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Freitag, den 2S. Juli 1887 Beilage zu No. 60 ihre Züge mit Gewalt bemusternd, innerlich aber heftig erschrocken und bebend vor Aufregung, „ich habe kein Bündel und verkaufe auch keine Waaren. Ihr verwechselt mich wohl mit Jemand." „Oh nein; ich kenne Euch sehr gut, liebe Frau; eines Tages war ich Euch ganz nahe, als Ihr so ein Bündel hattet wie ich es meine und gleich darauf sah ich Euch noch einmal und da hattet Ihr das Bündel wahrscheinlich verloren. Was meint Ihr, soll ich's Euch wieder suchen?" „Laßt mich in Ruhe, ich habe nichts verloren und brauche Euch nicht und darum geht Eure Wege!" „Nun ja," versetzte der Fremde, „dann suche ich eben allein und brauche Euch auch nicht dazu. Ich werde schon Jemand finden, der mir suchen hilft und wenn's auch ber Staatsanwalt wäre!" „Was wollt Ihr denn eigentlich von mir, Mann? ich weiß wirklich nicht, was Ihr mir da für Andeutungen macht." „Das ist kurz gesagt, gute Frau; damals an dem alten Schacht sähet Ihr etwas defecter aus als heute und da hätte ich's virlleicht für 5 Francs gethan, aber seither scheint Ihr ein gut Geschäft gemacht zu haben mit dem Kleinen, den Ihr dort so hübsch hinunterpurzeln ließet. Ich denke, wir wollen einen Handel machen und darum gebt mir 20 Francs jetzt gleich, dann brauche ich nicht erst zu suchen und Euch liegt ja sicher nicht sehr daran, daß ich ein glücklicher Finder werde. He, mas meint Ihr, 20 Francs ist gewiß nicht zuviel. Der würdige Staatsanwalt zahlte wohl mehr dafür, aber ich habe mit dieser Menschensorte selbst nicht geme zu schaffen und warum soll ich Euch durchaus an den Galgen bringen, was Euch doch selbst nicht besonders angenehm sein könnte?" Der Kerl hatte mit einem gewissen gemüthlichen Hohn gesprochen, aus dem aber die Angeredete den Ernst der Drohung nur zu deutlich er kennen konnte. Sie vermochte das Ztttern nicht mehr zu bemeistem, und fast athemlos preßte sie die Hand auf's Herz, indem sie stammelte: „Gut denn, Ihr sollt das Geld haben, morgen Mittag hier an der selben Stelle." Damit eilte sie stürmischen Schrittes weiter, wie um einer furchtbaren Gefahr zu entfliehen, die sich ihr plötzlich in Gestalt des zerlumpten Menschen entgegengestellt hatte, welcher jetzt ihr mit höhnischem Lächeln nachblickte. Als Frau Legros in das Zimmer des Direktors der Pariser Findel anstalt trat, und ihr Gesuch um das fällige Pflegegeld ihres Zöglings vorbrachte, bemerkte sie, wie der Direktor bei Nennung ihres Namens mit seinem Sekretär einen Blick wechselte. „Ja, liebe Frau," sprach er hierauf, „das ist so eine eigene Sache mit dem Kinde. Warum bringt ihr uns den Kleinen niemals mit? Ihr wohnt kaum eine Stunde von hier und wir müssen uns doch überzeugen, wie es mit Eurer Pflege bei ihm aussieht. So ins Blaue hinein können wir das Kostgeld nicht immer weiter zahlen. Bringt ihn einmal her und dann wollen wir sehen, was zu machen ist." Tödtlich erschrocken stammelte die Fra« zu ihrer Entschuldigung, sie würde den Kleinen auch wirklich mitgebracht haben, aber er sei nicht wohl gewesen, doch werde sie ihn gleich morgen zur Stelle schaffen, und damit entfernte sie sich, von dunklen Ahnungen kommenden Unheils gequält. Die Nacht verbrachte sie schlaflos, und am folgenden Morgen vertauschte sie wiederum die Erkennungszeichen am Halse des Findlings, wusch denselben und begab sich wieder auf den Weg nach Paris. Der Direktor des Findelhauses hatte einige Tage zuvor im Stillen eine Rundschau über seine Pfleglinge auf dem Lande veranstaltet und das Resultat war gewesen, daß man beschloß, der Frau Legros wegen ihres üblen Rufes keine Kinder mehr anzuvcrtrauen und deren jetzigen Pflegling nach der Einlieferung zurück zu behalten. Hiermit begann die Katastrophe ihren Lauf über dem Haupte der Ver brecherin. Als die Frau mit dem Kinde in der Anstalt erschien, eröffnete ihr der Vorsteher seinen Beschluß, und trotz alles Bittens, ja selbst un geachtet der Erklärung, den Kleinen, der ihr lieb geworden, um einen billigem Preis Pflegen zu wollen, blieb es bei dem Beschlusse und die Legros mußte ohne das Kind und ohne die baaren