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MMaN fii l Mlsdniß Beilage zu Nr. 107. Dienstag, den 1t. September 1900. Auf den Monat September» werden Bestellungen auf das .KOMM für Mimüs clc.' mit,,landwirthsctznftl. unS iUnftrietet, 8fcktiger Sonntagsbeilage mit Akodcnbeilage^, sowie » Ziehungslistender^kgl Sach? EanLeslstterie" für die Stadt Wilsdruff bei unterzeichneter Geschäftsstelle zu 44 psg., für auswärts bei allen Kaiser!. Postämtern und Landbriefträgern zu 54 pfg angenommen. Geschäftsstelle des Amts- und Wochenblattes für Wilsdruff. Dev Muttersohn. Roman ans der Gegenwart von Arthur Zapp. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Eine ganze Weile stand Karl noch wie betäubt und starrte immer zu dem Hause hinüber und zu den Fenstern des obersten Stockwerks hinauf, in welchem sich die Wohnung von Helenes Verwandten befand. Endlich raffte er sich auf; das Verlangen, Otto zu sprechen und eine Erklärung von ihm zu fordern, packte ihn mit Ungestüm; lag hier nur der Zufall vor, der die Beiden hatte ein ander auf der Straße begegnen lassen? Er eilte nach der anderen Seite hinüber, aber von Otto war keine Spur mehr. Ein grenzenloses Erstaunen erfaßte den Heimkehrenden, als er auch zu Hause den Bruder uicht vorfand. Die heftig schmerzenden, antstachelndcn Empfindungen, die ihn schon vorher auf der Straße verstimmt hatten, kehrten in verstärktem Maße zurück und er mußte alle seine Selbst beherrschung aufbieten, um nicht zu vcrrathen, was innerlich in ihm vorging. Jeden Abend eilte nun Karl nach Fabrikschluß mit fiebernder Unruhe nach der Pankstraße. Schon am dritten Tage Wurde ihm derselbe Anblick, wie neulich; er sah Otto und Helene mit einander plaudernd und lächelnd. Nun war kein Zweifel mehr möglich; nicht bloß ein Zu fall lag diesen Begegnungen zu Grunde, sondern eine be stimmte Verabredung. Ein so heißer Schmerz durchfuhr deu heftig Erregten, daß er hätte laut aufschreien können. Kaum hatten Otto und Helene sich getrennt, als Karl in zitternder Erregung zu dem Bruder hinüberstürzte. „Was hast Du denn mit Fräulein Zimmermann?" fragte er ihn nnn ohne Weiteres. „Ich?" fragte Otto und blickte ein wenig verlegen darein. „Nichts; ich bin ihr zufällig begegnet." „Zufällig? Und vor drei Tagen?" Otto sah seinen Bruder erstaunt an. „Also Du spionirst!" bemerkte er spöttisch; „sieh mal an! Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?" Eine flammende Rothe ergoß sich über das ehrliche Gesicht des anderen. „Unsinn!" brauste er auf und sah seinen Bruder zornig in die listig blinzelnden Augen. „Aber ich achte Fräulein Zimmermann, der wir zum Dank verpflichtet sind, und ich werde nicht dulden, daß Du sie ins Gerede bringst!" „Ins Gerede? Lächerlich? Wer achtet denn auf uns? — Wer kümmert sich denn darum? — Ueberhaupt, was ist denn da weiter? — Sie hat mir erzählt, daß sie nachmittags über in der Badstraße beschäftigt ist, und da hole ich sic manchmal des Abends ab, wenn ich gerade nichts Besseres vorhabe; sie ist ein ganz allerliebstes Mädchen." Dem anderen strömte alles Blut zum Herzen; er zitterte vor Aufregung und hatte das Gefühl, als stieße ihm jemand ein Messer in die Brust. Also Helene leistete diesem Zusammentreffen Vorschub! Freilich, Otto hatte ein hübsches, glattes Gesicht; er besaß feine Manieren und war Referendar! „Liebst Du sie?" fragte er und seine verstörten Blicke hingen in angstvoller Spannung an dem Gesicht des Bruders. „Lieben?" wiederholte Otto und zuckte nachlässig mit den Achseln; „sie gefällt mir." „Aber," der Sprechende athmete