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IöMblllll siir M!ÄrH Nr. 128. Zweites Blatt. Sonnabend, 28. Oktober 1905. Kreis vätsel- Lösung. Es gingen 16 richtige Lösungen ein und zwar aus Wilsdruff 9, Bickenhain, BurkhardlSwalde, Limbach, Blankenstein, Rothschönberg, Grumbach und Lampersdorf je I. Gezogen wurde die Lösung Ne. 9 mit der Unterschrift: Martha Diersche, Birkenhain. Gewinn: Märchen und Erzählungen von H. LH. Andersen. Mit Bunt- bildern. Betrachtung zum 19. Ssnntag nach Trinitatis. „Da aber Jesus ihren Glauben iahe, „sprach ei zudem Gichtbrüchigen: „Mein „Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." Marc. 2, 5. Leute haben zu dem Herrn einen Gichtbrüchigen ge bracht und zwar haben sie, „da sie nicht konnten bei ihn komuten vor dem Volk", das Dach abgedeckt und ihn von oben: herniedergelassen. Ein ergreifender Anblick! Wir wollen uns das Bild recht vergegenwärtigen: Das Volk, zum teil über die Störung unwillig, zum teil verwundert, zum teil mit verlangendem Herzen; die Männer, voll Zu- trauen auf das harrend, was der Herr tun wird; der Kranke sehnsüchtig wartend — und in der Mitte die einfache, edle Gestalt Jesu. Was der Kranke will? Jesus weiß es wohl. Ec sieht in sein Herz hinein und erkennt, daß das Verlangen nach Vergebung der Sünden in ihm mächtig ist; daß er sich darnach vor allem sehnt. Mit einer göttlichen Einfalt und Kraft spricht Christus das schmerzliche und doch tief tröstliche Wort: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Er geht damit auf den Grund. Als der ewige Gottessohn kann er solches Wort sprechen. Des Gtchtbrüchigen Seele jubelt auf, als der Bann, der ihn seit Jahren drückt, hinweggenommen ist. Der Herr ist hier der Arzt für innerste Medizin gewesen. So sollen wir auch lernen auf die Hauptsache sehen, wenn wir mit Kranken umgehen oder selbst krank und bedrückt sind. Wir machen vielfach die Heilung des Körpers zur Hauptsache; man versucht alle Mittel, kostet jede Medizin, " um gesund zu werden. Und die Hauptsache läßt man beiseite: Vergebung der Sünden zu suchen. Bei allen Schmelzen und Leiden, die Gott zuläßt oder sendet, hat er die verborgene Liebesabsicht, des Menschen Herz zu sich zu ziehen, und der Christ sollte zur Hauptsache machen, Vergebung zu suchen. Lieber als Krüppel ins Reich Gottes, als mit zwei Augen und zwei Füßen in die Hölle ein gehen. — Haben wir Vergebung der Sünden empfangen? Wir sind keine Totschläger, keine Mörder, keine Diebe, wir haben die Ehe nicht gebrochen; wir befinden uns in geachteter Stellung. Und doch sind wir Sünder. Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Totschläger; wer einen Mann, ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. Wer seine Eltern mißachtet, der verletzt das erste Gebot, das Ver heißung hat. O, wenn wir im Geiste auf den Sinai gehen, welche Anklagen gegen unser fündiges Herz von einem jeden der heiligen zehn Gebote! Wir brauchen alle Vergebung. Wir haben alle nötig das göttliche Entbinden von schwerer Last. Und dieses Entlasten kann nur Einer; nur der, von dem ein Luther in ernster Zeit, da die unheimlichsten Heere der Menschenbrust einander gegen überstanden, sagt: Wen suchen wir, d«r Hilfe tu', Daß wir Gnad erlangen? Das bist du, Herr, alleine! Und mit Luther bekennen wir weiter, wie wir in diesen Tagen im geharnischten Liede des großen Reformators als rechte Protestanten singen werden: Mit unsrer Macht ist nichts getan, Wir sind gar bald verloren, Es streit sür uns der rechte Mann, Den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, Der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, Das Feld muß er behalten! Jesus ist der Helfer in aller Not, auch in der aller schwersten Not, in der Not der Sünden. Seine Unschuld, sein Leiden, sein Sterben kommt uns zu Gute, wenn wir in Buße und Glauben ihn ergreifen. Dazu helfe uns diese Zeit, dazu