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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 07.06.1908
- Erscheinungsdatum
- 1908-06-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190806073
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19080607
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19080607
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-06
- Tag 1908-06-07
-
Monat
1908-06
-
Jahr
1908
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Bezugö-Preis Mr nn» >uor»it« durch unter« »rtger uad Spediteur« tut Haut -«bracht: Lata ad« t tu», mar-eut) »ierteiMritch V vl.. meuatliid i M.; ttutaad« L (morgen« und abend») drerret» ttdrlich 4.8) Ei-, mpnarlich 1.20 w. Lurch dt« H>»k >u betztehen: ,7 wat täglich) innerhalb Deutschland» und der deatlchen Kolonien ,ierreljtdrl>ch b.L, M., monatlich 1,7b M. antlchl. Post- bellellgew, lür Oesterreich st L 86 Ungarn 8 L »ierleljthrlich. Ferner in vel» gien, DLnemark, den Donaustaaien, Italieu, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Ruß land. Schweden, Schweiz und Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch dt» Exped. d. Bl. erhältlich. «ldonnement-Ännabme: Lugustutplatz 8, bei unierrn Drägern, Filialen, Spediteurr» und tlunahurestelleu, sowie Postämtern und Briefträgern. Dw einzeln« Nummer kost«. Ist "tledaktlon und «rpedtttou: Iohannltgasje «. teleodon Nr. IE Nr. 14603. Nr 14«»». Morgen-Ausgabe 8. KiMer Tageblatt Handelszeitimg. Ämlsvlatt des Aales und des Volizeiamles der Stadt Leipzig. Anzeigeu-Prer» lür Jnlerai« au» Leipzig uao Umgebung dw «aespaltrne Petugeil« 2ü Ps., stnauziell« Anzeigen 3Ü Pj., «eklame» 1 Pt.; Nm autwän« SV Ps., »teklamea 1.20 dom Lutland 50 PI., finanz. «neigen 7LPl.. N-Namea IÄ M. Jaserarast^vehorden in amUicheu DeUtv Pi. lveilagegedüdr b M. p. lausend «xkl. Post gebühr. <t>eschäsi»an,eigen an bevorzugler Stelle im Preis« erhöht. Nabatt nach l-rn gesterteUt« Luiträge könneu nicht zurück- gezogen werden. Für da« itrschelnen an bestimmten lagen und Plätzen wird keilt« Garant»« übernommen. «»zeigen-Annahme! «ugustutpla» 8, del sämtlichen Filialen u. allen Lnnonceu- «Ipedltlauen de« In- und Lutloadr». Haupt-SUlale lvrrltur Carl »uiickir, Herzoge «agr. H^duch- handlung, Lützowstraße Nh ilelephon VI, Nr. «MH. Haupt-Stltal« Dretdeu: Seestrage 4.1 (Telephon 4Ü2O- Nr. 157 Sonntag 7. Juni 1908. 102. Jahrgang. Vie nächste Kummer des l-eiprigei' Tageblattes erscireirit v/egeo der ^fingsl- feie^tage erst am vieiisiag, den 9. ^rii, morgens. Das wichtigste vorn Sage. * Ter Tischler Robert Lohmann wurde heute von der Leipziger Staatsanwaltschaft aus der Haft entlassen, seine Ehefrau aber, als dringend verdächtig an dem Verbrechen an der Emma Heine, in Haft bchaltcn. lS- Lpzg. Ang.s * Rach einer Verfügung des Justizministers sollen in Preußen Jugcndgerichtshöfe allgemein eingcführt werden. * Das Lcibgrcnadicr-Rc giment Nr. 8 in Frankfurt a. O. begeht in Gegenwart des Kaisers und des großherzoglichen Paares von Schwerin sein hundertjähriges Jubiläum. lS. d. des. Art.j * Gelegentlich eines vom Verband Deutscher Handlungsgehilfen >m Herbst cinzuberusenden Kongresses über kaufmännisches Lehrlin gswescn soll eine Aussprache mit den Prinzi palen sHandelskammern, Prinzipalsvereinens über die bestehenden Meinungsverschiedenheiten in Sacken der sozialpolitischen StandeSfragcn der Handlungsgehilfen hcrbeigeführt werden. lS. Dtschs. R.s * Im August findet in Wien eine internationale Kon kurrenz dynamischer Luftschiffe statt. lS. Letzte Dep.s * Im russischen Marine Ministerium wurden Ver untreuungen im Betrage von 200 000 .X entdeckt. * Der Schriftsteller Donald W e d c k i n d, ein Bruder Hrank Wede