Volltext Seite (XML)
daß dies Mädchen da drinnen mit Dir nicht auf der gleichen Gesellschafts stufe steht, das sah man ja auf den ersten Blick, allein schon an ihrer übermäßig einfachen Kleidung." „Mama, Du sichst immer nur die Kleider, niemals die Menschen!" sagt Melanie bitter. — Dann setzt sie ruhiger hinzu: „Aber weshalb sollte sie unter mir stehen? Ihr Bruder ist ein Kaufmann, so gut, als mein Vater einer war; der Eine mit einem bischen mehr Geld als der Andere — das ist der ganze Unterschied." Da tritt der Arzt wieder ein, und zugleich wird Melanie abgerufen, so daß Frau Caroline mit einer süß-sauren Miene es übernimmt, den Geheimrath zu der Kranken zu führen. Als Melanie eine halbe Stunde später wieder in ihr Wohnzimmer tritt, findet sie ihre Mutter mit langen, erregten Schritten auf- und niedergehend. „Wer ist Die da drinnen? Ich will cs wissen?" ruft sie empört. „Die Schwester des jungen Voigt, des früheren Buchhalters von Papa." „Ach! Und diese Dirne wagst Du in mein Haus zu bringen? Ich weiß Alles, Alles!" Melanie ist einen Schritt zurückgewichen. Jetzt entgegnet sie mit einer Ruhe, die gegen die Erregung der Mutter sonderbar contrastirt. „Was kannst Du wissen? — Daß sie unglücklich ist, nichts Anderes!" „Unglücklich nennst Du das? Ich hab'eine andere Bezeichnung dafür." „Sprich die lieber nicht aus, Mutter: noch weißt Du ja nicht, wer sie dahin gebracht. Aber ich will es Dir verrathen. Derselbe Mann, der die Frau Commerzienräthin Gottwalt sechs Monate nach dem Tode ihres Gatten in den Armen gehalten und Braut genannt, derselbe Mann hat dies arme, unschuldige Mädchen verführt, wie er die reiche, erfahrene Frau bethört!" Melanie hat diese Worte dicht an dem Ohr ihrer Mutter leise und doch mit einer haarscharfen, grausamen Deutlichkeit gesprochen. Jetzt tritt sie wieder zurück und setzt lauter hinzu, während die Mutter bleich und stöhnend auf einen Stuhl sinkt: „Und nun nenne sie anders als eine Unglückliche, wenn Du kannst." Dann setzt Melanie sich an den Schreibtisch, greift zur Feder und sagt, sich umwendend, in einem so ruhigen Ton, als habe die vorherige Unterredung gar nicht stattgefunden: „Mama, wir müssen die Angehörigen unserer Schutzbefohlenen von ihrer Erkrankung in Kenntniß setzen. Ihre arme, blinde Mutter aber dürfen wir durch solch' eine Nachricht nicht erschrecken, und an den Bruder wieder kann diese Mittheilung nicht gut von mir ausgehen. Ich werde also in Deinem Namen an ihn schreiben müssen." „An den Sohn des Mörders!" stöhnt Frau Caroline auf. Doch Mclanie's Stimme klingt so voll, so ganz durchdrungen von der wahrhaftigen Ueberzeugnna, als sie entgegnet: „Sein Vater ist un schuldig!" — daß die Frau Commerzienräthin sich begnügt, fernerhin zu Allem, was ihre Tochter sagt, nur zu stöhnen. Melanie schreibt auf die Rückseite einer kleinen, weißen Karte, welche unter sehr vielen Schnörkeln den Namen „Frau Caroline Gottwalt" trägt: „Ihre Schwester ist in unserem Hause erkrankt. Der Arzt gestattet nicht, daß sie, ehe eine Besserung eingetretcn, zu Ihnen gebracht wird. Theilen Sie, bitte, dies, wie Sie es für gut halten, Ihrer Frau Mutter mit. Wenn Sie oder Ihre Frau Mutter die Kranke zu sprechen wünschen, so bemühen Sie sich wohl einmal zu uns. Die Dienerschaft hat seitdem vorigen Herbst fast ausnahmslos gewechselt, so