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KageSgeschichte. Das Jahr 1887 ist zu Ende, und wir sahen es ohne Bedauern scheiden. Die Sieben hat sich in der That als eine böse Zahl erwiesen und nicht viel Gutes gebracht. Die Tage völliger Ruhe lassen sich zählen; fortwährend war Lärm, und die Kriegsgerüchte regierten eigentlich das ganze Jahr hindurch. Im Westen Hub es an und mit dem Osten hört es auf. Rüstungen, immer neue Rüstungen wurden in allen Staaten veranstaltet — für den Frieden und zur Abwehr des Krieges. Mehr und mehr drängte sich allgemein die Ueberzeugung auf, daß wir unaufhaltsam dem Augen blick zusteuern, in welchem die Militärlast so groß sein wird, daß entweder nur Krieg übrig bleibt oder Abrüstung; ein Drittes giebt es nicht mehr. Wir können von diesem Zeitpunkt noch eine ganze Reihe von Jahren ent fernt sein, und es ist recht gut möglich, daß einst ein Weltenkampf ver mieden wird, aber das Eine wäre vor Allem dringend zu wünschen, daß auch die unheilvollen Allarmnachrichten ihr Ende erreichen. Sie verhindern jeden kräftigen Aufschwung in Handel und Wandel, der so nöthig ist und der recht wohl in ruhigen Zeiten sich bald einstellen könnte! Diese fieber hafte Ungewißheit ist schlimmer fast, als die traurige Wahrheit in ihren Wirkungen, das Geschäftsleben kann davon ein Lied singen. Mit großen Hoffnungen schreiten wir ins neue Jahr hinein; daß es gut wird, das wollen wir gar nicht verlangen, unter heutigen Verhältnissen thut's ein „Besser" auch schon. Und damit: „Glückauf zum neuen Jahre!" Vor der geheimnißvollen verschlossenen Pforte des neuen Jahres 1888 stehend, fragt die harrende Menschheit, die Friedenssehnsucht im Herzen: Wird der Friede, dieses kostbarste Gut, auch im neuen Jahre uns erhalten bleiben? Wird es dereinst als ein glückliches Friedensjahr im großen Buche der Weltgeschichte, in den Annalen der Länder und Städte verzeichnet stehen, eine segensvolle Erinnerung hinterlassend für alle künftigen Zeiten und Geschlechter? Wird das neue Jahr die Wunden heilen, welche das alte Jahr so manchem Hause und so vielen Herzen geschlagen hat; wird es getäuschte Hoffnungen Wiederaufleben und zur Wahrheit werden lassen? Die Antwort steht bei dem allmächtigen Gott, dem es in seiner Güte ge fallen möge, unsern theuern König Albert und das ganze königliche Haus, den Kaiser Wilhelm und die Glieder seiner Familie, das Deutsche Reich, speziell auch unser engeres Vaterland Sachsen zu schützen und zu schirmen! Während von verschiedenen Seiten noch immer Meldungen kommen, daß Rußland seine militärischen Vorkehrungen fortsetze, dauert doch, was die Stimmung im Allgemeinen betrifft, die ruhigere Auffassung der Lage, welche den letztwöchentlichcn Erregungen gefolgt ist, insofern an, als man der Meinung sein muß, daß auch in den russischen Kreisen die Erkennt- niß der Wahrheit früher oder später zum Durchbruch werde kommen müssen. Zwar ist bis jetzt russischerseits nichts geschehen, um die Artikel des „In validen" und des „Nord" abzuschwächen, welche in weitere russische Kreise den Glauben getragen, daß Rußland einen Üeberfall von Oesterreich und Deutschland zu befürchten habe, ein Glaube, mit welchem eS ja den maß gebenden russischen Kreisen unmöglich Ernst sein kann. Je länger aber Oesterreich und Deutschland in ihrer gegenwärtigen, die erwähnte Insinu ation gründlichst entkräftenden Haltung verharren, desto wahrscheinlicher wird es, daß man auch russischerseits es aufgeben werde, sich in seinem Vorgehen auf eine so unhaltbare Voraussetzung zu stützen. Aus