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3. Beilage Donnerstag. 16 April 1908. Leipziger Tageblatt Nr. 106. 102. Jahrgang Muhestunden. Christiane Tanner. 23j Roman von Claire von Glümer. Aber Wilhelm, wie würde er sich zu der Wendung ihres Geschickes stellen? — Je länger sie darüber nachdachte, um so größer und quälen der wurde ihre Unsicherheit; so schnell als möglich mußte sie ihr ein Ende machen, trug die Lampe auf den Schreibtisch, der mit allem Nötigen versehen war, und schrieb dem Freunde: „Lieber Wilhelm! Wie Saul, der auszog, seines Vaters Eselin zu suchen, und ein Königreich fand, ist es mir ergangen. Auf das flüchtige Vergnügen eines Balles war ich vorbereitet, und habe meinen Vater gefunden! Erschrick nicht, Wil, und fürchte nichts für mich, und vor allem, glaube nicht, was man Dir von ihm erzählt haben wird. Denn, nicht wahr, Du weißt Bescheid um das Schicksal meiner Mutter, und hast bis fetzt in meinem herrlichen Vater einen Unhold gesehen? — Glaube mir, er ist warmherzig und treu, und meine Mutter liebt er heute noch. — Aber er selbst soll Dir die Geschichte seiner Jugendliebe erzählen; ich lege die Blätter ein, die er mir nach unserer ersten Begegnung ge schrieben hat. Tu wirst sie mir wiederbringen, wenn Du nach Elmenach kommst; daS muß freilich bald geschehen, denn mein Vater will mich nach Harthausen holen, und bei Northeimbs mußt Du mich aufsuchen. Großmama kann meinem Vater nicht verzeihen und hat mich um seinet willen aus dem Hause gewiesen. Du siehst, es ist gesorgt, daß auch meine Bäume nicht in den Him- mel wachsen; aber trotzdem möchte ich immer wieder aufjubeln über die Glücksfülle, die mir zuteil geworden ist. Ihre Größe kannst Du nur ermessen, wenn Du ahnst, wie mich erst das dunkle Gefühl, dann das Verstehen meiner mißachteten Ausnahmsstellung, endlich das Bewußt sein bedrückt hat, daß mir ein Vater lebte, der kein Herz für mich zu haben schien. Nun ist mir diese Pein von der Seele genommen! Des Vaters Brief hat alle Zweifel, alle Bitterkeit besiegt; ich darf ihn ver- ehren und lieben; und während ich gestern noch heimatlos, namenlos, und das ersehnie Herzensglück der Stern war, den ich nicht begehren durfte, ist mir heute ein Vaterhaus gegeben und mit dem Geliebten, sein ich verlobt bin, die Anwartschaft auf einen edeln Namen. Diesen Namen hast Tu längst erraten. Das Haupthindernis, das meiner Verbindung mit Christian im Wege stand, hat mein Vater als Familienoberhaupt der Parnims durch seine Einwilligung gehoben, und was an Opfern zu bringen, an Mißbilligung zu ertragen ist, wird Christian freudig-tapfer auf sich nehmen. — Wie mich danach verlangt, Euch miteinander bekanntzumachen! — Leicht zu kennen ist Christian nicht; so tief verbirgt er sein reiches Gemüt, sein leidenschaftliches Empfinden, daß ihn Tante Lore kalt, spöttisch und hochmütig gefunden hat. — Du wirst scharfsichtiger und vorurteilsfreier sein, wirst den beiden gerecht werden, die nun auf immer zu mir gehören, ebenso wie Du, mein guter Kamerad — denn daß zwischen uns alles bleibt wie bis her, versteht sich von selbst. . . Ich hätte Dir noch viel zu sagen, aber der überreiche Tag hat mich müde gemacht, und Sprechen ist besser als Schreiben: darum komm, sobald Tu kannst, zu Deiner glückseligen Christiane." XVII Diese gehobene Stimmung fand Christiane am folgenden Tage erst wieder, als sie nach der Unterredung mit Tante Lore, trotz des noch immerfort strömenden Regens, auf Umwegen nach dem Schlosse zurück ging. Tie naßkalte Lust, der herbe Geruch des welkenden Lavbes, die Stille und Einsamkeit ringsumher erfrischten sie. Und dann brach die Dämmerung herein — in kaum einer Stunde durfte sie Christian er- warten