schwer, und nur mit Blühe stieß er das Folgende heraus: „Hast Dudenn schon bedacht, daß Du vorläufig gar nicht ans Heirathen denken kannst? Bis Du so weit bist, Helene heirathen zu können, vergehen mindestens noch vier oder fünf Jahre!" „Heirathen?" Der Referendar hob in namenlosem Staunen den Blick zu dem Gesicht des Brudes. „Ja, wer denkt daran, Helene Zimmermann zu heirathen? Ich bin doch nicht verrückt! Wenn ich heiratbe, muß das Mädchen entweder sehr viel Geld haben oder aus vor- uchmer Familie sein und mir Konnexionen gewähren, oder noch besser beides, wie etwa Fräulein Göring. Das wär 'ne Parthie für mich!" Er schmunzelte selbstgefällig vor sich hin. „Na, wer weiß, was noch in der Zeiten Hintergründe —." Er unterbrach sich, denn er fühlte sich plötzlich von der Hand des Bruders am Arme gepackt. Eine mühsam beherrschte Aufregung schüttelte den großen, starken Menschen. „Du willst sie nicht heirathen?" herrschte ibn der andere an. Otto faßte mit der freien Hand nach dem Arm des Bruders. „Tuh' mir zuerst den Gefallen," sagte er mit trockener Ruhe, die seltsam von der Erregtheit des anderen abstach, „und laß mich los! Dn hast eine Faust, der reine Schraubstock! So! Nun, das arme Kind thut mir leid; sie ist noch so fremd hier, hat noch nichts von Berlin ge sehen; da will ich ihr mal 'n bischen die Herrlichkeil des hiesigen Lebens zeigen. So haben wir zum Beispiel für morgen eine feine Sache verabredet. Zuerst gehen wir in den Zirkus Renz, nachher essen wir irgendwo Abend brot zusammen. Das Mädel freut sich jetzt schon riesig darauf." Eine furchtbare Entrüstung arbeitete in dem Em pörten, ein flammender Zorn; er mußte sich Gewalt an- thun, um nicht von Neuem die Hand an Otto zu legen. Aber er konnte sich nicht enthalten, wüthend auf seinen Bruder loszufahren: „Das — das ist gewissenlos, — das ist gemein von Dir!" „Erlaube mal," fiel der Jüngere ein, „ich muß doch sehr bitten —". Doch die zornige Erregung des Bruders ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Dem Jüngeren war die Aufregung des Bruders un begreiflich. „Ich verstehe Dich nicht!" sagte er und zuckte mit den Achseln. „Du thust ja gerade, als ob Fräulein Zinnnermann eine Prinzessin wäre!" Sie waren an dem Hause der Eltern angelangt. Otto sprang leichtfüßig die Treppen hinan. Karl blieb noch zögernd in der Hausthür stehen; er war noch zu sehr aufgeregt, als daß er den Augen der Eltern jetzt hätte begegnen können. Mit energischem Ruck machte er Kehrt und trat wieder auf die Straße hinaus. Als Karl eine Stunde später nach Hause zurückkehrte, war Otto schon wieder fort. In dieser Nacht kam wenig Schlaf in seine Augen; unaufhörlich legte er sich die Frage vor: „Was soll ich thun?" Ein unbestimmtes Gefühl von Angst, Eifersucht und Entsetzen schnürte ihm die Brust zusammen. Wie ein Fieber glühte die Aufregung in den Adern des rnhelos sich auf seinem Lager Wälzenden; der Angstschweiß brach ihm aus, während er rathlos hin und her sann. Am andern Morgen hatte sich seiner eine verzweifelte Stimmung bemächtigt. Wenn sich ihm denn absolut kein anderes Mittel bot, so würde er mit Helene selbst sprechen. Die Zähne schlugen ihm vor Aufregung zusammen, während er mit sich zu Rache ging, wie er es ihr sagen sollte. Was würde sie von ihm wohl denken? Als 11 Uhr vorüber war, brach er von der Fabrik auf; er wußte, daß Helene m der zwölften Stunde nach Hause ging. Richtig, an der Ecke, wo die Rügener- und die Bad straße zusammentrafen, begegnete er ihr. Sie erwiderte seinen Gruß freundlich wie immer. Das Blut stieg