Mittel heimkehren, deren sie zur Befriedigung des unheimlichen Drängers von gestem so sehr bedurfte. Grübelnd, ob sie nicht auf irgend eine Weise aus einem dritten Fin delhause Ersatz finden könne, war sie bis vor die Stadt gekommen, als sie sich plötzlich von einer bekannten Stimme angemfen hörte, und im gleichen Augenblick sah sie die Frau des Aufsehers aus dem anderen Findelhause auf sich zueilen, dessen Angehörigen, den kleinen Etienne, sie eben erst unter falschem Zeichen der ersten Anstalt abgeliefert hatte. „Frau Legros, ich soll sofort zu Euch gehen und den Kleinen wieder abholen, den Ihr von uns in Pflege habt," rief die Frau keuchend von ihrem eiligen Laufe. „Was ist denn mit dem Kleinen?" versetzte die Legros, jäh erbleichend und am ganzen Körper erbebend. „Nun was soll es sein? Die Eltern wollen das Kind zurückhaben, anders weiß ich auch nichts. Ich soll zu Euch eilen und das Kind so fort holen." Wie geistesabwesend stand die Legros da und starrte die Sprecherin an. „Ihr sollt das Kind wieder holen?" entgegnete sie endlich gedehnt. „Ja, freilich, und es wird am besten sein, wenn ich gleich mit Euch gehe, und den Kleinen abhole." Jetzt erwachte aber das Bewußtsein der Bedrohten wieder in voller Stärke und sich gewaltsam zusammenraffend entgegnete sie: „Nein, um Gotteswillen, nein, geht nur, ich bringe ihn schon; gleich sollt Ihr ihn haben. Ich eile sofort nach Hause. Geht nur," fuhr sie heftiger fort. „Ihr braucht nicht mitzukommen, ich bringe den Kleinen," und damit rannte sie außer sich vor Schrecken davon, während die AusseherS- frau ihr in tiefer Entrüstung nachschaute und über die grobe Unhöflichkeit schalt, mit welcher Frau Legros sie hier stehen ließ. Von Entsetzen getrieben eilte letztere inzwischen der Heimath zu, ver zweifelt auf einen Ausweg sinnend, um der drohenden Gerechtigkeit zu ent rinnen. Um jeden Preis mnßte sie dem Findelhause einen Pflegling ab liefern, koste es, was es immer wolle, und sollte sie dem einen Verbrechen noch ein zweites hinzufügen, sollte sie selbst ein Kind rauben und entführen müssen! Solch' ein kleines Geschöpf, das armen Leuten gehörte, bekam es Zwei Findlinge. Eine Kriminal-Erzählung. (Nachdruck verboten.) (Fortsetzung.) ^ Längere Zett verging und Niemand ahnte, was in der Hütte des Liters Legros vorgegangen war. Wieder nahte die Zeit, da die Findel- die Pflegegeldcr für die auf's Land gegebenen Insassen zu zahlen Aten, und eines Morgens machte sich nun auch Frau Legros wieder I dm Weg nach Paris, um den doppelten Lohn ihrer Unthat einzuholen. AHk war sie in der letzten Zeit zuweilen von Besorgnissen gequält wvr- ie xg wohl kommen möchte, wenn eines Tages plötzlich beide Fin- , Mser ihre Pfleglinge von ihr zurückfordern würden, aber heute, in der warmen Morgenluft schlug sie solche Gedanken in den Wind. An 'ein Wegeübergange bemerkte sie Plötzlich, wie ein heruntergekommen aus- sAer Mensch sie mit stechenden Blicken aufmerksam bettachtete. Sie hiw weiter, aber kaum war sie vorüber, so hörte sie seinen eiligen Schritt sich und im nächsten Augenblicke vernahm sie, wie der Fremde ' Maunte: "Ähr habt es wohl immer sehr eilig, gute Frau? Habt Zhr heute wieder so ein hübsches Bündel untergebracht, wie damals?" «Ich verstehe nicht, was Ihr damit sagen wollt," versetzte die Frau, Die Neudeckmühle und das Saubachthal. (Aus dem „Dresdner Anzeiger".) „Sieh', das Gute liegt so nah", ist freilich ein recht altes und etwas abgenutztes, aber darum nicht weniger wahres Wort, das für die Dresdner auch in Bezug auf eine wirklich wunderliebliche, idyllische Gegend sich be währt, die, fast unmittelbar vor den Thoren der Stadt belegen, doch selbst nicht allen alteingesessenen wanderlustigen Dresdnern bekannt ist. Es sei hierdurch die Aufmerksamkeit einheimischer Naturfreunde auf diese in fast weltverlorener Einsamkeit verborgene landschaftliche Idylle gerichtet, der hoffentlich ihr unpotischer Name, das „Saubachthal", in der Werthschätz- ung empfindsamer Seelen keinen Abbruch thut. Etwa 10 Minuten hinter dem von Gauernitz ebenso weit reizend auf welligem Terrain belegenen, von prächtigen Bäumen beschatteten