Die Vorfreude auf dies Wiedersehen verdrängte die peinlichen Ein- drücke, die der Tag gebracht hatte. Vor dem gemeinsamen Frühstück war Frau von Northeimb zu Christiane gekommen, um ihr zu sagen, daß Cara in dem Glauben er halten werden solle, Onkel Parnim sei mit Mathilde Tanner heimlich verheiratet gewesen. Daß es auch in höheren Kreisen illegitime Ver hältnisse und illegitime Kinder geben könne, brauche die unschuldige Kleine nicht zu wissen; und mit einem Blick, der Christiane das Blut ins Gesicht trieb, hatte sie hinzugefügt: „Ich selbst, meine Liebe, habe, als Sie in unser Haus kamen, von Ihren Familienverhältnissen keine Ahnung gehabt." Ten Nachsatz hatte sie unterdrückt: aber was sie meinte, war nicht mißzuverstehen. Später hatte Cara die Freundin in ihrem Zimmer ausgesucht und mit trotziger Miene begonnen: „Mama befiehlt, daß ich Dich wegen gestern um Verzeihung bitte und dir gelobe, nie, nie wieder ein Sterbenswörtchen gegen deinen Christian zu sagen. Das beste ist, wir sprechen gar nicht von diesem Prinzen Wunderhold, denn meine Meinung über ihn kann ich nicht ändern." Dann hatte sie Christiane stürmisch umarmt und versichert, auch ihre Meinung über ihre liebe, einzige Tia, das beste Mädchen der Welt, werde immer dieselbe bleiben, und es sei ihr „schnuppe", ob Onkel Parnim Christianens Mutter geheiratet habe oder nicht — im Gegen teil, sie finde die Sache viel interessanter ohne das . . . Mit siebzehn Jahren sei man doch kein Wickelkind mehr — man kenne die Welt! Und was sie selbst betreffe, so habe sie in der Literaturstunde besonders für die heldenmütige Agnes Sorel geschwärmt, die dem Könige, mit dem sie doch auch nicht verheiratet gewesen sei, ihren ganzen Schmuck zum Opfer bringen wollte — und wenn Herr von Enke das Glück hätte, „Dunois Bastard von Orleans" zu heißen, würde sie ihn vielleicht noch reizender finden, als so. Es war gut gemeint, aber Wunden schmerzen auch bei der leisesten Berührung. Selbst der Hausherr tat Christiane weh, als er sie mit aufrichtiger Herzlichkeit als „liebes Cousinchen" begrüßte. Am peinlichsten aber war der Besuch in der Bürgermeisterei ver laufen. Tie Großmutter hatte sich geweigert, Christiane wiederzusehen, solange sie den Parnims verfallen sei, und Lore war dabei geblieben, den „Harthäuser" für einen Herz- und gewissenlosen Menschen zu er- klären. Vergebens hatte ihr Christiane den Inhalt seines Briefes fast wortgetreu wiederholt, vergebens den Eindruck geschildert, den sie bei der ersten Begegnung von der Persönlichkeit des ungekannten Vaters empfangen hatte: Lore sah darin nur den Beweis ihrer unheilvollen Seelenverwandtschast mit diesem Manne. Auf seine Rechnung komme es denn auch, wenn das Unglückskind, von Rang und Reichtum ver blendet, Recht und Unrecht nicht mehr unterscheiden könne. — Je leiden schaftlicher Christiane den Vater und sich selbst verteidigte, um so bittrer wurden Lores Anklagen. Beide erhitzten sich, sagten sich böse Tinge, und gingen unversöhnt auseinander. Als Christiane allein war, tat ihr das leid, denn nun hatte sie sich die Seele frei gesprochen und nahm sich vor, alle kleinen Quälereien, auf die sie bei Northeimbs gefaßt sein mußte, gelassen zu ertragen. Wenige Tage noch, dann lag das alles hinter ihr, und in den Kämpfen, die ihr wechrscheinlich bevorstanden, würde sie den Vater und ChrWdn zur Seite haben. — Mit Hellem Blick und leichtem Herzen kam sie ins Schloß zurück. Murner, der auf ihr Klingeln öffnete, sagte ihr, daß ein Brief für sie gekommen sei, den er mit den übrigen Postsachen der gnädigen Frau gegeben habe. „Vom Vater", dachte Christiane, legte Hut und Mantel ab und ging in den Salon, wo Frau von Northeimb mit Briefen