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,3 ihrem Bruder her; aber endlich brach sie erschöpft zusammen. „Gehe allein weiter!" keuchte sie; „ich will hier bleiben und auf Dich war ten." Paul war rathlos. Er mochte die Schwester nicht im Stiche lassen, und doch bangte ihm davor, die kühle Nacht mit ihr im Freien zuzubringen. Er erhob feine Stimme zu weithin schallendem Hilfe ruf: „Kommt Virginien zu Hülfe! zu Hülfe!" Anfänglich antwortete ihm nur das vielstimmige Echo des Waldes. Endlich aber wurden seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt. „Das muß Fidel sein", jauchzte auf einmal die lauschende Schwester; und in der That, er war es. Domingo hatte sich schon zu Mittag aufgemacht und die Wälder kreuz und quer abgesucht. Mit einem Freudenschrei stand er jetzt bei ihnen. „In was für Unruhe," stotterte er hastig, „habt ihr eure Mütter versetzt! Wir hatten sämmtlich keine Ahnung, wohin ihr könntet euren Weg genommen haben. Dem Fidel danke ich es, daß ich euch endlich gefunden. Ich hatte ihm, ehe ich wegging, eure alten Gewänder vorgehalten, und dann ist er mir, immer mit der Schnauze am Boden, vorangelaufen. So bin ich endlich zum Schwarz wasser gekommen, wo ich von einem erfuhr, daß ihr eine flüchtige Negerin, zum dortigen Pflanzer zurückgeführt und seine Gnade für sie angerufen hättet. Ja aber, was für eine Gnade! Der Manu, welcher mir jene Auskunft ertheilte, zeigte mir die Arme. Sie war mit den Füßen an einen Holzblock gefesselt; ihr Hals war in einen eiser nen Ring eingeengt, der mit drei spitzigen Stacheln versehen war. Was der grausame Herr sonst mit ihr vorhatte, konnte ich nicht er fahren. Von dort hat mich der Spürsinn des HundeS bis hierher geführt. Aber nun kommt, eßt und trinkt und schöpft neue Kräfte! Wir haben noch zwei Stunden bis nach Hause." Bei diesen Worten reichte er ihnen einen ziemlich ausgetrockneten Kuchen hin und zog eine Kürbißflasche hervor, in der sich eine Art Limonade befand. Virginie hatte die letzten Worte des treuen Dieners ganz überhört. Ihre Gedanken weilten am Schwarzwasser bei der Negerin und mehr mals seufzte sie leise: „Arme, arme Schwarze!" Während sich Paul und Virginie erfrischten, zündete Domingo ein mächtiges Feuer an, in dessen Scheine weithin die Umrisse der Felsen und Baum stämme aus der Dunkelheit hervortraten. Einen brennenden Kien spahn in der Hand, mahnte er dann die Kinder zum Ausbruche. Als er bemerkte, daß Virginie nur mit großem Schmerze aufzutrcten ver mochte, unterband er ihre Füße mit kühlenden Blättern. Dieser Nothbehelf, vor allem aber die Sehnsucht nach der gewiß in tausend Aengsten schwebenden Mutter, ließen sie die noch immer heftigen Schmerzen überwinden. Mitternacht war längst vorüber, als sie am Eingänge ihres Felsenthales, das von einer Menge kleiner Feuer hell erleuchtet war, anlangten. Bald lagen beide Kinder in den Armen ihrer Mütter. Die arme Negerin am Schwarzwasser war das letzte Wort und der letzte Gedanke Virginiens, bevor sie ein tiefer Schlum mer die Erlebnisse und Strapazen des vergangenen Tages vergessen ließ. — Für diese Familien war jeder Tag ein Tag des Glückes und des Friedens. Weder Ehrgeiz noch Neid konnte sie beunruhigen. Sie verzichteten bereitwillig auf jene eitle Ehre, die im gesellschaft- schaftlichen Leben nur zu häufig erwiesen wird, um hinterher in nied rige Verleumdung verwandelt zu werden. Waren sie doch auf dieser Insel fast ganz unbekannt; wenn etwa in den Citronenalleen ein ein samer Wanderer sich bei den Bewohnern der Ebene nach ihrem Na men erkundigte, erhielt er höchstens die Antwort: „Das sind gute Menschen." Es ging ihnen wie den Veilchen, die unter Dornbüschen ihren süßen Dust ausströmen, ungesehen von den Augen der Vorüber gehenden. — Paul, welcher in einem Alter von nicht ganz zwölf Jahren stär ker und verständiger war, als drüben in Europa ein fünfzehnjähriger Bursche zu sein Pflegt, hatte wesentlich zur Verschönerung des kleinen Besitzthums beigetragen. Er hatte zum Beispiel mit Domingo im Walde junge