kinds hat sich in Wien erschossen. lS. Neues a. a. W.j Pfingsten. Pfingsten ist gekommen. Wald und Flur leuchten noch un berührt und verheißungsvoll in jungem Grün und die Natur gewährt dem Wanderer noch die Erfrischung, die der Sommer nur all- zubatd versagt. Wir spürten seine dörrende Glut in den letzten Tagen schon ein wenig, aber dann sammelt sich doch rasch wieder wohltätiges Gewölk und der Regen strömt herab und erquickl Pflanzen und Menschen. Pfingsten ist ein Fest, das zu heiterer Zuversicht mahnt. Es ist unmög lich, angesichts dieses Schwellens und Blühens finster drein zu schauen, und selbst der, dem herbes Leid die Seele verrückt, wird jetzt Augen blicke finden, in denen das Dichterwort in ihm widerklingt: „Nun, armes Herz, vergiß der Qual, nun muß sich alles, alles wenden!" Auch wenn wir den Blick vom Schicksal des einzelnen auf die Zukunft der deutschen Nation richten, gewahren wir neben tiefen Schatten Helles Licht. Unsere BolkSkraft ist ungebrochen und während im westlichen Nach' barlande die BevöllerungSzahl nicht mehr wächst, mehrt sich das deutsche Volk alljährlich um fast eine Million Köpfe. Das beweist die Gesund heit uno den Optimismus unserer Nation und schafft uns alljährlich einen ungeheuren Zuwachs an Macht und Wohlfahrt. Wer weiß, ob wir uicht die Erhaltung des Friedens in erster Linie der imposanten Zahl unserer Bevölkerungsvermehrung verdanken. Ganz leicht, sagen sich die kriegslustigen Gegner, wird es doch nicht sein, dieses Volk zu Boden zu ringen. Mit dieser frohen Betrachtung aber ist die Frage eng verknüpft, ob wir uns auch die Reinheit der Sitten so bewahrt haben, wie es unser und unserer großen Vorfahren würdig ist. In den letzten Monaten sind wir durch beschämende Enthüllungen zur Selbstprüsung gemahnt worden, und die Reinigung mit dem eisernen Besen, die der Kriegsminister von Einem ankündigte, ist noch nicht in ihre Rechte getreten. Möge die Hoffnung uns nicht trügen, daß den abscheulichen Verirrungen, von denen wir Kunde erhielten, nur in einem engen Kreise krankhaft entarteter Menschen ge frönt wurde. Wir sind überzeugt davon, daß die überwältigende Mehrzahl der Nation innerlich gesund geblieben ist. Ein Volk, das eine so ungeheure Arbeitsleistung auszuweisen hat wie das deutsche, liefert ja täglich den Nachweis für seine sittliche Existenzberechtigung. Wir sind auf allen Gebieten rüstig vorwärts geschritten und müssen unS nun nur davor hüten, über der Forderung des Tages nicht ganz die Forderung der Ewigkeit zu vergessen. Wir müssen von Zeit zu Zeit daran denken, daß wir nicht nur erwerben, sondern auch leben sollen, daß wir nicht nur ein Portemonnaie, sondern auch eine Seele haben und daß die Hochschätzung der Erwerbsarbeit uicht zum Mammonökult werden darf. Wir werden unS — bei aller Anerkennung der eminenten Tüchtigkeit des Ameri kaners — doch vor einer kritiklosen Nachahmung überseeischer Lebens formen zu hüten haben und uuS immer wieder an dem Born, der aus den Werken unserer großen Idealisten quillt, er quicken müssen, um uicht in eiu banausisches Treiben hinab- zusiokeu. Aber auch diese Gefahr werden wir gewiß überwinden, denn gerade in den sozial aufstrebenden Schichten unsere» Volkes herrscht ein ehrlicher BilduogSdraog, der das Wissen nicht nur als Waffe, sondern um seine» läuternden Werte» willen begehrt. Wir dürfen auch der Frau und ihrer Bestrebungen nicht vergessen. Auch in dem Ringen de» weiblichen Geschlechte» zeigt sich neben manchen Exzessen, die bei keiner jungen Bewegung ausbleibeu, doch so viel lluge Mäßigung, so viel Sinn für Wirklichkeit und Weiblichkeit, so viel Verständnis für die physischen und historischen Bedingungen unseres Daseins, daß