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Rr. ISr. 108 Jehrg.Leipziger Tageblatt.Freitag, 4. Jaai 100S. Var AsrEziabar. Bon Roda Roda. Eines Abends kam ich — rein zufällig — ins Restaurant „Zur Tabakspfeife". An einem Fenster saß Baron Blitz und batte neben sich den Eiskübel. „So früh am Abend schon ....?" fragte ich. Er nickte melancholisch, würdevoll und nachdenklich. Dieser Blitz ist ein drolliger Kauz. Ein ewiger Dulder — und nachträglich mutz man über ihn lachen. Nachträglich — wenn er nicht mehr da ist. Wie man am Morgen über die Späße schwermütiger Clowns lackt, die man am Abend vorder im Zirkus gesehen hat. »Ja, da sitze ich seht jeden Abend und trinke meinen Sekt. Nehmen Sie Platz und trinken Sie mit! — Ich denke dann so still für mich an meine frühere Geliebte. Hier drüben hat sie gewohnt." Er schlug die Vorhänge auseinander und zeigte mir das HauS. Blitz war so bedrückt, datz ick morgen sicher nicht lachen werde. „Ja, da hat sie gewohnt. — Ich pflegte bei ihr zu Nacht zu essen: Schinken, Wurst und eine Flasche Bierrr- Oder Sardinen, SpickganS und Käse. Und immer eine Flasche Bcerrr," ratschte er erinnerungs verloren. Und weil er bewegt war, rollte er das R doppelt so scharf wie sonst. „In einem Laden hatte ick sie kennen gelernt. Sie war ein nettes feines Ding. Adrett vom Kopf bi? zu den Fußspitzen. Wie ein Wiesel lief sie immer herbei und scklug die Kartons auf und zu. Räumte die Ware au» und wieder ein, achtsam und ordentlich. Da dachte ich mir: Die Abende im Wirtshaus, im Cafe, selbst im Klub werden dem Menscken über; man kriegt io meinen Jahren dock mal Sehnsuckt nack einer Häuslichkeit. — Nicht?" „Haben Sie sie denn heiraten wollen?" „Sehen Sie — grade so hat sie auch gefragt ... Ich aber sagte rhr: „Muß man denn gleich an das Aeußerste denken?" — Darüber war Emma beleidigt. Sie wäre aus bösserer Familie und ihr Vater könig licher Beamter. Und sie gehe nurrr auf was Sicheres. — Wir einigten uns, und ich mietete ihr da oben drei Zimmer. Auch Möbel kaufte ich ihr. Wenn es mir grade nach Häuslichkeit zumut war, ging ich hin. Oft, sehr oft. Es bat was ungemein Anziehendes: ein kleines Zimmer, netr und freundlich; das kleine, blonde Ding, das sich freut — freut — immer wieder freut; und ein Weißes Tischtuch, auf dem vorher bestimmt niemand gegessen hat, und Teller und Gläser, die nicht für jedermann da sind. Später, im Frühjahr, traf ick einmal die Hausnäherin bei ihr. Sie saß da, und srrr . . . ging die Maschine. Immerzu. Stundenlang. „Mein Kind — was macht die Person?" fragte ich. „Sie steppt ein grünes Kleid." Die Maschine schepperte, und ich ging. Am andern Tag surrte der Marterkasten noch immer. „Was macht die Person, mein Kind?" fragte ich. „Sie steppt ein grünes Kleid." „Aber, mein Kind, die Person könnte ja schon zweimal die Rrring. straße gesäumt haben." Ich kam darauf, daß die Person nun für Emmis Schwester steppte. Emma hatte so viel Familiensinn. Darauf blieb ich drei Tage weg. Als ich wiederkam, surrte cs nicht mehr. Auf -er Ottomane waren Spuren von Stiefelsohlen. „Mein Kind", sagte ich, „du weißt, ich liebe die Ordnung. Werrr hat da gelegen?" „Oh — mein Brüder batte Migräne . . ." „Laß die Ottomane abbürsten. Das Mädchen sollte genauer sein. Viel genauerrr." Da brach Emmi in Tränen aus. Sie getraue sich nicht, dem Mädchen was zu befehlen. Sie fürchte das lose Mundwerk. — Ja, wenn wir ver heiratet wären! Sie sei aus bösserer Familie. „Mein Kind", sagte ich, „wer wird denn gleich an das Aeußerrrste denken!" Ich rief das Mädchen, und es bürstete die Ottomane rein. — Ueberhaupt, Sie müssen wissen, ich liebe die Orrrdnung. 