und Zeitungen, Cara mit einer Stickerei bei der Lampe faß. „Tia, was habe ich für dich!" rief die Kleine, indem sie die ver- haßte Arbeit in den Schoß fallen ließ und ein vor ihr liegendes Kuvert mit beiden Händen bedeckte. „Ich weiß schon, einen Brief", sagte Christiane, indem sie heran trat, und Frau von Northeimb fügte hinzu: „Aus Lingenau, aber ver Handschrift nach nicht von Christian." „Nein, von meinem Freunde Wilhelm Martiny", antwortete Christiane nach einem Blick auf die Adresse, lehnte Frau von Nori- heimbs Aufforderung, gleich hier zu lesen, mit dem Bemerken ab, daß sie die nassen Kleider wechseln müsse, und ging in ihr Zimmer. Die Lampe, die Murner für sie anzündete, trug sie selbst hinaus, um schneller allein zu sein, und während ihr der Alte mit der gering- schätzigen^getrachtung nachsah, sie scheine an Bedienung nicht gewöhnt zu sein, fragte sie sich schmerzlich überrascht, warum der Freund geschrieben habe, statt zu kommen. Und dann vergaß sie die nassen Kleider, riß den Umschlag auf, in dem sie neben dem Briefe des Vaters mehrere Bogen mit Wilhelms Handschrift fand, und las: „Habe Dank, liebe Christiane, für den Brief Deines Vaters: er vervollständigt den sympathischen Eindruck, den ich vor Jahren auf einem Jagddiner von Herrn von Parnims Persönlichkeit empfangen habe, und ich verstehe, daß Tu nicht zaudern konntest, ihm zu glauben. Wenn Du Muße dazu findest, schreibe mir, wie Eure erste Begegnung gewesen ist, und wie sich Euer Verkehr fortan gestalten soll. So gern ich Dich mündlich berichten hörte und Dir dabei in die glückstrahlenden Augen sähe — es ist unmöglich! — Ich kann nicht zu Dir kommen, kann Dir nicht in Gegenwart anderer heuchlerisch zu Deiner Verlobung gra tulieren, kann nicht einstimmen in den bei solchen Gelegenheiten üblichen Panegyrikus auf den Bräutigam ...Dir wünsche ich alles Gute, Liebe, Schöne, was das Leben bieten kann, aber nicht ihm, der mir das Geliebteste nimmt. — Christiane, wißt Ihr Frauen, Ivie dem Manne dabei zumute ist? — Wie die Bestie in ihm sich aufbäumt und danach lechzt, den Nebenbuhler zu vernichten? Auch mich verlangt, ihm Auge in Auge gegenübcrzustehen, die Pistole in der sichern Hand, und dann.... Verzeih, Christiane, fürchte nichts! Meine Liebe zu Dir ist mäch. tiger als der Haß gegen ihn. Ja — dies eine Mal will ich eS sagen und Du mußt es anhören: seit Jahren bin ich nur dem Namen nach Dein Freund gewesen; ich habe Dich begehrt mit Sinnen und Seele, und habe gearbeitet mit aller Kraft, um Dir mit meinem Herzen auch die Heimat am eignen Herde bieten zu können. — Bisher war ich überzeugt, die rechte Liebe müsse Erwiderung finden, und wo das nicht der Fall sei, wäre der Liebende ein Träumer, ein Phantast, der sich von seinen Trugbildern freimachen solle und könne. Das sage ich mir auch jetzt — und nicht erst seit heute. — Umsonst! Ich muß an meine Liebe glauben, ich fühle ihre Wirklichkeit in Leib und Seele, in Blut und Nerven, in dem wahnsinnigen Rachedurst. . . . Ich habe die Jeder wegoeworfen, kin hinausgestürmt in Wind und Regen und ruhig, wie Tu mich kennst, zurückgekommen. — Aber werde ich so bleiben? — Jedenfalls Vars scki Dkch"ckrst wiedetiktTeik.^vetUt'ich die UebNzeugUng' gewonnen'ItÄäT UM" vsr sIsALutssts Dsipsiss. s Ukl- Oro§86 ^U8ivatü kalter Platten. >Wi»lIl»il!IilIIIIIiIIIlllIIIl»illlIIl>lI»IIIIllI»I! nsvkmittsgs l-S vis-a-vis kiel' IViapltt-ttaile. wiiiüiMjeil- I-S vis-a-vis kiel' IVispIkt-ttaile. In äer mit äsm Automat verbundenen Ltstidisr-Halls grosser Mlttta§s- uvä ^benci - 8tamm. — keiokkatti§e ^ussvadl be- / leZtvr Lrötodvv. sovis Katts krükstüvks- unä Vesper - Platten. . . HSilizs-Iliitvinst -- - - -- —(Oescd! ktsleituox;: H»rn.)