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fiel der Staatsanwalt rasch ein, „das ist ebenfalls richtig, doch haben wir hier mit andern Factoren zu rechnen. — Herr von Santen ist ein völlig unbescholtener Mann, besitzt die allgemeinste Achtung dieser Stadt, An sehen und Reichthum, während seine zärtliche Liebe für die allerdings ältere Gattin allgemein anerkannt worden ist. Diesem Manne tritt nun die monströse Anklage gegenüber in der Gestalt eines einfachen Bauern burschen, welcher aus der Entfernung gesehen haben will, daß Herr von Santen die eigene Gattin in die Schlucht hinabgestürzt hat. Kann eine solche ungeheuerliche Anklage Glauben finden, würde dieselbe nicht viel mehr einem allgemeinen Sturm der Entrüstung begegnen?" Der Staatsanwalt warf nach dieser siegreichen Beweisführung einen triumphirenden Blick auf Stevenson und leerte sein Glas. „Das ist Alles sehr logisch gedacht, Herr Staatsanwalt," erwiderte der Amerikaner ruhig, „und der öffentlichen Meinung gegenüber auch durch aus zutreffend, nur schade, daß diese Großmacht in gerichtlichen Sachen keine entscheidende Stimme haben —" „Aber einen bedeutenden Druck auf das Urtheil der Geschworenen ausüben kann," fiel der Staatsanwalt überlegen ein. „Zugegeben, — obwohl sie trotz alledem niemals das letzte Wort be halten darf. Ist denn, so frage ich, das Zeugniß eines einfachen Land mannes in allen Fällen verwerflich? — Hat ein solches nicht vielmehr als dasjenige einer vollständig uninteressirten Person Glauben zu beanspruchen zumal hier, wo diese Person ein Kind des Gebirges, ein Fremdenführer und mit scharfen Sinnen gerüstet ist? Es sähe wahrscheinlich schlimm aus in einem Staate, wenn dem armen unbescholtenen Manne dieRechts- wohlthat des Zeugnisses ohne Weiteres verdächtigt werden könnte. Nein, Herr Staatsanwalt, ich glaube besser von deutschen Richtern." Der hohe Beamte war sehr ernst und nachdenklich geworden, da er sich der Richtigkeit dieser Auffassung durchaus nicht verschloß. Er war kein Mann, der mit der eigenen Unfehlbarkeit liebäugelte, sondern ein klarblickender Geist, welcher Augen und Ohr stets offen hielt für die Wahr heit, aus wessem Munde dieselbe auch ertönen mochte. Wie seltsam nun eine solche Unterhaltung zwischen dem Staatsan walt und seinem Gefangenen auch erschien, so leuchtete doch daraus hervor, daß jener einen gewissen Respect vor der ganzen Persönlichkeit des Ameri kaners empfand und aus dieser ebenbürtigen Behandlungsweise einen Liefern Einblick in dessen Charakter zu ermöglichen suchte. Er war dem deutschen Rechtsgelehrten, welcher als solcher eine hohe Stellung einnahm, an Scharf sinn und Bildung gewachsen, das mußte der Staatsanwalt anerkennen, welcher damit aber auch zugleich in eine recht unbehagliche Sackgasse ge langt war. Waren die Papiere des Dr. Stevenson in Ordnung, er selber das jenige, für den er sich ausgehen, also kein Abenteuerer, wohlan, dann lag auch kein Grund vor, ihm zu mißtrauen, seine Angaben von der Ver folgung des angeblichen Grafen und den Verdacht gegen Herrn von Santen als Lüge zu erklären. „Nun, wir werden ja sehen," sprach er nach einer Pauje, seinen Ge fangenen nachdenklich anblickend. „Ich -denke, wir begeben uns jetzt nach dem Bahnhof, um den Zug nicht zu verpaffen." Er klingelte nach diesen Worten, um Zahlung zu leisten, worauf sie sich auf den Weg machten und nach einer halben Stunde nach L. zurück fuhren. Der Staatsanwalt war sehr schweigsam geworden, während der Schutz mann in der dritten Klasse ebenfalls seine eigenen Gedanken über diese wunderliche Fahrt hatte, zumal er beim Einsteigen mit Erstaunen wahr genommen, wie rücksichtsvoll sein Vorgesetzter den Gefangenen, der eines Mordes verdächtigt war, behandelte. Es erfüllte ihn mindestens mit Ge- nugthuung, daß der Amerikaner wieder direct in's Gefängniß abgeliefert wurde. Von hier fuhr der Staatsanwalt zu dem kleinen Notar Sauer, welcher zum Erstaunen der Srinigen sich nach seiner Heimkehr von S. in sein Zimmer eingeschlossen und Speiße und Trank verschmäht hatte. Er war wie ausgewechselt und so heftig erregt gewesen, daß selbst die Frau Notar keine weitere Frage mehr gewagt, sondern fick kopfschüttelnd zurückgezogen hatte. „Es ist seit jener Unglücksnacht da drüben auch bei uns Verschiedenes aus Rand und Band gegangen," bemerkte Linchen achselzuckend zu der Schwester Aennchen, „sieh Dir nur Albertine an, heute geht sie wieder wie ein Gespenst umher, man hätte sie nicht allein fort lassen müssen." „Promenirt sie schon wieder?" fragte Aennchen, „am Ende wohl gar am Gefängniß vorüber. — Mein Himmel, Linchen, wenn sie durch diesen Schwarz nur nicht gar in die schreckliche Geschichte mit verwickelt wird—" „Still, Liebe, ich mag nicht daran denken, habe schon schlaflose Nächte davon gehabt. Wer kommt denn da in einem Wagen zu uns? Himmel! das ist der Berliner Staatsanwalt; nun wird's gut." Linchen war bei diesen Worten todtenbleich vor innerer Aufregung geworden. Doch suchte sie sich zu fassen, um den Herrn, der soeben in's Haus trat, in das Besuchzimmer zu sühren und dann energisch beim Vater anzuklopfen. „Was giebt's? Ich will Ruhe haben," klang es grob heraus. „Oeffne!" gebot Linchen kurz, und der Notar gehorchte augenblicklich, weil er vor dieser Tochter Respect besaß. „Der Berliner Staatsanwalt ist im Besuchszimmer, soll ich ihn hier her führen, Papa!" fragte Linchen leise. Der Notar starrte sie erschreckt an. „Das fehlte nur noch," murmelte er unruhig, „nein, nein," setzte er laut hinzu, „schlickt sich nicht, Kind, ich muß mich zu ihm begeben." „Hast Du Furcht vor diesem Herrn, Papa?" fragte sie, ihn forschend anblickend. „Ich? — nein, Kind, durchaus keine Ursache dazu, aber — ich habe so Schreckliches erfahren, daß ich so zu sagen aus dem Häuschen gerathen bin. Aengstigt Euch nur nicht unnöthig, Kinder!" Er schritt rasch nach dem Besuchszimmer hinüber, wo der Staats anwalt ein Album durchblätterte. „Herr Staatsanwalt, ich stehe zu Ihren Diensten!" sprach Sauer mit großer Würde. „Sehr verbunden, Herr Notar! —Ich komme in einer vertraulichen Sache zu Ihnen. Sind wir hier ganz ungestört?" „O, das wohl, wenn Sie sich jedoch nach meinem Separat-Zimmer bemühen wollen, Herr Staatsanwalt? —" „Recht gern, Herr Notar!" (Fortsetzung folgt.)