich zn Hans hinüber, der mit den schweren Nuderstangen im Arm ein Bild kräftiger Männlichkeit darbot, obwohl Lorenz entschieden hübscher war. Die schlanke, biegsame Gestalt des letzteren konstatirte mit der untersetzten, aber kräftigeren Figur des Pflegebruders, dessen unregelmäßiges Gesicht, von einem braunen Bart umrahmt, männlicher erschien. Das junge Mädchen blickte verwundert aus Hans und dann auf die Mutter, die leise den Kopf neigte. „Heute soll sie Alles erfahren," sprach sie ernst, „kommt nur, damit Ihr zur rechten Stunde in Sonder burg eintrefft." , Sie ging voran dem Strande zu, ihr Blick vermied des Sohnes" Antlitz, und sorgenvoll hingen die blauen Augen an der blinkenden Futh. Hatten sie recht gethan an dem einzigen Sohne, ihm einen solchen Bruder, dessen Herkunft Niemand recht kannte, zu geben, demselben gleiche Sohnesrechte einzuräumen und ihr eigenes Kind in solcher Weise zn berauben, ja vielleicht in wenigen Stunden um seine Zukunft, sein ganzes Glück zn bringen? Das kluge Mutterauge hatte längst mit heimlicher Sorge die auf- keimendc Neigung der beiden Jünglinge für Marie be merkt und das junge Mädchen im Verkehr mit demselben beobachtet, wobei die Waage bald für den einen, bald für den andern sich geneigt hatte. Da die Birk fernab von den Dörfern der Umgegend lag, so war auch der Umgang für Marie ein äußerst beschränkter geblieben, — man hatte sie bei Erntefesten stets ausgezeichnet, doch mit einer fast ehrerbietigen Scheu als etwas Höheres be trachtet, woran ihre Schönheit, ihr eigenartiges Wesen wohl den größten Antheil haben mochte, im klebrigen aber auf Wunsch des Pfarres als die leibliche Tochter des Lootsen behandelt und ihr selber niemals eine Andeutung von ihrer Herkunft gemacht. „Und nun fordert dieser Hans, den wir vom Tode gerettet und als eigenen Sohn ebenfalls ausgenommen haben es just heute von mir", dachte Mutter Jansen mit einem unsäglich bitteren Gefühl, als sie ihren Lorenz ans Herz Drückte und ihm leise Glück wünschte. Sie schaute dann auf Marie, welche dem Hans fröh lich lachend die Hand schüttelte und sich auf das Wett rudern der beiden freute. Das Herz der Mutter schien still zu stehen, als das junge Mädchen sich nun zu Lorenz wandte, ihn plötzlich, als sie in sein ernstes, in diesem Augenblick auffällig bleiches Gesichr sah, liebevoll um faßte und ihm ihre frischen Livpen znm Kuß bot. Lorenz erbebte vom Scheitel bis zur Sohle, preßte sie an seine Brust und küßte sie so innig, daß sie sich erröthend seinem Arm entwandt und ihn verwundert anblickte. Hans aber stand mit funkelnden Augen, in denen sich Haß und Eifer sucht spiegelten, dabei, biß sich die Unterlippe blutig und mahnte rauh zum Aufbrechen. „Bin ich schlechter als Lorenz," grollte er, „daß Du mich mit einem Händedruck abspeisest?" „Ach, sei nicht närrisch", lachte Marie, „ich fürchte mich vor Deinem stachligen Bart — und dann bist Du auch nicht mein Bruder wie der gute Lorenz —" „Wer hat Dir denn das gesagt?" fragte der Vater stirnrunzelnd, während sich Hans abwandte. „Er selber", nickte sie schelmisch, „sein Vater war Schiffskapitän — ist es wahr, daß er hier ans Land ge schwommen ist und daß er noch mal selber Kapitän wird?" „Du sollst heute noch erfahren, ob Hans die Wahr heit gesprochen hat," sprach der Alte mit lauter, fester Stimme. „Gott beföhle«, mein lieber Sohn Lorenz!" sagte Peter Jansen noch, drückte ihm herzlich die Hand, und im nächsten Augenblick tanzten siie beiden Kähne über die blitzende Flut. Wie in flüssiges Silber schienen die Ruder zu tauchen, und bald gewann Hans die Vorhand, weil Lorenz noch oft nach dem Strande zurückschaute und nun den Hut zum letzten Gruß noch schwang. „O, o, Haus hat ihn weit überholt," sprach Marie bedauernd. „Er sollte sein Zurückschauen und Grüßen doch lassen," brummte der Alte. „Unsinn, Vater," wies ihn die Mutter ernst zurecht, „ich sehe daran, daß er ein Herz für uns hat. Was kommt darauf an, ob er eine Viertelstunde früher oder später in Sonderburg eintrifft. Wäre er nur erst wieder daheim." Marie umschlang die Mutter. Wie gut Ihr doch seid, liebe Eltern!" sprach sie weich, „habt den Hans wie Euer eigenes Kind gehalten und nie davon gesprochen. Nun fährt er