'Im Laden hatte meine Emmi alles so zierlich in die Kartons geräumt — die Krawatten, Taschentücher, Handschuhe und dergleichen. Das hatte mich bestochen. Eines Abends suchten wir das Teesieb. Und fanden es im Toiletten tisch. Bei Len Bürsten. Der Schuhknöpfer lag beim Eßbesteck. Wie ich Ihnen sagte: ick trank am Abend Bier. Man brachte es vom Dclikatesscnhändler. Der Lehrjungc zog den Kork immer halb heraus. — Eines Tages — es war im Schicksalbuch so geschrieben — verbog der Lehrjunge den Korkzieher. — klebrigen? — können Sie vertragen einen an und für sich schlechten Witz dreimal, sechsmal oder zehnmal zu hören? — Nun, Emmi sagte immer Korkenträaer. Es ist Mnen -och ohne Wei- tereS klar, daß sie anderseits Hosenzieher sagte? — Der Korkzieher war also verbogen. Er bohrte sich schief ein. Wenn man die Korte heraus- ziehen wollte, brachen sie regelmäßig ab, die eine Hälfte blieb stecken. Al» es zum erstenmal geschah, fuhr Emmi entgegenkommend mit ihrem Fingerchen in -en Flaschenhals, um den Kork hinabzustoßen. So ein Fingerchen ist ja sehr appetitlich — man küßt eS — aber seben Eie, so bin ich nun einmal — ich war unzufrieden. Notabene — sie erreichte den Kork nicht. Da zog sie eine Haarnadel — eine Haarnadel — aus der Frisur und stieß den widerspenstigen Kork in die Tiefe. Das Bier gluckste, weil sich der Kork immer verschob. „Mein Kind", sagte ich, „wir wollen einen Korkzieher kaufen und die Bierflaschen in eigener Regie öffnen." — Ich gab ihr zu diesem Zweck vier Kronen. Nächstens — verstehen Sie — blieb der Kork wiederrrum stecken, und sie nahm die Haarrrnadel. „Mein Kind", sagte ick, „du erinnerst -ich, datz wir den Beschluß gefaßt haben, uns einen Korkzieher zu kaufen, und daß ich dir Geld... „Ja", sagte sie, „aber ich habe mir dafür ein entzückendes Jabot ge- kauft." Ich gab ihr neuerdings vier Kronen und brachte überdies das nächste» mal einen vernickelten Korkzieher mit. „Das ist gscheit", sagte sie, „daß du selbst daran gedacht hast. Ich hab für die vier Kronen Veilchenparfüm gekauft." Hierauf entkorkten wir eine Flasche Bier, und ich trank endlich einmal wieder. Nämlich — ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen: das Haar mei ner Emmi war mein Entzücken. So was goldig Blondes und Duftige» gibts nicht wieder. Die Haarnadeln aber — wenn man mit ihnen in der Flasche herumstöbert . . . Zwei Wochen war der Korkzieher pünktlich da. — Eines Abends ging ich zu ihr — es war Dienstag — und ich pflegte sonst nur Mittwoch, Frei tag und Sonntag zu kommen. Ich ging also zu ihr — mit einigen Päck chen beladen: Schinken, Butter und Forellen in Oel. Wir setzten uns zu Tisch — man brachte das Bier. Der Delrkatessen- händler hatte es angebohrt. Der Kork bleibt stecken. Emmi griff schon an ihren Schopf. „Mein Kind", sagte ich, „wo ist der neue vernickelte Korrrkzicher, deutsches Reichspatent Nummer 99728?" Emmi errötete. „Es geht auch so — sei nicht fad! Wart, ich hol einen Federhalter." Nein", sagte ich, „wo ist der Korkzieher? Komm, wir wollen ihn suchen." Ich zog die Schiebladcn -es Büfetts auf, dann -en Schreibtisch. Ich tat einen Blick ins Acmarium und in den Kohlenkübel. Unter -en Tisch. In die Blumenschale. Ins Nähkörbchen. Da fiel mir ein: Wo wird er sein? Bei den Kämmen und Bürsten. Ich öffnete die Tür des Schlafzimmers Da saß auf der Ottomane