Citronenbäume und Tamarisken ausgegraben und die selben an die Marken der beiderseitigen Fluren gepflanzt. Auch den persischen Flieder mit seinen süß duftenden Blüthensträußen, sowie den sonderbaren Melonenbaum mit dem kahlen Stamme und den langen breiten Blättern hatte er nicht vergessen. Diese Bäume gaben ihrem jungen Pfleger bereits Früchte, und ihr Schatten verbreitete an genehme Frische, während zwischen ihnen lange Lianen sichtbar wur den, deren blauviolette Blüthen träumerisch aus dem grünen Laube hervorschimmerten. — Nichts war anmuthiger, als die Namen, die sie den reizenden Punkten in diesem Felsenlabyrinthe beigelegt hatten. Den Felsen, auf dem wir jetzt nebeneinander sitzen und von dem aus man mein jedesmaliges Kommen in weiter Ferne bemerken konnte, hatten sie „Freundschaftshöhe" betitelt. Die beiden Kinder hatten dort bei ih ren Spielen eilt Bambusstämmchen angepflanzt, von dessen Spitze sie ein weißes Fähnchen niedcrwehen ließen, sobald sie meine Ankunft gewahr wurden, ganz so wie man auf dem benachbarten Gebirge durch Flaggen die einlaufenden Schiffe signalisirt. Mir kam der Ge danke, auf der Rinde des Rohres eine Inschrift einzugraben. So sehr ich mich immer auf meinen Reisen gefreut habe, wenn ich ein alterthümliches Bildniß oder Denkmal entdeckt, eine gute Inschrift hat mir stets besser behagt. Wenn ich eine solche zu Gesicht bekomme, macht es auf mich den Eindruck, als ob eine menschliche Stimme aus dem Steine hervordränge und sich durch Jahrhunderte hindurch vernehmen ließe; sie wendet sich an den Menschen in tiefer Einsam keit und sagt ihm, daß vor ihm schon andere Menschen a» demselben Orte gefühlt, gedacht oder auch gelitten haben wie er. Stammt eine solche Inschrift von einem alten nntergegangenen Volke her, so lenkt sie unsere Seele in das Gebiet des Unendlichen und verleiht ihr das Gefühl der Unsterblichkeit, indem sie ihr zeigt, wie ein einzelner Ge danke des menschlichen Geistes den Einsturz eines Reiches überlebt hat. So schrieb ich denn auf den kleinen Fahnenstock diese Verse aus Horaz: Helenens Brüder, jene schimmernden Sterne, mögen freundlich auf euch niedersehen! Und huldvoll lasse euch der Vater der Winde immerdar den sanften Zephyr wehen! Von allem, was diese Berge einschlossen, gab es kein reizenderes Plätzchen, als die sogenannte „Virginienruhe". Am Fuße des Fel sens zur „Freundschaftshöhe" springt nämlich aus einer Vertiefung eine Quelle hervor, die eine kleine Lache bildet. Ringsum lag ein blumigter Rasenplatz; zwei Palmen neigten sich über das klare Ge wässer. Hier belustigten sich die Kinder am liebsten mit ihren Spielen. Hier ruhten sie aus von ihrer Tagesarbeit. Hier erzählten sie einander von ihren kleinen Mühen und Freuden. Hier streute Virginie fast täglich Neis- oder Hirsenkörner den Vögeln, die ihrerseits mit lieb lichem Gesänge der holden Geberin ihren Dank abstattetcn. Glück selige Kinder, wie sorglos und ahnungslos verbrachtet ihr in eurer Herzcnsunschuld den Jngendmorgen! Wie oft schlossen euch an die sem Orte eure Mütter in die Arme und dankten Gotte, daß er ihnen in euch solchen Trost bcschccrt hatte! — (Forts, folgt.) Vermi schteö. Die diesjährigen Ernte aussicht en wurden von dem zu Leipzig abze- haltenen sechsten internationalen Productenmarkte im Allgemeinen dahin fcstgestellt: Die Oelsaaten haben im Großen und Ganzen ein recht befriedigendes Resultat er geben. Die Ernte in Ungarn und Böhmen ist ausgezeichnet, Holstein, Preußen, Pommern, Posen und die Mark entsprechen den Erwartungen, in Holland und Frankreich dagegen ist der Ausfall kein günstiger gewesen. Weizen stellt sich den Oelfrüchten ebenbürtig zur Seite, er liefert schöne, schwere Körner. Sollte in ein zelnen Landstrichen diese Frucht nicht denselben ausgezeichneten Ertrag liefern, so wird sie jedenfalls im Großen und Ganzen eine reichlicheDurchschnittsernte bringen. Roggen scheint nicht in demselben Umfange zu genügen, da Höhen und leichter Sandboden nicht immer. einen dichten Stand und ost lückenvolle Aehren zeigen. Meist