Kirchdorfe Constappel trifft der Wanderer auf den lustig dahinspringenden Saubach, der dem Fremden mit seinem unermüdlichen Murmeln ein sicherer und freundlicher Führer bleibt durch das an landschaftlichen Abwechslungen unendlich reiche, von torfigem Laubholze überwucherte Thal. Selbst an dm heißesten Tagen empfängt den auf sonnigem Wege leise angebratenen Reisenden eine wohlthuende Kühle, welche die ermattende Seele von Neuem empfänglich macht für die Umgebung, die in ihrer eigenartigen, vielgeglie- berten Gruppirung immer wieder den Gedanken an einen großartigen, mit wohldurchdachtem, künstlerischem Geschicke angelegten Park nahe legt. Voll- foftige, blumenbesäte Wiesenteppiche mit einer durch ihren Reichthum und ihre Farbenpracht geradezu erstaunlichen Flora wechseln ab mit buschig- lauschigen Waldpartien, die, den immer neuen Launen des Terrains folgend, von schattigen Laubgängen durchschnitten bald an den leichten Höhen em^ porklettcrn, bald in muldenartige Vertiefungen hinabsteigen oder auf weitem Plane in buschigen Bosquets dichtbelaubten Unterholzes dem Wanderer stets neue Bilder vor's Auge führen, bis er plötzlich vor der stillverborge- Nm Neudeckmühle steht, die von prächtigem Laub- und selten schönem Nadelholz umgeben sich in die Tiefe des saftig grünen Thalkessels sörmlich hineinschmiegt. Dort sorgen der stattliche Meister Poitz und seine uner müdlich waltende Hausfrau in echt deutscher Gastlichkeit für die leiblichen Bedürfnisse des von der Wanderung Ermüdeten: Neben einem Trunk stets kühlen guten Bieres, trefflichen Landweines und delicaten Kaffee's, wie ihn Dresdens Conditoreien nicht besser liefern, bietet die Küche zu Mittag eine kräftige Suppe, gutes Fleisch mit erfrischendem Salat und der Saison entsprechendem Gemüse, sowie Schinken, Wurst und Eier und dazu ein kräftiges auf der Mühle selbst gebackenes Brod — Alles Products von jener ursprünglichen Unverfälschtheit, für welche unsere arbeitserschöpften Parlamentarier sich ihre armen Köpfe nicht mit den schwierigen Nahrungs- Mittelschutzgesetzen hätten zerbrechen brauchen. Wie der große Zug der krwerbsmäßigen Touristen, sind auch die gepfefferten und gesalzenen Preise ausgetretenen, vielbesuchten Heerstraßen dieser idyllischen Einsamkeit M geblieben, und so kann der körperlich gestärkte Wanderer ohne jene 'Mmerhin etwas niedcrdrückende Anzapfung seines Geldbeutels froh ge- Muthei die in nächster Nähe an den Abhängen der sanft ansteigenden Hügel von der Fürstlich Reuß'schen Familie am Anfang dieses Jahrhun- M mit künstlerischem Verständniß angelegten Parkanlagen besuchen, die M ihrer Mannigfaltigkeit durch schöne Wege, selten prächtige Exemplare M Buchen und Eichen und schöne Aussichtspunkte auch dem verwöhnten "uge einen ganz eigenartigen Genuß darbieten. Der Besuch dieser An- (ft von der Grundherrschaft gütigst gestattet, selbstverständlich unter °'r Voraussetzung der sorgsamsten Schonung durch die Gäste. Diese idyllische Einsamkeit ist auf verschiedenen Wegen leicht zu er- Am: Von Dresden wohl am bequemsten mit dem Dampfschiff nach Gauernitz und von dort über Constappel etwa V» Stunde zu Fuß nach M Neudeckmühle, zurück dann durch den Abends namentlich schattigen .Pv'Nzengrund wieder nach Gauernitz. Wer aber eine weitere Fußtour "jit, wähle den Weg über Niederwartha (durch Schiff und Bahn zu er- Am), von dort durch den Tännichtgrund über Weistropp und Klein- ^önberg durch schattige Obstbaum-Alleen nach der Neudeckmühle, von wo an dem Mühlbach entlang auch der Weg nach Wilsdruff einen hüb- An, bequemen Spaziergang bietet. Die Secundärbahn Wilsdruff-Pot- Appel gewährt dann passenden Anschluß zur Heimkehr nach Dresden. ^ä>on ein Nachmittag genügt für die Partie. Wer aber einen behaglichen Muß und ein volles Auskosten der ganzen Umgebung der Neudeckmühle gönnen will, der nehme einmal einen ganzen Tag. Er wird es sicher Mt bereuen, dem Rathe eines Fremden gefolgt zu sein, dessen Heimath nach Abwechselung sehnsüchtig spähenden Äuge auf flacher Ebene nur AUder, Wiesen und Kornfelder und auf dem unendlichen Meere nur den Melonen Wechsel der sich ewig folgenden Wellen bietet.