militärischen Kreisen geht der „Kreuzzeitung" folgende Mitthei- lung zu: Das Wiener „Armee- und Marineblatt" hat in einer längeren Auseinandersetzung die Frage ventilirt, ob ein Ausbruch des Krieges nahe bevorstände, und zu beweisen gesucht, daß ein Winterfeldzug unwahrscheinlich, weil fast undurchführbar sei, indem das rauhe Klima, die Hindernisse, welche Scknee und Unwetter in den Weg legten, um so mehr zu unseligen Katastrophen führen könnten, als jetzt Hunderttausende von Kriegern ins Feld geführt würden. Auch sei die Ausnutzung eines Winterfeldzuges deshalb überaus schwierig, weil die im Frühjahr ungang baren Wege Rußlands jede größere Vorbewegung hindern. — Die Dar legungen des geachteten Blattes muß man voll anerkennen, um so mehr als die Erfahrungen, welche man einst auch im Sezessionskriege machte, beweisen, daß in uncultivirten Gegenden in Wahrheit der Krieg einige Monate lang ruhen muß, da schon die Beschaffenheit der Wege jeden Marsch zur Unmöglichkeit machen. Andererseits möchte in Betracht gezogen werden, daß die ungeheuren Sumpfgebiete, welche zwischen Rußland und seinen Nachbarn liegen, geradezu zu einem Winterfeldzuge einladen, da in dieser Jahreszeit alle die Hindernisse, welche einen Vertheidigungskampf begünstigen, umgangen werden können, indem man über die breiten Eisflächen der Brüche und Moräste ungehindert hinwegschreiten kann. Da nun aber jedes Land, das in einen Krieg sich stürzt, nicht seine Grenzen vertheidigen, sondern das nachbarliche angreifen will, so ist es unserer Ansicht nach wahrschein licher, daß Rußland, wenn es überhaupt streitlustig ist, den Krieg eher im Winter beginnen wird, als im Frühjahre, wo es über seine Grenzen nicht weit hinauskommen kann. Abgesehen davon, daß überdies die Ausbrüche von Kriegen nicht von spontanen Entschlüssen, sondern von Ereignissen abhängen, über welche oft selbst die Herrscher des Landes nicht immer Ge bieter sind. Es sollte in Obigem nur dargelegt werden, daß aus rein militärischen Gründen, außer dem Frühjahre, welches an der russischen Grenze wohl wenig zum Kriege einladen möchte, die Jahreszeiten kaum ein Hinderniß für den Beginn eines russisch-österreichischen, bez. deutschen Krieges bilden würden." Pest. Der Ministerpräsident Tisza erwiederte auf die Neujahrs glückwünsche der liberalen Partei des Parlaments: Er schließe sich nicht Jenen an, welche die Kriegsgefahr als unmittelbar bevorstehend erblickten, sondern hoffe noch, daß für Oesterreich-Ungarn diese Gefahr vermieden werde; würde jedoch der Krieg ausgezwungen, so werde Ungarn seinen Platz ausfüllen. Ein Wiener Privat-Telegramm der Post meldet: Bezüglich der poli tischen Situation wird in unterrichteten Kreisen versichert, daß allerdings der freundschaftliche diplomatische Verkehr mit Rnßland keinen Augenblick unterbrochen worden sei und daß hierdurch die Möglichkeit der Anbahnung einer Besserung der Lage noch geboten erscheine, daß jedoch in der durch die militärischen Maßnahmen Rußlands herbeigeführten bedenklichen Si tuation keinerlei Anzeichen einer Wendung zum Besseren wahrnehmbar seien. Zum Kriegführen gehört bekanntlich vor allem Geld und abermals Geld. Da dieses aber Rußland zu fehlen scheint, könnte man annehmen, daß die kriegerischen Aussichten noch bis zum Erhalt des Geldes hinaus geschoben sind. So ging am 29. Dec. in Berlin von einem Antwerpe ner Bankhaus . ne Nachricht ein, der zufolge die mit dem in allen größeren Zeitungen bereits erwähnten belgisch-holländisch-französischen Konsortium versuchte und sehr geheim betriebene russische Anleihe