daß Ihnen solch' ein Gang nicht weiter unangenehm werden kann. Seien Sie übrigens versichert, daß es Ihrer Schwester an gewissen hafter Pflege nicht fehlen wird." Melanie reicht die Karte ihrer Mutter. „Sieh, Mama, ob es so gut ist." — Frau Caroline aber wirft keinen Blick darauf. „Thue, was Du für richtig hältst, aber behellige mich nicht weiter damit," sagt sie mit einer schwachen Stimme und erhebt sich, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, und in einem Bande Zola's nach dieser unerquick lichen Unterhaltung Vergessenheit und Zerstreuung zu suchen. — Tage vergehen. Das Gesicht Geheimrath Hartmann's wird immer bedenklicher, so oft er aus dem Krankenzimmer tritt, wo er täglich mehr mals erscheint. Melanie ist mit einer unermüdlichen Sorgfalt um die Kranke beschäftigt, die immer so still und klaglos in den Kissen ruht und ganz selten nur ein Wort spricht, wenn nicht das Fieber ihr die Lippen öffnet in quälenden Phantasieen. Bisweilen sitzt eine früh gealterte, blinde Frau an dem Lager, hält die Hand der Kranken in der ihren und bewegt die Lippen, wie in leisem Gebet. Dann und wann steht auch ein junger Mann an ihrer Seite, eine schlanke, hübsche Gestalt mit so sonderbar schwermüthigen Augen, daß stets, wenn er das Zimmer betritt, mit Fräulein Melanie eine Ver änderung vorgeht — das beachtet Niemand. Die Frau Commerzienräthin hätte das vielleicht bemerkt; doch sie betritt das Krankenzimmer niemals, seit ihr jene Aufklärung geworden. So komml ein Tag, an dem die Kranke theilnahmsloser ist, als je zuvor. Sie öffnet nur selten die Augen, und aus ihrem Gesicht ist jede Spur von Farbe gewichen. Das Fieber hat einer namenlosen Schwäche Platz gemacht. Die abgezehrte Hand, die in der lebenswarmen Rechten Mclanie's ruht, ist so matt und kraftlos, wie ein welkes Blumenblatt; der Puls geht schwach und unregelmäßig; der Athem ist unhörbar leise. Geheimrath Hartmann hat das Zimmer verlassen, nachdem er achsel zuckend gesagt: „Hier ist nichts mehr zu thun!" Die Fenster des Schlafzimmers sind weit geöffnet und lassen den warmen Frühlingssonnenschein voll in das Zimmer strömen. Melanie sitzt auf dem Rande des Bettes, die Kranke stützend, daß sie den Blick hinaus auf die knospenden Bäume des Nachbargartens heften kann, wäh rens vor ihr auf der Decke ein Strauß Veilchen seine süßen Düfte em porsendet. Aus den Augen der Kranken schwindet allmählich diese eigenthüm- liche Theilnahmlosigkcit, die während der ganzen Zeit darin gelegen, und giebt einer seligen Verklärung Raum. Um die bleichen Lippen legt sich ein mattes Lächeln, und leise wie ein Hauch, kommen die Worte aus ihrem Munde: „Sterben dürfen — so im Sonnenglanz und Frühlingsduft — so einschlafen!" Dann sinkt ihr Kopf schwer auf Mclanie's Schulter. Sie lächelt noch immer, aber ihr Herz steht still. Da öffnet sich die Thür des Krankenzimmers und Fritz tritt herein. Melanie erhebt sich leise, läßt die Todte sanft aus ihren Armen in die Kissen niedergleiten und geht ihm entgegen. Zum ersten Mal seit jenem Tage, an dem sie Abschied genommen, als Fritz aus dem Geschäft ihres Vaters ausschied, reicht sie ihm jetzt wieder beide Hände. Dabei schaut sie ihm so schmerzbewegt in's Gesicht, daß er erschreckt nach dem Kranken lager hinüberschaut, das nun ein Sterbelager geworden. (Forts, folgt.)