helfe uns auch der große Gedenktag der Reformation, der vor uns steht, an dem wir Gott be sonders brünstig bitten wollen: Vergieb uns unsre Sünden um deines Sohnes willen! Aaiser Wilhelm ll. in der Phantasie -er Franzosen. Die französische Oeffentlichkeit beschäftigt sich neuer dings wieder recht lebhaft mit unserem Kaiser, und zwar trotz Delcasss und Marokko nicht gerade in unfreundlichem Sinne. So hat, wie man der „Voss. Ztg." aus Paris schreibt, der bekannte Schriftsteller John Grand-Carteret, dessen Bildwerke weite Verbreitung und viel Anerkennung als sittengeschichtliche Urkunden gefunden haben, seiner Sammlung zeitgenössischer Karikaturen nun auch eine Zu sammenstellung von Spottbildern angereiht, die in den letzten 17 Jahren von den Witz- und Tagesblättern beider Welten dem Kaiser Wilhelm gewidmet worden sind. Es war ein etwas verwegenes Unternehmen und noch ver- wegener war der Gedanke, daß das Buch in Deutschland freien Eingang finden werde. Freilich ist Grand-Carteret fein genug, die Erinnerung an den alten Fritz heranzu- beschwören, der in einem im Besitze des Pariser Hand- schriftensammlers und Händlers Charavay befindlichen Briefe an Voltaire schreibt: „Man sagt mir, daß Ihre Welschen keine Gelegenheit versäumen, ihren Witz an mir zu üben. Es sollen Schattenrisse umlaufen, die Sie nicht mehr schonen als mich und die mich mit ibrer Neckerei bis hierher verfolgen. Ich mache mir nichts aus solchem Spott. Gott verhüte, daß ich mit Strenge gegen Späße einschreite, die für mich im Kreise meiner Tischgenossen eine Quelle der Heiterkeit sind." Grand-Carteret knüpft an diese Aeußerung des großen Königs an und spricht die Erwartung aus, daß Kaiser Wilhelm nicht weniger weitherzig sein werde als sein Ahnherr Friedrich der Einzige. Er faßt die Vorrede des Buches, das den Titel trägt „ER vor der Photographie und der Kari katur" (Paris, bei Per Lamm), in die Form eines Ge suches an „Se. Majestät Wilhelm H., Deutscher Kaiser und König von Preußen", und führt darin aus, daß der alte Fritz der Erste war, die über ihn umlaufenden Spott- bilder, Spielsachen, Dosen, Stockknäufe usw. drollig zu finden und über sie zu lachen: Napoleon m. hatte nicht die Philosophie, er ließ 15 Jahre lang das Berliner Witz blatt an der Grenze aufhalten, das ihn, die Kaiserin und die kaiserlichen Prinzen unter den Bezeichnungen „ER", „SIE" und „ES" verspottete; er hätte besser getan, von den Spottreden zu lernen. „Majestät, wie Napoleon I. sind Sie für die ganze Welt der Kaiser; wie Napoleon m. sind Sie ER, und Europa, das früher angstvoll nach den Seineufern blickte, heftet heute die Augen dauernd auf die Ufer der Spree. Sie sind der Gott des Tages. Die Blei stifte der ganzen Welt haben ihr Blei nur für Sie; Sie sind der meistabgebildete aller Herrscher und die Karikatur ist gegen Ew. Majestät heftig, herb, gehässig, unehrerbietig, häufig boshaft, manchmal ungerecht; aber sie sieht Sie niemals gleichgültig an. Majestät, Sie sind ein sehr moderner, sehr gewitziger Herrscher und ein Schätzer von allem, was das Gegenteil der Banalität ist. Von dem, der bei der Ermordung Carnots die gefangenen fran zösischen Seeoffiziere so großherzig begnadigt hat, von diesem Herrscher darf man noch viel Kühnes, Unvorher gesehenes, Weises und Neves erwarten. So wollen denn Ew. Majestät die Irrtümer der Politik des französischen zweiten Kaiserreiches vermeiden und auf die kluge Philo sophie Ihres Ahnherrn Friedrichs n. zurückgreifen .... In dieser Sammlung, die von einem derjenigen zusammen gestellt ist, die seit 25 Jahren nicht aufgehört haben, leiden schaftlich an der Versöhnung Frankreichs mit Deutschland und an der gegenseitigen Annäherung aller Völker zu arbeiten, findet sich alles mögliche: Humor, Unehrerbietig- keit, ätzende Satire; vielleicht sogar manches Bild, das von der löblichen Polizei beschlagnahmt worden