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DM" Zweites Blatt. -WU WM MKW MM, W«, Äckckhn «iid die N«WM«. ArnLsbscrkt für die Ms. AmtshaupLmunu schalt zu Wcitzeu, das Kgl. Amtsgericht und den Stadtrath zu Wilsdruff. Lrjcheint wöchentlich zweimal, Dienstags und Freitags. — Abo nnemsntpreis vierteljährlich 1 Mark. Einzelne Nummern 10 Pfg.— Inserate werden Montags und Donnerstags bis Mittags 12 Uhr angenommen. Nr. 34. Freitag, den 27. April 1888. Das Urtheil -er Welt. Original-Roman von Emmy Rossi. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) Da kam das erste Unglück. Ob durch eine Wunde, ob durch anderen bösen Zufall, in dem Zeigefinger der rechten Hand brach bei Harms der Brand aus, — monatelang dauerte es, bis das amputirte Glied wieder geheilt war, — aber von der Handarbeit konnte ferner nicht die Rede sein. Doch Harms war nicht der Mann, seiner Frau allein die Sorge um die Existenz aufzubürden, — er nahm aus ihrem Waarenlagcr einen Kasten voll Sachen und Hausirte in den Gasthäusern umher. Der kleine, saubere Mann hatte Erfolg, sein bescheidenes Wesen gewann ihm Kunden, — so schlug das vermeintiche Unglück zum Glück, wenn auch für einen Ehemann das Leben aus dem Hause keine Annehmlichkeiten bot. Aber die Ver- dienstsragc spielt bei armen Leuten eine große Rolle, um psychische Bedenken in Betracht zu ziehen. — Und seltsam, — jetzt, nach fast zehnjähriger Ehe klopfte auch ein Kinderhändchen bei ihnen an, — nun war das Glück vollkommen, glaubte Harms. Aber was dann folgte, war so schrecklich, daß selbst jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren der arme, alte Mann sich darüber den Bast von den Händen rang. Lotte war im Bewußtsein ihrer Kraft zu früh aufgestanden, sie glaubte mit ihrer starken Constitution Alles durchsetzen zu können, — aber der Blitz fällt die stärksten Eichen zuerst. Eine innere Verblutung tödtete in wenigen Stunden dies präch tige Kernweib. Wie er das überlebt hatte, begriff er heute noch nicht, — damals hatte er geglaubt, es wäre das Schlimmste — aber, wenn nicht der ver söhnende Tod, sondern das Leben uns von geliebten Herzen trennt, so gesellt sich zu dem Schmerz die Bitterkeit. — Sein Kind wuchs heran, scbön wie die Mutter, doch zierlich und fein von Gestalt wie der Vater, Durch sein vieles aus dem Hause sein, blieb sie sich bei den Großeltern zu viel selbst überlassen. Er hatte den Handel im Hause aufgegeben und Hausirte nur noch in der Stadt. Als die Großeltern starben, nahm er sein schwarzäugiges Mädchen, die fünfjährige Juli, zu sich, — damals bezog er bei dem Schuster Wilke die kleine Stube, Frau Wilke sorgte für das Kind am Tage, es war ein gutes, aber ein trotziges Mädchen! Nur an den Sonntagen hatte er seine Juli für sich — da blieb er ganz zu Hause und beschäftigte sich mit ihrer Erziehung. Sie wollte aber nicht zwei Minuten still sitzen, ein unruhiges Kind, das statt Blut Quecksilber in den Adern zu haben schien. Nicht drei Schritte konnte sie gehen, ohne zu tanzen, und wenn im Hofe eine Drehorgel spielte, da tanzte die Juli vom ersten bis zum letzten Ton, und wenn die anderen Kinder sich vom Springen ermattet auf die Kellerstufen setzten, dann fing sie erst recht an, und ihre wilden Sprünge waren graziös und fielen selbst in diesem erbärmlichen Viertel aus. „Die müßte Ballet tanzen lernen", sagte derColporteur Liebert einmal gedankenvoll, „die würde was Großes." Harms überlegte, — er war ein verständiger Mann, aber er kannte, wenn auch nur vom Hörensagen, die Gefahren der Bühne. Doch sie war ja erst sechs Jahre alt, — einstweilen ging er zu einem Tanzlehrer und ließ ihr Unterricht geben, — der Meister war von dem ausgesprochenen Talent der kleinen