ihm glühend in Stirn und Wangen, aber erraffte sich gewaltsam zusammen. „Ich — ich habe Sie erwartet, Fräulein Helene, — ich möchte Ihnen etwas sagen," begann er zaghaft und unwillkürlich den Blick senkend — „wenn Sie es mir erlauben." Sie war stehen geblieben, während er sie begrüßt hatte, jetzt setzte sie ihren Weg fort. „Bitte!" sagte sie und sah ihn erstaunt von der Seile an. Heiß und kalt durchschauerte es ihn; die Zunge klebte ihm am Gaumen; es war doch noch schwerer, als er es sich schon ohnehin vorgestellt hatte. Endlich faßte er sich ein Herz. „Ich habe Sie gestern mit Otto gesehen," brachte er schüchtern heraus mit einer Miene, als ob er sich einer wer weiß welch' großen Dreistigkeit schuldig ge macht habe. Sie erröthete und hob forschend und verwundert den Blick zu ihm. „Ich habe Sie wirklich nicht bemerkt," er widerte sie wie entschuldigend; „warum sind Sie denn aber nicht herangekommen?" „O — ich — ich sah Sie ja — ja nur von — Weitem," stammelte er. Sie schritten eine Weile schweigend neben einander, Beide befangen, Beide im Stillen nach einer passenden Fortsetzung des Gesprächs suchend. Karl war es, der zuerst wieder das Wort nahm; es kostete ihm eine gewaltige Anstrengung, als er jetzt mit der krampfhaften Entschlossenheit eines Menschen, der unter- allen Umständen sprechen muß, die Bemerkung wagte- „Otto hat mir erzählt, daß Sie heute Abend mit ihm in den Cirkus Renz gehen wollen." Sie erröthete wiederum; aber ihre Verlegenheit war nur momentan; ihren Blick wieder zn ihm erhebend, sagte sie schlicht mit der Miene eines Menschen, der sich keines Unrechts btzjvußt ist: „Ja, Ihr Herr Bruder war so liebenswürdig, mich einzuladen. - es ist sehr freundlich von ihm." . „Nein, es ist sehr unrecht von ihm, und Sie sollten die Einladung nicht annehmen!" Es war ihm in seiner Aufregung fast rauh und heftig entfahren, Sie sah ihn erstaunt, erschreckt an. „Unrecht?" fragte sie, und nicht nur in ihren Mienen, auch im Tone ihrer Stimme drückte sich Befremden und eine leise Nüance von Mißtrauen aus. „Wieso? Ist Ihr Herr Bruder denn uicht ein höchst ehrenhafter Mann, dessen Schutz sich ein junges Mädchen anvertrauen darf?" Wieder kam Karl ins Stocken und eine rathlose Ver legenheit malte sich in seinen zuckenden Mienen; seine Lippen bewegten sich mechanisch, brachten aber kein lautes Wort hervor. Was sollte er ihr denn uuu antworten? — Sollte er seinen eigenen Bruder bei ihr anschwärzen, sollte er ihr sagen; Otto ist ein leichtsinniger Mensch, der es durchaus nicht ehrlich mit Ihnen meint! — Hüten Sie sich vor ihm! — Was würde sie dann von ihm denken? — Würde sie seine Worte nicht für Verleumdung halten, die ihm sein Neid, seine Eifersucht eingegeben? Endlich raffte er sich zu ein paar allgemeinen Worten auf: „Ich bitte Sie, Fräulein Helene, gehen Sie nicht! — Glauben Sie mir, es geschieht nur in Ihrem eigenen Interesse, daß ich Sie jetzt so dringend darum bitte! — Es ist wirklich für ein junges Mädchen in Berlin nicht rathsam, sich von fremden Herren in allerlei Vergnügnugs- locale führen zn lasten." Er sah ihr dringlich ins Gesicht, und er bemerkte, wie ein Schatten von Verstimmung sich über ihre freundlichen, hübschen Züge verbreitete. . „Ich begreife Sie nicht, Herr Köster," entgegnete Helene gekränkt und empfindlich. „Ihr Herr Bruder ist doch für mich kein fremder Mensch; ich habe ihn doch fast täglich wochenlang in der Wohnung seiner Eltern gesprochen und habe doch gesehen, daß er ein guter Sohn ist. Und Ihre Mutter hat mir so viel Gutes und Schönes von ihm