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Beilage zu Nr. 23 -es Wochenblattes für Wilsdruff re. Uus den Heheimniffen der HroMadt. Kriminal-Noman von R. Meißner. (Nachdruck verboten) (Fortsetzung.) „Weshalb sollte das mich interessiren?" „Nun, ich dächte, daß durch die Aussage eines solchen Menschen die Schuld eines Anderen unmöglich erwiesen werden könnte. Ich glaube nicht daß der, den sie dafür ausgeben, wirklich an dem Morde schuld ist." „Mein Gott, Kind, Du weißt doch, wie mich jedes Wort darüber ausregt. Lenke doch nicht immer wieder das Gespräch auf diese schreckliche Sache. Und dann — wie kannst Du Dir mit dergleichen den Kopf be schweren? Die Richter, die die Sache geleitet haben, wissen dieselbe jeden falls besser zu beurtheilen als Du und ich; sie werden sicher keinen Un schuldigen strafen." „O, Mama, wie oft bekommt man dergleichen zu hören, daß Menschen jahrelang im Zuchthaus geschmachtet haben, und doch ist oft durch einen Zufall ihre Unschuld an den Tag gekommen. Weißt Du nicht, erst neu lich las ich Dir solch' einen Fall aus der Zeitung vor, in jenem Mein- eidsproceß — Du entsinnst Dich doch." „Nun ja, nun ja! Aber einmal können wir nichts in der Sache thun, und dann sind doch nicht wir gesetzt, zu entscheiden, ob es so ist oder nicht. Uebrigens ist es die höchste Zeit, an die Toilette zu denken, wenn wir überhaupt noch am Corso theilnehmen wollen." Sie hat eine gewisse Hast, von diesem Thema abzulenken, das ihre Nerven peinlich zu beunruhigen scheint. „Ich bin bereit," entgegnet Melanie und zupft die Spitzen, die aus den Aermeln ihres Kleides über die Handgelenke fallen, ein wenig zurecht. „Wie? — In diesem Kleide wolltest Du zum Corso fahren?" „Ja, warum nicht?" Melanie's Ton klingt ebenso ruhig, als der ihrer Mutter erstaunr. „Mein Gott, Kind, Du wirst doch nie lernen, passende Toilette zu machen. Im Hauskleide zum Corso fahren!" Die Frau Commercien- räthin ist durch diesen Gedanken ganz außer Fassung gebracht. Es zuckt ein wenig spöttisch um Melanie's Mund, während sie einen Blick über ihren Anzug gleiten läßt und sagt: „Ich glaube, Mama, es giebt recht viele Damen, die herzlich froh wären, jährlich ein so elegantes Promenadenkleid haben zu können, wie dies Hauskleid ist." „Mein Gott, wozu hättest Du dann aber Deine neue Frühjahrstoilette?" „Wozu?" — Melanie lacht hell — „Mama, das weiß ich auch wirk lich selbst nicht. Wenn Du es aber wünschest, so werde ich sie heute tragen," fügt sie schnell bei und wendet sich der Thür zu, um der Mutter nicht erst Zeit zu lassen, wieder eine ihrer beliebten Abhandlungen über die Noth wendigkeit einer „exquisiten Toilette" zu beginnen. Als Melanie zehn Minuten später in jener neuen Frühjahrstoilette wieder in den Salon tritt, Hut und Handschuhe in der Hand, überreicht ihr der Diener einen soeben eingetroffenen Brief. Der Poststempel zeigt den Namen „Grund", und auf der Schlußseite des Umschlags stehen in künstlicher Verschlingung die Buchstaben li,. k. „Ah, von Clärchen!" sagt Melanie und wiegt den Brief prüfend in der Hand. „Das scheint eine ausführliche Epistel zu sein; sie hat freilich auch lange genug auf sich warten lassen." Dabei öffnete sie den Brief und lächelte befriedigt, als ihr daraus, wie sie gemuthmaßt, mehrere eng- beschriebene Blätter entgegenfallen. „Nun, bis Mama mit ihrer Toilette fertig ist, werde ich ihn sicher noch lesen können. War es doch schon immer Papa's Kummer, „daß die Weiber mit ihrem Anzuge niemals zur rechten Zeit fertig werden." Sie läßt sich auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch nieder und liest: „Mein guter Geist! Du bist jetzt freilich seit Wochen schon außer Dienst gesetzt, und ich bin undankbar genug gewesen, all diese Zeit vergehen zu lassen, ohne Dir auch nur einmal zu erzählen, in welcher Paradieses-Seligkeit wir leben. Ich sage wir — denn Ernst und ich sehen uns täglich, und Tante Amelie ist so lieb und herzensgut, wie man es sich von Papa's Schwester gar nicht vorstellen sollte. Sie dictirt mir wöchentlich zweimal in den Briefen an Papa die Stellen über ihren Gesundheitszustand, der noch immer so hübsch ungünstig ist, daß Papa meine Rückkunft unmöglich wünschen kann. Sie fürchtet nämlich, ich könnte es sonst so arg machen, daß Papa sich eines Tages auf die Eisenbahn setzen und Herkommen würde, und das muß ja auf jeden Fall vermieden werden. Was meinst Du wohl, was der gute Papa dazu sagte, wenn er plötzlich käme, die kranke Schwester zu besuchen und diese dann fände wie gestern etwa, als sie mir eben dictirt: „Mit Tante Amely's Gesundheit ist es noch immer nicht besser. Sie ist oft, gerade heute wieder, so angegriffen, daß sie Niemand als mich um sich leiden mag." — In demselben Augenblick kam gerade ein Leiermann in den Garten und spielte „An der schönen, blauen Donau", Du weißt ja, es ist der verlockendste Walzer. Da faßte Ernst Taute Amelie schnell und tanzte mit ihr durch den Gartensaal, wie mit einer Achtzehnjährigen, und ich saß dabei und lachte. Du mußt nämlich wissen, daß ich nicht einmal eifer süchtig bin auf Tante Amelie, was ich mir zum großen Verdienst anrechne. Denn sie ist noch so hübsch und so jung, trotz ihrer grauen Haare, aber sie ist auch gut, o — so herzensgut! Sie hat mir versprochen, noch ganze vier Wochen krank zu sein, und daß uns vorerst Papa nicht einmal überrascht, dafür sichert uns die In ventur. Jetzt endlich habe ich diese segensreiche Einrichtung nach allem Verdienst würdigen gelernt! Dann, nachher, wenn wir unseren Lebensfrüh ling erst so recht genossen haben, wird Tante Amelie bei Papa unser An walt sein. „Aengstigt Euch nur nicht, Kinder," sagt sie immer, wenn wir davon sprechen, „wir setzens durch!" — Sie ist energisch, Tante Amelie. Liebstes Herz, wenn ich Dir doch solch ein Glück herbeizaubern könnte, wie ich es jetzt genieße! Diese köstlichen Spaziergänge durch die langsam erwachende Natur — Du ahnst gar nicht, was für eine Seligkeit das ist." Melanie hört unten den Wagen vorfahren und wirft einen Blick nach der Thür, durch welche die Mutter eintreten muß. Sie hat aber noch völlig Zeit, den Brief zu Ende zu lesen, aus dem ihr nichts als Früh-