Schülerin entzückt und sorgte für ihre Aufnahme in die königliche Balletschule des Opernhauses. Mit sechzehn Jahren war Juli eine Schönheit und eine Tänzerin, der man eine Zukunft weissagte, — aber sie war leichtsinnig, — nicht im gewöhnlichen Sinne des Worts, doch lebte sie im Taumel des Ver gnügens dahin, immer nur das Heute erwähnend, nie auf das Morgen bedacht, und ihr Vater war aus Liebe zu schwach gegen sein Kind. — Der kleine Mann glaubte, die Glücksfälle und die Conflicte im Leben müßten ebenso dramatisch kommen, wie in seinen lieben Romanen, — aber in Wirklichkeit vollziehen sich die Wandlungen viel weniger kraß wie in der Dichtung. Eines Tages kam Juli schon früh morgens ganz glücklich zu ihrem Vater, — sie wohnte längst in einem kleinen Pensionat der Friedrichstadt, — und theilte ihm mit, daß sie nach einer größeren Provinzialstadt als Tänzerin engagirt sei. Die Trennung vom Vater war ihrem leichtlebigen Character ganz gleichgültig, während sein Herz blutete. Es wäre so natürlich gewesen, daß sie ihn gebeten hätte, ihr zu folgen, aber das fiel ihr nicht einmal ein. Er gab ihr seinen Segen und väterliche Vermah nung, und während sie mit einem sonnigen Lächeln von ihm schied, trübten seine Augen sich in bitteren Thränen. Juli, deren schwächste Seite das Schreiben war, schrieb dennoch in dem ersten Jahr jhre krausen, kaum leserlichen Briefe. Es ging Alles nach Wunsch, sie wäre gefeiert, sie verdiene viel Geld, aber sic brauche noch viel mehr, die Bühne verschlinge Alles, sie lebe gut und amüsire sich noch besser, — sie schickte ihm sogar zu seinem Geburtstag eine kleine Summe Geldes. Hätte sie ihm die geringste Kleinigkeit selbst gearbeitet, oder eine Blume, ein Buch geschickt, er würde ihr unendlich dankbar gewesen sein, das baare Geld empörte ihn. — Seiner sanften Natur war aber kein Zürnen möglich, — so kaufte er für das Geld ein goldenes Kreuz und schickte es ihr als Geschenk zurück, — indem er hinzufügte, er bitte sie, nie wieder Geld zu schicken, da er bis an sein End« das zu verdienen hoffe, was er gebrauche. Juli war entweder verdrießlich oder beschämt darüber, — sie sandte nie wieder Geld. Auch die Briefe wurden spärlicher, — sie kamen jetzt von Weltstädten, dann blieben sie ganz aus, — zuletzt hatte sie vor vier Jahren von Petersburg aus geschrieben, oder vielmehr eine Recension eingeschickt, man vergötterte die kleine Juli, — man legte ihr eine Welt zu Füßen. Und dann kam die lange, lange Zeit des Schweigens, das undankbare Kind hatte den Vater vergessen! Vier Jahre, von denen jeder Abend ihr Gedanken heraufbeschwor, — vier Jahre, wo er jeden Tag eine Nachricht von ihr erwartete. — Heute Abend hatte er lebhafter wie je an sie gedacht, aber auch mit stäkerem Zorn. Zn seinen Romanen wo so ein Mädchen aus dem Volk geschildert, das mit zweideutigen Mitteln ein glänzendes Leben führte, da trifft sie ihren armen, alten ehrwürdigen Vater, der am Wege Steine klopft, und sie jagt schnell vorüber, sie wagt nicht, ihn anzu sehen, denn er hat sie verflucht! Harms redete sich auch in solche Stimmung hinein. Ja, seine schöne Juli, die gefeierte Tänzerin, würde sich auch eines Tages besinnen, daß sie noch einen Vater habe, dann würde sie in all ihrer Pracht und Neichthum kommen, in einer eigenen Caroffe, die ganze Sadt würde staunend zu Hauf laufen, er aber, er würde ihr sagen: „So lange hast Du mich vergessen, gehe wieder dorthin, wo man dich liebt, ich Dein gekränkter Vater, liebe Dich nicht mehr." Und sie würde weinend von dannen gehen, — er würde sie nicht Wiedersehen, nie — wenn auch sein Herz brechen müßte, — aber die Strafe hätte sie verdient, die Hochmüthige, die Kaltherzige, — das Kind seiner Lotte, seines