erzählt; soll ich ihm für seine Freundlichkeit dadurch danken, daß ich ihm erkläre: „Ich kann Ihre Begleitung nicht an- uehmen, denn ich kenne Sie nicht genug, Sie sind mir zu fremd?" Wie würden Sie es aufnehmen, wenn ich Ihnen nun sagte: „Herr Köster, ich kann mit Ihnen hier aus offener Straße nicht gehen und nicht sprechen; Sie sind ein Fremder für mich." Von wem soll ich mich denn be gleiten lassen, wenn ich mir mal eine kleine Zerstreuung gönnen will? Mein Onkel und meine Tante, bei denen ich wohne, sind alte Leute, und von meinen jüngeren Ver wandten hier fällt es Niemandem ein, mich einmal zu irgend einem Vergnügen einzuladen. Sie haben gut reden, Herr Köster, Sie sind ein junger Manu, Sie können hin- geheu und sich amüsiren, wo und wann es Ihnen beliebt. Glauben Sie, unsereins möchte nicht auch gern einmal etwas von den vielen Wunderdingen sehen, von denen man nun schon so viel gehört hat? Ich bin nun schon sechs Monate in Berlin und bin noch nirgends gewesen, in keinem Theater, in keinem Konzert. Immer Arbeit und Arbeit. Man ist doch auch jung und möchte einmal ein Vergnügen »haben. Warum gönnen Sie mir das nicht? Ich muß ja Ihrem Herrn Bruder noch dankbar sein, daß er sich meiner erbarmt und daß er so freundlich ist, mir seine Begleitung anzubieten, da ich doch als junges Mädchen allein nicht gehen kann." Sie hatte das alles im schnellen Flusse, in steigender Erregung gesprochen, mit blitzenden Augen und rothen Wangen. Jedes i rer Worte hallte im Innersten seines Herzens wieder, ein tiefes Mitleiden glühte in ihm auf mit dem armen, jungen Mädchen an seiner Seite, mit ihrer Ver lassenheit, mit der Freudlosigkeit ihres Lebens und zu gleich erfaßte ihn ein rasender Zorn gegen sich selbst. Er hätte sich mit beiden Händen an den Kopf fahren und sich vas Haar vor Aerger, Beschämung und Zerknirschung ausranfen mögen. Welch ein plumper, unbeholfener Mensch er dock war! Eine rechte Kunst, ihr nun das Vergnügen, auf das sie sich so freute, ausrcden zu wollen. Warum war es ihm denn noch nicht eingefallen, der armen Allein stehenden seine Begleitung, seinen Schutz anzutragen und sie uack einem besseren Theater zu führen oder sonst einen der edlen, erhabenen Genüsse, an denen das Berliner Leben nicht arm war, ihr zu erschließen? Hätte er ihr nicht eine große Freude und sich selbst das schönste, be- neidenswerthe Glück damit bereitet? Wie schön wäre es ja gewesen, Lust und Freude in ihr einsames, abwechs lungsarmes Leben zu bringen, sich an ihrer Freude zu erfreuen! Nun war es zu spät; er konnte ihr doch nicht rathen: „Sagen Sie Otto ab und gehen Sie mit nur." Mit welchem Rechte konnte er von ihr verlangen, daß sie ihm mehr Vertrauen entgegenbriuge, wie seinem Bruder? Er war so darnieder geschlagen, so zerknirscht, daß er sich zu gar keiner Entgegnung aufschwingen konnte; stumm schritt er an ihrer Seite dahin, bis es ihm plötzlich einfiel, es sei das Beste, sich von ihr zn verabschieden. Kleinlaut, mit sehr gedrückter Stimme sagte er ihr Adieu. Sie reichte ihm mit ihrer gewöhnlichen freundlichen Miene die Hand, auf den Gegenstand ihres so plötzlich abgebrochenen Gesprächs kam sie mit keiner Silbe zurück, i Karl war den ganzen Tag über wie im Fieber. Als der Abend kam, war sein Entschluß gefaßt. Er vertauschte sein Werktagskleid mit seinem Sonntagsgewand und bestieg idie Pferdebahn, um «ach der inneren Stadt zu fahren. Der Andrang zum Zirkus Renz war wie gewöhnlich ein ungeheuer großer, und Karl war froh, daß er noch ein i Billet zum „zweiten Rang" erhielt. Mit klopfendem Herzen