befriedigt sprach man sich aus dem Gesammtgebiete der norddeutschen Tiefebene aus, in Ungarn, Böhmen und Galizien steht nur eine Mittelernte in Aussicht, in Sachsen von den Tiefen ein guter und von den Höhen ein nicht ausreichender Er trag, in Westphalen und Rheinland eine schwache Ernte. Aus den Provinzen Sachsen, Hannover, Schleswig-Holstein, sowie aus Braunschweig äußerte man sich zufrieden, weniger galt das für Frankreich. In Belgien sieht man seinen Er wartungen entsprochen, was jedoch von Holland nicht gesagt werden kann. Im südlichen Deutschland und in der Schweiz hat sich der Stand der Saaten in günstiger Weise gebessert. Gerste befriedigt fast überall. Ueber Hafer wurde noch kein Urtheil gefällt, weil seine Reise noch länger auf sich warten läßt. Zuckerrüben haben einen brillanten Stand und berechtigen zu guter Ernte-Aussicht. Kartoffeln stehen in, Allgemeinen sehr befriedigend. Der erste Heuschnitt war theilweise nur befriedigend. Weil die Landplage der Mäuse gerade den Wiesenwachs am empfindlichstcnPeschüdigt hatte und obenein zahlreiche Gewitter und Landregen dem geschnitten liegenden Grase den Futterwerth verringert, haben. An vielen Orten, namentlich in Böhmen, war es geradezu verdorben. * Ein dieser Tage vor dem Schwurgerichte zu Amberg verhan delter Schwurgerichtsproceß, der gräßlichste, der seit Menschengcdenkeir in Bayern vorkam, lieferte ein schreckenerrcgendes Bild von den Volks zuständen in den vom Klerus als seine Domäne betrachteten Theilen Altbayerns. Der Hauptthäter hat seine „Kirchlichkeit" wiederholt mit Nachdruck und unter Beibringung von Belegen betont. Es steht in der That fest, daß er gleich nach der That mit seiner Geliebten am Kammerfenster erbauliche Gespräche über die Vormittagspredigt ge führt, ein andermal die Predigt des Herrn Pfarrers über die Kindes pflicht als Grund angegeben hat, warum er der Anstiftung seines Vaters zum fünffachen Verwandtenmorde Folge geleistet habe. Der Fall, in welchem Vater und Sohn zum Tode verurtheilt wurden, ist folgender: Der seit Verheirathung seiner Tochter im Vermögen herabgekommene Vater Joseph Marchner, 62 Jahr alt, Kleingütler von Thalmassing, wollte sich durch Beerbung seiner Tochter wieder aufbessern und beschloß daher, mit dem Sohne Laver, 22 Jahr alt, die Beseitigung der gesummten, seinen Erbgelüsten im Wege stehenden Familie. Während der Vater an der Schwelle des Hauses wachte, erschlug der Sohn zuerst seine Schwester, dann deren Mann, und end lich, wie er meinte, alle ihr drei Kinder (zwischen ein und 9 Jahren). Das eine Kind jedoch, das älteste Mädchen, war nur betäubt und sie war es, welche die That in ihren gräßlichen Einzelheiten als einzige Zeugin enthüllte. Das Benehmen des Mörders kurz nach der That, wo er bei seiner Geliebten ain Fenster sich unterhielt und darauf, um „auszuschlafen", pfeifend und singend nach Hause ging, die während der Untersuchungshaft, wo er bald die tiefste Neue heuchelte, bald sich wahnsinnig stellte — er wurde darauf hin eine Zeit lang im Irren- Hause observirt, — bald seinen Mitgefangenen Tänze aufführte, spottete jeder Beschreibung. Der Vater war schon einmal wegen Todtschlags 8 Jahre, der älteste Bruder wegen eines Mordversuches 16 Jahre lang im Zuchthause. „Es ist zur Ehre der Menschheit als sicher anzunehmen, daß der Thalmassinger Mord in der Geschichte der Verbrechen kaum seinesgleichen findet und ähnliche Ausgeburten der Menschheit, wie die beiden Marchner, höchstens alle Jahrhunderte ein mal, Abscheu und Entsetzen um sich her verbreitend, auftauchcn," fügt mit Recht ein Specialberichterstatter seiner Darstellung hinzu. — Als die zum Tode verurtheilten Raubmörder Marchner aus dem Schwur gerichtssaal zu Amberg nach der Frohnfeste zurückgcführt wurden, waren alle Straßen dicht mit Menschen besetzt, die ihnen Flüche und Verwünschungen nachschleudenen. Gleichgültig schritt der Vater, frech und trotzig der Sohn durch die empörte Menge. Da, in der Mhe der Frohnfeste, stellte sich den« jungen Marchner plötzlich ein armer