HerzcnSweibes." Er schlief ein, während seine Wimpern noch feucht waren. Ganz gegen seine Gewohnheit erwachte er schon am frühen Morgen, vielleicht hatte ihn die Geschäftlichkeit der nebenan rumorenden Frau Wilke gestört, — er rief nach ihr und bat sie, ihm ein Feuer anzumachen und Kaffee zu kochen. „Ei Harms, warum schlafen Sie nicht noch ein Endchen weiter, es ist ja erst sieben Uhr," meinte die Wilke, „Sie sind doch erst spät eingcschlafen, es ist ja kein Tropfen Oel mehr auf der Lampe." „Ja, aber ich bin ganz munter und möchte aufstehen," entgegnete er, „mir ist so unruhig, als ob mir heute was Besonderes passiren sollte." „Na, na, Harms, Sie sehen ja so aufgeregt aus, — wenn vergüte Herr Doctor später kommt, Will ich ihn einmal hinauf schicken, nehmen Sie sich nur in Acht, Sie kommen in's gefährliche Alter." „Einen Doctor? Das wäre seit fünfundzwanzig Jahren das erste Mal, nein, Frau Wilke, ich danke bestens, Sie meinen es gut, aber es thut nicht nöthig, wirklich nicht." Sie hatte inzwischen geheizt und sagte begütigend: „Desto besser, so Willich Ihnen wenigstens eine heiße Tasse Kaffee bringen." Wilke reinigte den Hof, — er war schon ein halbes Menschenleben der Portier und Vicewirth dieser großen Miethskaserne, das Vertrauen, welches der alte Hausherr zu ihm gehabt, hatte sich bei seinem Tode auf den jungen Erben desselben übertragen, — das Haus gehört einem Bankier, der selbst hin und wieder am Quartalswechsel nach dem Rechten sah. Wilke schaufelte den aufgehäuften Schnee in die Ecken und Winkel des kleinen Hofes und suchte dann mit dem Besen die Gänge ganz frei zu machen. Dabei gewahrte er, daß Harms am Fenster stand, und ihm zusah, und er rief ihm freundlich „Guten Morgen" zu. Harms nickte wieder. Plötzlich aber gewahrte Wilke auf vem Gesicht seines langjährigen Mietherseine schreckliche Veränderung, es schien, als ob alle Züge sich ver zerrten, als ob die Augen sich weigerten, das zu sehen, was sich ihrem Blick darbot, als ob die weißen Haare sich aus ihrer sanften Lage los lösten, und sich um die in Todesschweiß gebadete Stirn wie Schlangen ringelten. Unwillkürlich fuhr Wilke nach der Hofthür herum, um zu sehen, welches Ungeheuer dort erschienen sein könne. Da lehnte am Pfosten ein kleines, blasses Weib, in ärmlichen Lumpen, einen kleinen Knaben zur Seite, und streckte die beiden Arme flehend zu dem kleinen Greis am Fenster herab. „Ist es möglich, Sie sind's, Sie sind's wirklich, Juli?" rief Wilke überrascht, er konnte sich gar nicht in die Situation hineinfinden, „gehen Sie doch hinein, es ist ja so kalt hier, Ihr Vater wird sich freuen," sagte er ohne seine Worte zu bedenken. Aber Juli wagte nicht den Hof zu überschreiten, als wären diese fünf Schritte ein Abgrund, der vom Leben zum Tode führt, so starr hielt sie sich an der Schwelle des Hauses. Da klang das Oeffnen einer Thür heraus, ein eiliger Schritt, ein heißes Aufschluchzcn: „Juli, meine Juli, mein liebes Kind." Er zog sie in die Arme und bedeckte ihre blassen Wangen mit Küssen, er rieb ihre kleinen vereisten Hände und sah sie an, als hätte er ihr ein großes schweres Unrecht abzubitten. — Dann erst gewahrte er den Knaben. Er hob ihn empor und sagte ihr nur noch: „Komm." — Und sie kam, sie folgte ihm, als er ihr Kind in sein Heim trug. Frau Wilke hatte, ohne etwas von dem draußen sich Ereignenden zu ahnen, soeben den Kaffee hereingebracht und sich dann entfernt, — sie waren nun ganz allein. Harms setzte das Kind auf sein Sopha, Juli drückte er in die Polster des Lehnstuhls am Ofen, der schon behagliche Wärme ausströmte. „Da, Kind, trinke, der Kaffee ist heiß, — da hast Du auch eine j Semmel, — gieb den lieben Jungen ab;" — er löste ihr dabei den zer-