im Betrage von no minal 700 Millionen als ebenfalls gescheitert betrachtet werden kann. Für die betreffenden belgischen und holländischen Finanzmänner war, wie ' die „Kreuz-Ztg." bemerkt, nach dieser Mittheilung wesentlich mit entschei dend, daß bei der „unklaren Politik" Rußlands selbst eine erheblich ge ringere Forderung sich nicht zu finanziellen Operationen empfehlen würde, da die nothwendigste Unterlage, eine an sich zwar grnügende Sicherheit, durch jene Politik vollkommen illusorisch erscheine. Wie aus Warschau, 30. Decbr., gemeldet wird, sind in der Stadt Bystrzyca (Kreis Wilna) 60 Wohnhäuser mit Nebengebäuden niederge brannt; mehrere Menschen sind umgekommen. Zn der Stadt Korelicz (Kreis Nowogrodek) sind 40 Wohnhäuser im besten Stadttheil abgebrannt; der Schaden ist bedeutend. Madrid, 30. Decbr. Unweit Arila fand gestern ein Eiscnbahnun- fall statt, wobei 20 Personen getödtet und 38 schwer verletzt worden sind. Aus China cingelaufenen Nachrichten zufolge, explodirte am 21. November in Amoy eine Pulvermühle mit 40,000 Kilo Pulver, wodurch viele Menschen getödtet und ein ganzer Stadttheil zerstört worden ist. Vaterländisches. — Großenhain, 28. December. Zum besoldeten Stadtrathe an Stelle des mit Jahresschluß in Ruhestand tretenden Stadtraths Vogel wurde in der heutigen Stadtverordnetensitzung der Gemeindevorstand Leh mann in Volkmarsdorf (bekanntlich ein Wilsdruffer Kind) mit 11 gegen 6 Stimmen gewählt. Um die mit 3000 Mk. Anfangsgehalt ausge schriebene Stelle waren 41 Bewerber aufgetreten. — Freiberg. Als an einem der letzten Abende der gegen 11 Uhr von Dresden nach Chemnitz fahrende Zug von Station Niederbobritzsch abfuhr, kam aus der naheliegenden Schankwirthschaft ein Mann gelaufen, welcher durchaus noch mitfahren wollte. Er sprang auf das Trittbrett eines Wagens und — da die Coupeethüren geschlossen waren, schwang er sich auf den Puffer des Wagens und blieb dort sitzen. In dieser Lage wurde der Mann von dem Schaffner bemerkt. Dieser rief ihm zu, sich ja fest anzuhalten, da zu befürchten war, daß er herabfallen könnte. Als durch Anziehen der Signalleinc der Zug zum Stehen gebracht war, wurde der Tollkühne dem Stationsaufseher übergeben und sieht nun seiner Be strafung entgegen. — Hocherfreut wurde am Weihnachtsheiligabend eine Bewohnerin von Freiberg, die unvermählt geblieben war, um einem Südamerikaner, der ehemals die Freiberger Bergakademie besuchte, die Treue zu bewahren. Nach siebzehn Jahren der Trennung kehrte der Südamerikaner am heiligen Abend hierher zurück, um nun, nachdem er als Bcrgwerköbesitzer eine voll ständig gesicherte Existenz errungen, die Braut heimzuführen. Selten ist wohl ein Christfest in beseligterer Stimmung von zwei glücklichen Menschen gefeiert worden. — Burgstädt. Am Morgen des ersten Feiertages fand man auf dem Wege von Göppersdorf nach Herrenhaide den Handarbeiter L. erfroren auf. Derselbe ist am späten Abend des 24. December von Göppersdorf weggegangen, ist jedenfalls in den heftigen Schneesturm gerathen, ermüdet zu Fall gekommen und erfroren. — In Reichenbach ist der unheilvollen Trichinosis abermals ein Menschenleben zum Opfer gefallen. Der im 25. Lebensjahre stehende Zimmermann Dietz in Hauptmannsgrün ist nach 10wöchigem schwerem Leiden der entsetzlichen Krankheit endlich erlegen. Die Wittwe und 4 Kinder beklagen den Heimgang des Ernährers. — Ein Glauchauer Bäcker, welcher nicht Mitglied der dortigen Bäckerinnung ist, hatte sich in öffentlichen Anzeigen Bäckermeister-ge nannt und war auf Denunciation der Innung vom Stadtrathe zu