gar hin, um mit Lo renz zu losen — ist das nicht ein Unrecht gegen meinen Bruder?" Die Eltern antworteten nicht, sie starrten Beide auf die See hinaus, wo nach und nach die Kähne kleiner wurden und endlich nur wie Punkte erschienen. Peter Jansen ging dem Hause zu, die Mutter aber setzte sich auf einen Stein und schaute so sehnsüchtig über die See, als könne sie den Sohn zurückrufen. „Ist das nicht ein Unrecht gegen meinen Bruder?" so tönte es in ihrer Seele wieder, und die Angst trieb Thränen in ihre Augen und ein Gebet auf ihre Lippen. „Führe uns nicht in Versuchung!" stöhnte sie halblaut. (Fortsetzung folgt.) Der Mnttersohn. Roman aus der Gegenwart von Arthur Zapp. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Der Vertreter der Anklagebehörde knüpfte an die Aussage des letzten Zeugen an und suchte deren Bedeutung soviel wie möglich zu entkräften. Die Ausführungen des Zeugen sprechen ja für das gute Herz des Bruders, jedoch nicht für die Schuldlosigkeit des Angeklagten. Die Be weiskraft des von der Untersuchung gegen den Angeklagten gesammelten Belastungsmaterials erlitte durch die letzt! Zeugenaussage auch nicht die mindeste Einbuße. Darau ging der Staatsanwalt des näheren auf die einzelne, Belastnngsmomente ein und schloß endlich mit der Ed klärung, daß er den Angeklagten in vollem Umfange det ihm zur Last gelegten Verbrechens für überwiesen eracht und daß er daher gegen denselben eine Gesängnißstrap von zwei Jahren beantrage. Mau sah, wie der Angeklagte bei dem Anträge de- Staatsanwalts erbleichend zurücksuhr, wie Frau Helene die bis dahin eine bewundernswerthe Seelenstärke uni Fassung an den Tag gelegt, ihr Taschentuch an die Auge, drückte: man hörte das Schluchzen der Mutter. Nun kam die Reihe au den Vertheidiger, der warn für die Unschuld des Angeklagten eintrat und das ganz gegen seinen Klienten vorgebrachte Belastungsmaterial ei "willkürlich und künstlich konstruirtes Kartenhaus nanut, daß sofort in sich zusammeufalle, wenn man es erst ei, wenig näher betrachte und berühre. Nach der Rede des Verteidigers, der unbedingte Frei sprecbung des Angeklagten beantragte, zog sich der Ge richtshof zur Berathung zurück. Für die Betheiligten waren es martervolle Stunden die nun verstrichen, jede Minute eine Ewigkeit. Otlo lehnte blaß und halb ohnmächtig in seinen Stuhl; seine Mutter war zu ihm hingetreten und sprach mit liebevollem Vorwurf in ihn hinein. Wie er nur st unvorsichtig hätte sein können! Wenn sich nur nicht plötz lich ein böser Rückfall Anstelle! Wie schön er gesprocher habe, viel schöner als der Anwalt selbst. Wenn Kar fretgesprochen würde, habe er es nur ihm zu danken. Otto erwiderte nichts, ja, er hörte nicht einmal auj die Reden seiner Mutter; alle Nerven in ihm waren ge spannt, alle Fibern seiner Seele zitterten. Keiner iw Gerichtszimmer, der Angeklagte nicht ausgenommen, sah dem Urtheilssprnch in so heftiger innerer Bewegung ent gegen, wie er. Es war ja sein eigenes Schicksal, über das in dem Nebenzimmer berathen wurde. Erklärte man den Bruder für schuldig, dann gab es für ihn keine Galgen frist mehr; dann mußte er vortreten und sagen: „Ihr irrt! Stiebt er, sondern ich bin schuldig!" lind dann mußte er erklären, wie er den Diebstahl ausgeführt hatte, und wie alles gekommen war. Er tastete verstohlen in die Tasche seines Rockes und fuhr erschrocken zusammen. Daß er nicht daran gedacht hatte, seinen Revolver zu sich zu stecken! Was blieb ihm nun, wenn Karl verurtheilt, und er zu einer Selbstanklage gedrängt wurde, als allerletztes Zu kunftsmittel, um einem Leben der Schande zu entgehen? Endlich, zwei Stunden mochten vergangen sein, kehrten die Richter zurück. Unter lautloser, athemloser Spannung aller Anwesenden verkündete der Vorsitzende das Urtbeil: „Freigesprochen wegen mangelnder Beweise!" „Wohl feien," so erläuterte der Vorsitzende den Urtheilsspruch, „verschiedene erhebliche Momente vorhanden, die den An geklagten schwer belasteten, aber auf der anderen Seite war das Beweismaterial doch nicht überzeugend genug, ihn, dem fämmtliche Zeugen den besten Leumund ausge stellt hätten, eines so schimpflichen Vergehens für schuldig zu erklären." Helene hing schluchzend am Halse ihres Mannes, dem