wir nicht scheel zu sehen und nicht den Untergang der Welk zu prophezeien brauchen, wenn auch „der Becher einmal überschäumt." So viel im einzelnen zu wünschen bleibt, im ganzen können wir mit unS zufrieden sein. Mag man über unsere innere und auswärtige Politik denken, wie man will: im höchsten Sinne ist sie nicht ent scheidend. Entscheidend ist, ob das Vaterland wahrheitsliebende, zum Guten strebende, mutige, opsersähigc Männer und Frauen besitzt, die in der Stunde der Gefahr zur Stelle sind. An ihnen hat es in Deutschland noch nie gefehlt, auch in Zukunft werben sie da sein, sobald es not tut, und vielleicht werben wir über unseren Reichtum an Per sönlichkeiten erstaunen. Der politische Himmel ist schwerer bewölkt, als es der Bürger ahnt, dem es seine Berufsarbeit nicht erlaubt, die täglich sich mehrenden Anzeichen der Bedrohung zu sammeln und zu beulen. Dafür sinb die Sckwarzseber, die belanntlich nicht gekuldet werden sollen, eifrig am Werke. Der Regicrungsrat Rudolf Martin läßt ein Buch ankünvigen mit dem gemütlich.'» Titel „Krieg in Sicht". Und Harden schließt seinen letzten Zukunftsleiter mit einer kaum weniger stimulierenden Prophezeiung: „Die Schicksalsstunve naht. Deutschland bangt nickt vor der bittersten Wabrbeit." Von dergleichen Ahnungen ist das offizielle Deutschland in seinen öffentlichen Bekundungen natürlich frei; und das oifiziöje auch. Aber die Tatsachen geben doch dem, der sich nicht gern überraschen läßt, zu denken. Und wenn auch glücklicher weise das Prophetentum in Mißkredit geraien ist, dieweil doch immer alles anders kommt, so liegt immerhin eine unbehagliche Stimmung über den Beziehungen Deutschlands zu seinen getreuen Nachbarn. Aber noch sind wir eine emporstrebenbe Macht und wir wollen an unS unv unsere Zukunjt glauben. Wenn wir ohne Uebermut und ohne Kleinmut unseres Weges gehen, brauchen wir niemanden zu fruchten. Ein großes Volk lann nie durch Koalitionen und Intrigen, es kann nur durch sich selbst zugrunde gehen. Auch für die Nationen gilt Schillers Wort: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne!" Erne Lekre. Sieben Sozialdemokraten im preußischen Abgeordnetenhaus! Wre wird dieses Ereignis wirken? Liberale Blätter meinen, den konser vativen Verteidigern des „bewährten" Dreiklasfeiiwahlrechts werde da mit ein Licht ausgesteckt, das sie vielleicht einen großen politischen Irr- tum erkennen lasten werde. Gewiß, es wird in einigen Köpfen tagen, aber alles, was rein junkerlich uno agrarisch denkt, wird vor diesem Licht die Augen schließen. Man wird nicht den Schluß ziehen: cs wird Zeit, ein freieres Wahlrecht zu gewähren, sondern man wird jagen: der Staat ist in Gefahr; alle Mann an die Bremsen! Leider wird diese unliebsame Wirkung auch nach Sachsen hinüber spielen. Wir befürchten, daß dieser Z. Juni die Aussichten unserer Wahlreform nicht verbessert hat. Jedenfalls wird der Widerstand gegen jedes liberale Zugeständnis neu belebt werden. Hal man nicht oft genug von Herrn Opitz zu hören bekommen, daß das jetzige Wahlgesetz die Anerkennung verdiene, den Staat vor „schweren Erschütterungen" bewahrt zu haben? Es hat die 14 Sozialdemokraten, die 1896 in der Zweiten Kammer saßen, hinausgebracht. Herrn Opitz wollte es daher durchaus nicht einleuchten, daß der Wahlgesetzentwurf des Grafen Hohenthal mit dem Einzug von 15 Sozialdemokraten rechnete. Herr Opitz — man muß ihm dies lassen — denkt darin ganz konsequent. Wenn man schon bei dem Wahlgesetz einen parteipolitischen Zweck, näm lich die Bekämpfung der Sozialdemokratie, voranstellt, so ist nicht recht einzusehen, weshalb man sich überhaupt mit einer Reform den Kops zer bricht. Tann ist ja das jetzige Wahlgesetz