ist. Aber diese Zeichnungen sind jetzt nur noch geschichtliche Ur kunden ohne jeden feindseligen Charakter, den sie verloren haben, weil sie nicht mehr „aktuell" sind, und einer bereits fernen Vergangenheit angehören. Ew. Majestät Regierung mag sie einst verfolgt und beschlagnahmt haben, Ew. Majestät werden sie aber frei einlassen wollen, denn nie mand, auch ein Kaiser nicht, kann die Geschichte unter drücken. Es kann für den europäischen Frieden nützlich sein, daß die Deutschen wissen, wie das Ausland sich die Gestalt ihres Herrschers vorstellt. Das Deutschland von 1905 kann nicht weniger freiheitlich sein als das Preußen von 1775 .... Die Spottbilder auf Ihre Person und Ihre Handlungen fürchten und verbieten, hieße, Sie in den Augen Europas verkleinern. Wenn Ew. Majestät das täten, wären Sie nicht mehr der Kaiser, der sehr moderne Friedenskaiser . . . Majestät! Geben Sie den befreienden Wink, den die Welt von Ihnen er wartet: lassen Sie die Bilder durch!" Die Gerechtigkeit erfordert, festzustellen, daß Grand-Carteret es vermieden hat, bloße Verunglimpfung mit dem Stifte oder gar niedrige, gemeinsame Beleidigungen aufzunehmen. Er hat für seine Sammlung nach Möglichkeit nur solche Bilder gewählt, die entweder einen witzigen Einfall darstellten oder gut gezeichnet waren. Es ist denn auch kein Zufall, daß unter den 300 Bilden der Sammlung der Londoner „Punch", der Züricher „Nebelspalter", das „Weekblad voor Nederland", die „Lustigen Blätter", die Wiener „Humoristischen Blätter", deren Illustrationen künstlerischen Wert haben, am häufigsten, französische Zeichner am seltensten vertreten sind. Gleichzeitig veröffentlicht unter der Spitzmarke „Wil helm ii. und sein Maler" G. Davenay im „Figaro" einen Bericht über eine Unterredung mit Herrn Felix Borchardt, der im Pariser Salon ein Porträt des Kaisers ausgestellt hat. „Wo haben Sie das Porträt gemalt?" fragte Herr Davenay. — „Auf Wilhelmshöhe bei Kassel. Die Sitz- A 6m Lusgeriklenes Klatt. Sj Kriminal-Novelle von H. Deutschmann. (Fortsetzung.) Wir sehen heute in öffentlichen Verfahren, Venn die Schuld des Angeklagten klar vorliegt, einen Anwalt die verzweifeltsten Anstrengungen, die oft genug als verwerflich zu bezeichnen wären, machen, um noch einen Anhalt zu finden, seinen Klienten weiß zu brennen. — Solche. Versuche find verdammenswert, sollten von einem redlichen Gerichtshof nie geduldet werden! — Die Verteidigung darf einen über führten Verbrecher nicht verteidigen, fie darf seine Tat höchstens mit Rückficht auf seine gesellschaftliche Stellung milder färben, — aber wo noch der geringste Zweifel an der Schuld des Angeklagten gesunden werden kann, da ist eS Ausgabe des Anwalts, da ist es seine heiligste Menschenpflicht, sich an diesen Stroh halm zu klammern und die Rettung seines Schutzbefohlenen zu ermöglichen suchen. In-unserm Kriminalfall galt es aber nicht eines, sondern zweier Menschenleben, und die Indizien standen auf Strohhalmen, die der Hauch eines Mundes zu knicken imstande war; einzig und allein die erzwungenen Aussagen eines fitzt ir finnigen Menschen hatten der irdischen.Gerechtigkeit das Material zum Todes- urteil für zwei Menschen gegeben. »Es gab jetzt nur noch einen Weg, den der Gnade. Der Mord des Assessors hatte ein allge meines Interesse erregt, noch viel größer aber wurde dasjenige^ das sich an die Verurteilung der beiden des Mordes Verdächtiaen knüvite. Es bildeten sich Stimmen für und gegen. Als mehr und mehr die näheren Umstände bekannt wurden, unter denen der Mord ge schehen sein sollte, da begannen vorurteilsfreie Leute, die nicht jeden Urteilsspruch für einen Ausspruch der Allwissenheit und Unfehlbarkeit hielten, die Köpfe zu schütteln und meinten, es läge doch in gar keinem Punkte der allergeringste Beweis der Täterschaft vor. Das Schicksal der beiden Unglücklichen war zum Tagesgespräch geworden. In