Glauchau in eine Geldstrafe von 3 Mk. genommen worden. Auf seinen Widerspruch bestätigte das Schöffengericht diese Strafe, indem es in seinem Erkennt nisse ausführte: „Durch das glaubhafte Geständniß des Angeklagten ist erwiesen, daß derselbe in dem Jnseratcntheile des „Beobachter" drei Ge schäftsempfehlungen hat einrücken lassen, in welchen er sich die Bezeich nung „Bäckermeister" beigelegt hat, obwohl er niemals Mitglied einer Innung gewesen ist. Dieses Urtheil hat, nach einer Mittheilungschtr Chemnitzer „Presse", das Landgericht Zwickau bestätigt. — Wieder sind in einem in Frankenberg geschlachteten Schweine Trichinen gefunden wrrden. Das ist in dem verflossenen Jahre dort der dritte Fall. Aus den Heheimnissen der HroMadl. Kriminal-Roman von R. Meißner. (Nachdruck verboten). „Adieu Mutter!" „Mußt Du schon gehen, Fritz?" „Ja." Dabei beugt er sich nieder, die Blinde zu küssen. „Es ist heute das letzte Mal; da muß ich also schon auf meinem Platze sein, auf dem ich fünfzehn Jahre treu und pünktlich gewesen. Ha, ha, —fünfzehn Jahre! — Um dann fortgeschickt zu werden wie — ein Verbrecher! Doch ich will Dich nicht quälen, Mutter. Aber sagen muß ich es Dir ja: Ich gehe fort, weit fort — nach Amerika." „Fritz!" Der Name kommt nur leise von den Lippen der Blinden und doch klingt er wie ein zitternder Angstschrei. Der Sohn streicht ihr sanft das Haar aus der Stirn. „Mutter, ich kann nicht anders, Du mußt es ja selbst einsehen! — Seit vier Wochen laufe ich jetzt herum, mir eine andere Stellung zu verschaffen. Wenn ich erzähle, daß ich seit fünfzehn Jahren in den Comptoiren der Firma „I. Gottwalt Söhne" thätig gewesen bin, wenn ich mich auf das Vertrauen des Commerzienraths Gottwalt berufe, das ich während dieser ganzen Zeit besessen habe — immer fragen sie nach dem Grunde meiner plötzlichen Ent lassung. Spreche ich dann von persönlichen Verhältnissen und Angelegen heiten, so zucken sie die Achseln und bedauern, augenblicklich keine Dacanz zu haben. Kann ich denn aber den wahren Grund sagen? Soll ich etwa ihren Namen in den Bureaux fremder Häuser umhertragen, ihren Namen? Nein — um Alles nicht! Mutter, kannst Du es wohl begreifen, daß mich zuweilen eine Wuth überkommt gegen den Mann, der mich in diese Lage gebracht hat, um eines Argwohns willen, eines Vorurtheils, eines Nichts? — Denn selbst seine Vorurtheile sind nicht gekränkt worden, wie wäre denn dies auch denkbar? — O, Melanie! — Aber das ist der Stolz der reichen Leute, denen es schon als eine Schmach erscheint, unsereins auch nur in Gedanken mit sich in persönliche Berührung zu bringen. Ich muß fort! — Ich weiß, daß ich hier keine Anstellung finden werde, wenigstens keine, wie ich sie beanspruchen kann. Denke an den Vater, Mutter! Wie ist es mit ihm so weit gekommen? — Als Du ihn heirathetest, war er ein ehrsamer Handwerksmeister. Erst als er durch die schlimmen Zeitverhältnissc keine Beschäftigung fand, ge wöhnte er sich das Arbeiten ab. Von der Zeit an ging es mit uns rück wärts. Nicht wahr, Mutter, Du willst nicht, daß ich auf die gleichen Abwege gerathe? — So laß mich also gehen! Da drüben, über dem großen Wasser, ist Gott sei Dank der Zwang zur Thätigkeit größer, wenn man nicht ver hungern will." Die Blinde antwortet nicht. Ihre Hände liegen gefaltet im Schooß, und ihre lichtlosen Augen sind starr auf den Sohn gerichtet. „Denke an die Zeit, Mutter, als der Vater zuerst sein liederliches Leben begann, als Anna und ich noch Kinder waren und Du, um uns Brot zu schaffen, so viel arbeitetest, Tag und Nacht, bis die armen lieben