gerade gut genug, und wenn es vor vier Jahren dennoch einem Sozialdemokraten, .Herrn Goldstein, gelang, in den Landtag zu schlüpfen, so ist das im Sinne des Herrn Opitz nur eine Mahnung zur Vorsicht. Herr Opitz wird jetzt mit dem Finger ans das Wahlergebnis in Preußen zeigen. Wenn dort die Sozialdemokratie die Hürden durchbrach — wie viel mehr haben wir in Sachsen mit großen Ueberraschungen zu rechnen! Und wird sich Graf Hohenthal nicht Aehnlichcs sagen? Wird er sich nicht bestärkt fühlen in seinem Verlangen nach Reserven und Konserven? Für eine liberale Auffassung liegt etwas Tragisches in der neuesten Wendung. Die liberale Presse und die liberalen Parteien können jetzt ihre Stimme nicht laut genug erheben, um die Regierung vor ver hängnisvollen Schlüssen zu warnen — verhängnisvoll, weil sie mutlos machen. Es hilft alles nicht — man muß sich über die grundsätzliche Be handlung der Sozialdemokratie klar werden. Wie oft haben wir an dieser Stelle anseinandergesetzt, welche Täuschung in der konservativen Politik liegt, wenn sie dem Landtage vor der Sozialdemokratie Ruhe ver schaffen will durch ein Wahlgesetz, das ihren Zutritt durch allerlei Ven tile ganz genau reguliert. Der Regierung und dem Landtage könnte man diesen Standpunkt schon der Bequemlichkeit wegen gönnen, wenn damit auch dem Lande eine wohltätige Ruhe verschafft würde. Aber das ist ja gerade die Täuschung; je sicherer ein Wahlgesetz dieser Art funk tionieren würde, um so unsicherer die politische Zukunft. So vernünftig cs zurzeit noch ist, Vorsorge zu treffen, daß die sozialdemokratische Masse nicht ohne weiteres die Wahlen beherrscht, so notwendig ist es doch auch, auf eine Verminderung der Zugkraft dieser Partei binzuwirkcn. Man erzielt aber das Gegenteil, je deutlicher die politische Entrech tungstendenz im Wahlgesetz Platz greift. Tas ist die Lehre, die wir aus dem Wahlerfolq der Sozialdemokratie in Preußen ziehen. Wäre die konservative Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses vor zehn, zwanzig Jahren so einsichtig gewesen, in eine Wahlreiorm zu willigen, so würde allerdings die Sozialdemokratie vielleicht schon damals mit soundsoviel Mann eingezogen seien, aber jetzt ist ihr Triumph unver gleichlich viel größer. Die sozialdemokrasische Prelle stellt mit Genug tuung fest, daß es wiederum, wie bei der Reichstagswahl im Jahre 1909, die bürgerliche Wählerschaft war die ibr hcffprang. Man bedenke: öffentliche Wahl! Gewiß hat die Sozialdemokratie rücksichtslos die von der Arbeiterschaft abhängigen Leute, .Händler. Kaufleute. Wirte ulw. unter Hochdruck geletzt und zur öffentlichen Stimmabgabe für ihre Wahlmänner getrieben, aber mau darf cs alanben. wenn berichtet wird, mit Staunen habe man in den Berliner Wahllokalen von Wählern der zweiten und der ersten Abteiluna die Stimme für die Sozialdemokraten abgebcn hören, von Männern, die. ganz und gar unabhängig, nach dem Wohlgefallen der Partei nicht zu fragen batten. Diese Bürger wählten sozialdemokratisch offenbar aus rein volitffchen Gründen Sie demon strierten gegen das D^eiklallenwahlrecht, gegen die preußische Regierung, gegen eine verkehrte Politik! Der Wahlgelctzentwurs des Grasen Hobenthal stellt 45 Pro;, der Wahlerstimmcn sornsogen als gegebenen Faktor zugunsten der Sozial demokratie in die Rechnung ein. Die Sozialdemokratie selbst waat nicht zu bebauvten, daß diele 20,5 000 Wähler den Namen Genossen verdienen. Die sächsische sozialdemokratische Rarteioraan'ig'ion zählt etwa ssooao Mitglieder. Es ilt gar k-in Zweifel daß viele Tauienoe der eingestell ten sozialdemokratischen Stimmen nichts anderes sind als politische Protest st im men bürgerlicher Wähler. Welcher Gedanke