ein Wachtmeister. Scharlachrote Aufschläge — aha: Dragonerregiment Fürst Montecuccoli Nummer 8. Auf dem Tischchen staüd eine Flasche Pschorr, und daneben lag der Korkzieher, deutsches Reichspatent Num mer 99728. „Mein Vetter", sagte Emmi. Ich verließ sie zur selben Stunde. „Na — ja — natürlich. Ein Dragoner . . „Um den Dragoner handelt es sich hier nicht. Ich bin ein aufrichtiger Freund der Armee — allerdings nur. solang sie nicht im engeren Fa milienkreis vorkommt. Aber der Wachtmeister konnte ja wirklich Emmis Vetter sein. Er war sogar wahrrrscheinlich ihr Vetter. — Erinnern Sie sich gütigst an Emmis Familiensinn. An das grüne Kleid mit der sur renden Stepperei und 'die Migräne des Bruders. — Er warrr ihr Vetter. Ich konnte, ich müßte das annehmen, wenn mir nicht irgendein Inter essent den Gegenbeweis erbrachte. — Daß man aber aus Familienliebe meinen Korrrkzieher einem Vetter gab und mir mit der Harrrnadel kam — das ging mir über die Hutschnur. Seitdem — verstehen Sie — kann ich kein Bier mehr trinken. Es ist ein ungastliches Getränk. Man muß mit ihm kämpfen, ehe es sich ergibt. — Sekt? Kaum haben Sie den Draht durchgezwickt — schon fliegt der Kork freudig an die Decke. Und der S^kt schäumt Ihnen verlockend ent gegen. Selig, daß er aus seiner Haft befreit ist- Froh, Ihnen dienen zu können. Alles hat ein Ende. Meine Emmi mußte ich verlassen — das HauS wird demoliert — das Bier mag ich nicht mehr. Jeden Abend sitze ich hier und trinke meine Flasche. Blicke das Haus an, meiner Liebe Grab, denke an den Dragoner und den Korkzieher und . . . Ist es nicht urgemütlich? Billiger ist» jedenfalls.''. Er nickte melancholisch. . * Vie nerie Bahn Berchtesgaden—ASnigAsee. Berchtesgaden, Pfingsten 1909. Das herrliche, vom imposanten hohen Göll, dem lieblichen Jenner und -em mächtig aufstrebenden Watzmann umsäumte Tal mit seinen schmucken, die grünen Matten hinaufkletternden Bauernhäusern durch fährt jetzt eine elektrische Bahn, die an Stelle der bisherigen Postauto, mobile und Omnibusse den sommerlichen Riesenverkehr an oen KönigSsee zu bewältigen hat. Wer je im Hochsommer in ein Postauto einge pfercht, das stinkend und eine dichte Staubwolke hinter sich lassend die steile Straße hinaufpustete, zum Königssee fuhr, der wird, wenn er jetzt in den lustigen, hocheleganten, mit großen Aussichtsfenstern auSgestatte- ten Wagen sitzt und die prächtigen, immer wechselnden Landschaftsbilder cm sich voruberziehen läßt, die erstaunte Frage tun, warum eS denn einen so langen und eindringlichen Kampf gekostet hat, bis diese Bahn endlich gebaut wurde. ES gab mancherlei Einwände. Die einsame HochgebirgSwelt z. B würde Lurch eine Bahn gestört. Als ob jemals die Schönheit einer Gegend durch einen Eisenbahnzug beeinträchtigt worden wäre. Eine Reche Kirchturminteressen spielten mit herein und verschiedenes andere. Bi» endlich der Regent ein Machtwort sprach. Und so erblickte gerade nach 9 Monaten — die nicht ganz 5 Kilometer betragende Linie wurde vom September bis Mai erbaut — das Kindlein das Lrcht der Welt. Der Ausgangspunkt der neuen Bahn liegt über der Ramsauer Alm, etwa 300 Meter vom Berchtesgadener Bahnhof entfernt. Dre amtliche Bekanntmachung besagt, daß die Reisenden für ihre Beförderung vom Berchtesgadener Bahnhof zum Bahnhof der KönigSseer Bahn selbst zu sorgen haben. Das ist ein sehr wunder Punkt, denn es ist ganz unver ständlich, warum die Züge von Salzburg über Schellenberg nicht direkt ohne diese ominöse Eelbstbeförderung