allen Klassen der Bevölkerung sprach man nur von dem Prozeß der beiden Schiffsknechte. Wie leicht begreiflich, war die Kunde über den Assessormord mit seinen Folgen auch an den Hof des Fürsten gedrungen; der Fall gab nicht minder hier, wie in den Volkskreisen Ver anlassung zum Austausch von Meinungen und Erörterungen. Da traf daS Gnadengesuch der Mörder ein. Der Fürst, ein noch junger Mann, dem eine Herzensgüte, wovon er später noch manche Beweise gab, sozusagen angeboren war, hatte schon im voraus seinen Entschluß gefaßt, falls ihm Gnadengesuche der beiden Verurteilten vor gelegt würden. — Sofort nach Lesung griff er nach der Feder, und das Leben zweier Menschen, an denen möglicherweise ein Justiz mord verübt werden sollte, war gerettet. Der rätselhafte Mord des Assessors Gruber hatte auf die beiden betroffenen Familien eine furchtbare Wirkung gehabt. Die Mutter des Ermordeten, die noch immer hoffte, ihren Sohn wiederzusehen, brach bei der Nachricht von dem Leichenfunb jählings zu sammen. DaS Herz, das mit so heißer Mutterliebe für den Sohn geschlagen, war ge brochen. Der Schlag hatte es gelähmt. Die Braut des Ermordeten krankte wochen lang. Die Kraft der Jugend allein rettete ihr Leben. Niemand hatte mehr an den Baron von Drathen, an den Mitbewerber um die Hand der schönen Rentierstochter, gedacht. Der junge Baron war seit langer Zeit ver reist, er machte eine Reise nach Frankreich, Italien und wer wußte, wohin sonst noch. — Seine Abwesenheit hatte bereits über ein Jahr gedauert. Gerade jetzt kehrte der Baron zurück. Sein Wiederkommen, sein Auftreten lenkte zunächst das Auge, das Gespräch der Leute auf ihn, dazu kam noch ein zweites. In der Handelsstadt L. teilte sich die Be völkerung zur Zeit unsrer Geschichte in etwa zwei Drittel Protestanten und ein Drittel Katho liken. — Unter den Katholiken gab es viele einflußreiche, wohlhabende Bürger. — Die beiden verurteilten Schiffsknechte aber bekannten sich ebenfalls zur katholischen Konfession. In allen Städten, wo die Katholiken in der Minderheit find, hält die Gemeinde doppelt eng zusammen und nimmt sich in allen Fällen selbst der ärmsten oder unglücklichsten ihrer Glaubens genossen an. Das war auch bei dem Schicksal der des Mordes verdächtigen beiden Knechte geschehen, allerdings ohne Erfolg. — Aber eins war bei der ganzen katholischen Bevölke. rung zur festen Überzeugung geworden, daß man nämlich zwei Unschuldige eingekerkert hatte und leiden ließ, daß die Verurteilten die Mörder nicht seien. Bei dem katholischen Beichtvater griff zuerst die Überzeugung von der Schuldlosigkeit der beiden Platz und bald war kein Katholik in L., der nicht diese Annahme teilte. Baron von Drathen war Protestant, wie es auch der ermordete Assessor Gruber ge wesen. Der Baron hatte zu gleicher Zeit und fast in gleicher Dauer wie der Assessor in L. gelebt; er hatte bei Verwandten gewohnt und, wie es hieß, die Vorschule des Gymnasiums besucht, weil er sich entschlossen, Jura zu studieren und nach der Residenz zu gehen; das müßige Junggesellenleben war ihm, seit Marianne sich mit Grüber verlobte, zuwider geworden. Der junge Baron hatte sehr zurückgezogen in L. gelebt, man sah ihn nur in den Hörsälen des Gymnasiums und auch hier schloß er keine näheren Bekanntschaften; dies mochte seinen Grund darin haben, weil er ja eigentlich längst das Alter überschütten hatte, in dem junge Leute ihren Studien obliegen, er fühlte vielleicht, daß er nicht so recht in den Kreis der bartlosen Studenten paßte. Erft jetzt, wo er von seiner saft anderthalb jährigen Reise zurückgekehri war, erinnerte man sich daran, daß er gerade um die Weihnachtszeit verreist war, als der Assessor verschwand. L. ist eine große Stadt. Niemand gibt acht darauf, wenn zwei Leute von einer kleineren Stadt kommen und sich in jener großen nieder- lassen. der eine, um eine Stelle bei Gericht