könnte mehr einleuchten als der, diese Protcststimmcn durch ein ehr- liches Wahlgesetz wieder zu gewinnen? Und nichts sicherer, "'S daß ein unbefriedigendes Wahlgesetz die Zahl dieser Proreststimmen erst recht anschwellen machen muß. Was dann? Soll auch in Sackten der Sozialdemokratie die Genugtuung bereitet werden, daß ihr schließlich kein Wahlgesetz, es sei noch zu klüglich berechnet, staudbalten kann? Soll sich der Landtag mit „Reserven" befreunden, die alle zehn Jahre vcr- schärst werden müssen, wenn sie ihren Zweck noch erfüllen sollen? Es hat alles einmal ein Ende. Noch ist es Zeit, dem Wahllompromiß ein volkstümliches Gepräge zu geben. Die Sozialdemokratie wird man freilich nicht zufrieden stellen, aber von einem klug und gerecht bemessenen Pluralwahlrecht ist noch am ehesten eine günstige Wirkung im Volke zu erwarten. Der Mittelstand findet darin eine wahlberechtigte Anerkennung seiner Bedeutung, und das ist kein zu unterschätzender Umstand, de nndaswcitcrcU eber greisen der Sozialdemokratie in den Mittelstand zu verhüten, daraus kommt es an! Durch ein Wahlrecht, das nur liberale Scheinzugeständinsse enthält, wird sich am allerwenigsten diese Wirkung erzielen lassen, denn die Wählerschaft wird mit Recht empfindlich, wenn man ibr, wie z. B. durch die Einschiebung der kom munalen Verbände als Wahlkörper, zumutet, fick über die Einengung ihres Rechtes zu täuschen. Tas machte ja gerade die Wirkung des Wahl gesetzes vom Jahre 1806 so bösartig, daß man den Kreis der Wahlberech tigten zwar ausdchnte, dieses Zugeständnis aber illusorisch machte durch die Klasseneinteilung. Welches Recht ihm durch das Pluralsvstem zu gemessen ist, wird jeder Wähler klar vor Augen sehen. Nur nehme man nicht wieder mit der einen .Hand, was mit der andern gegeben wurde. Man bringe keine Widerhaken an und lege keine Fußangeln. Fast scheint es nach der letzten Erklärung des Grälen Hohenthal, als warte die Negierung wie Nora im letzten Akt auf etwas Wunder bares, auf eine plötzliche Erleuchtung, sagen wir auf einen Umfall. Ein tatkräftiger Entschluß wäre dem Lande lieber gewesen. Nock ist in dem überwiegenden Teil des sächsischen Volkes ein großes Maß von Ver trauen vorhanden. Das ist die beste Reserve, die sich Gras Hohen thal wünschen kann. Er sollte sie nützen. Denn cs gibt Schätze, die durch Nichtgebrauch an Wert verlieren. Nervöser Frühling. Es ist die Zeit, da alles in uns rebellisch zu werden pflegt. Die Tage der lackenden Sommergewänder, der abenteuerlichen Strohhur- sormen und der glühenden Asphalte. Die Zeit, die unS die Tropen liebevoll näher '.ückl, unö im Sonnenbrand stöhnen und die Wetter unbill beklagen läßt, wenn der Regen nievrrklatschr, Pfingsten, wo jeder manns Phantasie beweglicher, jedermanns Nerveu irritierter uud alle reiselustig werden. Die Zeil ist's der Kursbücher uno der überfüllten Rei'ebureaus, der Sommerprojeklc, die man jetzt schon erwägen, be stimmen, genau durckarbeitcn und ordnen will, ehe man bei Ferien anbruch dazu kommt, sie zu ändern. Noch ist's nicht der schwere, schwüle Sommer, da Faulheit ein Triumph der Menschheit wird, noch hat man Pläne und Absickten, Ziele, Wünsche, Ueberraschuugeu, die später die Enttäuschungen sind . . . Es ist die Zeit der Ueberrasckuugen. In allen Ländern, auf allen Gebielen. Wenn sie fehlen, schafft man sie. Um Pfingsten treiben die rückständigsten Bäume Blätter unv die verstorbensten Affären Wachen auf. So war'ö wirklich eine Ucberraschung, daß jetzt noch dem gulen Gregori, dem tapferen Nationalisten, der Geranie kam, seine Pistole bochzunehmen unv rücklings dem rehabilitierten Teuselsinielkapitän eine Kugel in den Arm zu jagen. Die Pistole war zwar, wie er sogleich