durchgeführt werden, nachdem ein Gleis diese beiden zusammengehörenden Strecken ohnehin verbindet. Aber die Ratschlüsse der bayerischen Verkehrsverwaltung sind manchmal unerforschlich. Die Trasse der Bahn folgt der munteren forellengesegneken Königs- feer Ache fast immer neben dem bekannten Fußweg, der nun neu und weitaus schöner entstanden ist, denn durch die notwendig gewordenen AuSholzungen erschließen sich dem Wanderer, -er stolz die Benutzung der Bahn verschmäht, ganz wunderbare Ausblicke auf Len sagenumwobenen Unterberg, den Watzmann, Grünstein und wie sie alle heißen, die ge waltigen Bergriesen, die den ganzen Winter erstaunt auf das ameisen artig emsig schaffende Völklein zu ihren Füßen herabgesehen haben. Langsam ansteigend, an Bauernhäusern vorüber, die zwischen blühende Obstbaume eingebettet sind, erreicht die Bahn die Station Unterstem, nm dann mit einer dreiprozentigen Steigung zum reizenden, ganz im neuen Berchtesgadener Stil gehaltenen KönigSseer Bahnhof zu gelangen, der nicht am See, sondern knapp hinter den verschiedenen Gasthöfen ge legen ist. Nach zwei Minuten steht man am Ufer dieses großartigsten aller bayerischen Gebirgsseen, in dessen tief§rünem Wasser sich die steilen nackten Wände der Berge spieaeln und über dessen glatter Fläche die Sonne Tausende von Lichtern aufblitzen läßt. Auch hier ist man damit beschäftigt, alle» für die vorgesehene Motorschiffahrt vorzubereiten. Die Strecke wird in beiden Richtungen in 17 Minuten durchfahren, bei der großen Steigung können jedoch nicht mehr al« drei Wagen mitgenommen werden, aber es soll in der Hochsaison ein IS-Minuten- Betrieb eingerichtet werLen, so daß man — in Berchtesgaden angekom- men — sich durchaus nicht abzuhetzen braucht. Es empfiehlt sich, die Billetts gleich im Berchtesgadener Bahnhof zu nehmen, da man sich dann nicht an den meistens überfüllten Dillettschalter des Bahnhofs der KönigSseer Linie zu drängen braucht und damit an Zeit gewinnt. Dichte Wolkenschleier hingen um die Berge, als wir mit dem Probe zug wieder gegen Berchtesgaden fuhren, nur einmal stahl sich ein Strahl der untergehenden Sonne durch das brauende Gewölk und die kahlen Felsen des Göhlstein und die zerklüfteten Wände der Schonihkehlalpe leuchteten auf. Auf den Wipfeln der dunkeln schwerästigen Tannen schmetterten die Amseln ihr Slbendlied hinaus über das Land und die Finken trillerten dazwischen. In LaS Rauschen der Ache mischt sich das laute belle Sprudeln der klaren Quellen, die eilig über die bunt ge blumten Wiesen ihrer großen Schwester nacksprangen. Ganz oben auf einer Matte äste ein Hirsch. Als der Zug herankam, erhob er das mäch tige Haupt und äugte stolz und furchtlos herab auf die für ihn noch ungewohnte Erscheinung. In Berchtesgaden goß eS wieder in Strömen, und da nach dieser genußreichen Fahrt gar kein Grund vorlag, nur außen naß zu werden, so fand der denkwürdige Tag seinen ganz natürlichen Abschluß in dem gemütlichen Bräustübel des HofbräuhauseS. hlux d^errl. S.s° Visse ^rtiirvi sivä in unseren OssodLktsIokaiitLtvn sLmtiivk separat auk Vaävntisodsn rur besseren Orientierung unserer Lunävn aukxvstviit. S.so S.so Bin «ßiv»«n irvvkl rn knknn Mn» un» vnt»vkio»»vn, nuvk »nißnnnn Sokukrennen tv/g ru dvurittigvn, Nssvlvkv nn «ßvn in gvdnnvkt «rvniivn. Wtz 8Me n. 8lickl Voll unserem brLuickurtsr ^LUSK srkieltsu vir IlÜHblDÜ'Ä'I'O moäoruer Itzkrinvii- nuU äie vir rum grössten leil tur ciiv äss rexuiSreu Wertes adgsdsu. II.M0I, Uslksvkuks o-m-i. Slisfsl