behauptete, als eine Art Lynckjustiz drohte, gar nicht getaden, aber das war dann eben wieder eine Ueberraschung, daß man rn ZolaS Katafalk später ein paar Kugeln sand und Major Dreysus sich für drei Wochen verwundet ins Bett legen muß. An dem Bett, an dem Madame DreysuS ausrief: „Uns kann nichts mehr überraschen!", erschien rasch der Kriegsminister Picquart, sprach sein Bedauern aus. Und man hat gelesen, daß er dem Blessierten das Kreuz der Ehrenlegion anhesten will, das den Kettenmakel völlig soll ver gessen lassen. Und es ist echt französisch. Im Volk, in den Parteien mögen Fanatiker irren. Die Repräsentanten der Nation bitten ab und wollen entschävigen, überreich und sofort. Und daun der Revolverheld, Herr Gregori: er ist nicht minder französisch. Ihm war's, wie er meinte, ^bloß um eine Demonstration" zu tun. Das mag — trotz der Kugeln, die im Revolver saßen — ganz wahr, ganz ehrlich sein. Eine Geste, eine Pose, ein Abglanz Heroismus ichien sicherlich dabei, daß einer knallend loöschoß, wenn La France im Pantheon weilte und alles Volk hinsah. Picquart unv Gregori begegnen einander hier in einem Zug, der national ist: im Temperament, im Spontanen. Ihr Handeln ist deutlicher Gegensatz: dennoch sind sie verwandt. Und wenn je in Frankreich Träger von Temperamenten, lebendige Symbole für Massen und Parteien, im Gegenspiel standen, je sich befehdeten, hat noch immer die Well Schauspiele von Größe oder Schrecknis, zum wenigsten von tief aufwühlenden inneren Kämpfen ge sehen: nie Gleichgültiges. Jetzt möchten gern die Nationalisten, wenn'S irgend gebt, die Kapitel des Prozesses» der Bitternis von Rennes noch einmal aufrollen. Freilich Zola ist tot. Ihn könnte die verhetzte Plebs nicht mehr in die Seine zu stürzen versuchen, wenn er vom Gerichissaal fährt. Aber man hätte wieder die Affäre. Vielleicht voll neuer wilder Wunden . . . Und all das jäh, ganz plötzlich, über Nacht. Ganz wie's die Nationalisten hoffen, von denen einer, zwei Tage vor Pfingsten, als die Affäre schlief, eine Pistole loSjchoß. Es ist nichts Pfingstliches in dieser Angelegenheit. Man sehe lieber zu, wie sich bei solch heiterem Feste lustige Wiener etwa benehmen. So südlich milde, so fröhlich muß an der Donau das Wetter sein, daß dort eine Reihe von Hausbesitzern seit Wochen schon begann, ihre Parteien ans die Straße zu setzeu, die offenbar viel gutmütiger sind als die französischen Parteien. Es handelt sich dabei um ein Ding, das jetzt die Donaustadt in Aufruhr bringt: um den Festzug. Weil man während seiner Dauer bequem achthundert bis tausend Kronen für ein Zimmer in den FestzugSstraßen von Fremden fordern kann, setzt man die Mieter eben auf die Straße. Da» ist eine soziale Einrichtung von größter Billigkeit und sie beweist, daß die Wiener ohne Zweifel immer nock ihren Humor nicht verloren haben. Vielleicht können sie sich vorläufig auf den Holz tribünen, in den Bretterverschlägen häuslich niederlassen, von denen ja jetzt die ganze Stadt vernagelt scheint, oder überhaupt ohne Unter brechung durch die Straßen bummeln, in denen sich ja in diesem Jahr zu jeglicher Stunde einiges begibt. Acht Tage vor dem Iubelsestzug, vor gestern oder vor drei, vier Tagen, hat Wien erst wieder seinen Blumenkorso gehabt. Es ist ein Korso, zu dem Wiens eleganteste und schönste Frauen in Blumenwagen in den Prater rollen, ein Korso, zu dem künstlerische Phantasie Blumentriumphe von seltenster Grazie ersinnt, ein Korso, an dem in dichtgeschlossenen Kolonnen die Waqen am Volk vorübcrsausen, das sie mit Blüten überschütten. Jede Equipage eia Garten, der ein Vermögen kostet. In jedem Garten eine Dame, für
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