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zu No. 40 des Wochen- und Amtsblattes für Wilsdruff re. Freitag, den 22. Mai 1874. Am Ziel Eine stille Geschichte von Ludwig Habicht. (Fortsetzung.) Still und öde war cs in dem großen Hause. Sein Vater war verreist, um nicht den „verlorenen Sohn" zu Gefickt zu bekommen er hatte der Sterbenden nicht wehren mögen, daß sie nach dem Sohne verlangte, aber er wollte selbst nicht mehr mit ihm in Be rührung kommen. Die Schwester empfing Heinrich weinend an der Thür und warf sich schweigend an seine Brust. Kein Klagelaut kam über seine Lippen, das Blut schien ihm erstarrt und trocken, stieren Auges blickte er ans die trostlose Schwester. Sie führte ihn an den frischen Hügel, und auch jetzt gingen die Geschwister schweigend Hand ütt Hand. Erst hier löste sich der starre, stumme Schmerz, und die ersten heißen Thranen rollten brennend über seine Wangen. „Mutter, Mutter! Du mußtest sterben!" rief er schmerzlich er regt aus, „und ich durfte nicht mehr in Dein mildes Auge blicken, konnte mir nicht mehr Verzeihung holen für den Dir zugefügten Schmerz. Das ist die bittere, vernichtende Strafe meiner Schuld! Du hättest mir verziehen — mir Deinen Segen gegeben auf meinem schweren, dunklen Wege. Du mußtest sterben, eh' ich mir das heiß ersehnte Ziel erringe! Mein rascher Schritt hat Dir das Herz ge brochen — ich weiß es, denn Deine weiche Seele könnt' dieses Slurmcs- wehen nicht ertragen. O, ewiger Gott — laß dies kein trügerisch- gaukelnd Irrlicht sein, das mir vorgeleuchet und mich ruhelos fort geführt — laß nicht Alles Lüge und Täuschung sein! Laß mich nicht den Fluch des Vaters aus mich geladen, die theuere Mutter getödtet haben um eines thörichteu Wahnes willen — gieb mir heule in die ser Stunde, an diesem Grabe die Weihe und laß mich das Ziel er reichen, das ich mit dem Thcucrsten erkauft, was eine Menschen- brust nur opfern kann!" Heinrich warf sich in höchster Aufregung über den Hügel und ruhte lange auf der noch grauen Erde, die sein Theuerstes, die Ge beine seiner Mutter umschloß. Als er wieder aufstand, schien er ein Anderer geworden zu sein. Eine Art Verklärung lag über seinem Antlitz: vie freudige ermuthigende Gewißheit, daß er das Ziel er reichen würde, nach dem er mit ganzer Seele rang. * * * Der Nebel war gefallen und Heinrich frei. — Mit anderen Kräflen begann er jetzl sein musikalisches Schaffen und von neuen Hoffnungen getragen, lebte er sich tiefer und inniger ein, in die wunderbarc, reiche Welt der Tone. Sein dumpfes Ringen und Stre ben erhielt endlich Leben und Bewegung und gestaltete sich zu plastischen Tongemäldcn. Mit welch' glühender Begeisterung hing jetzt Anun- ziata an dem jungen Componisten; sein Glück, sein Ruhm war mit der ihre, und die schon halb der Erde entrückte Schwärmerin zog in um so längeren Zügen diese Seligkeit ein. Heinrich lebte nur "noch für sic; in ihr fand er Alles — das Ideal seiner Träume, seine Muse, die ihn allein zu dem Höchsten begeistern konnte. Es war ein eigenes wunderliches Verhältmß. Sie sprachen nicht mit einander von Licbe, versicherten sich nicht Zuneigung und Treue, und doch lebte Eins nur für das Andere, jeder Schmerz, jeder Klageton klang in der gleichgestimmten Seele wieder. Wie hätte auch Heinrich von Liebe sprechen können bei diesem ätherischen, nur durch die Goldfäden der Musik an die Erde gefesselten Wesen. Heinrich ging jetzt ruhig all die Arbeit. Die Töne perlten reich und blübend aus seiner Seele, um sich zu einem harmonischen Ganzen zu gestalten. Es war eine Oper, an die sich der junge Tonkünstler zuerst gewagt hatte, und Annuziata sah sie förmlich vor ihren Augen erstehen, — sie lebte sich wieder mit hinein in die langen schmerzlich entbehrten Töne, und heißer als je erwachte in ihrer Seele der Drang nach Ausübung ihrer Kunst. Sie theilte ihren Wunsch dem Vater mit, der sich lange und entschieden dagegen sträubte, aber Anuuziata wußte so dringend zu bitten und die anfängliche Weigerung wirkte so nachtheilich auf ihren Gesundheitszustand, daß der Maestro, wenn auch mit Widerstreben, nachgab. Der krankhaften Sucht nach Ruhm hatte ein anderer, edlerer Beweggrund Platz gemacht. Anuuziata fühlte zu tief, daß sich ihr Leben zu Ende neigte und jeder, selbst der glänzendste Triumph für sie eine flüchtige Schaumpcrle sein könne, aber sie wollte dem theuren Freunde den letzten Dienst erweisen und durch ihr Spiel zur Ver herrlichung seines ersten Werkes beitragen. Ihren unermüdlichen Bestrebungen war cs gelungen, daß die Oper des jungen Componisten angenommen wurde, und nun war sie rast los bemüht, alle Hindernisse hinwcgzuräumen und eine rasche Auf führung zu ermöglichen. Die Zusicherung Anunziata's, daß sie in dieser Oper Mitwirken würde, war für die Direktion zu verlockend, das Erstlingswerk des jungen Künstlers wurde angenommen. Anuuziata halte als Kind schon durch ihr Spiel und ihren Ge sang die Welt entzückt; man sprach in der Residenz davon, daß dies Müdchcn die wunderbarste Stimme habe, und allgemein war das Bedauern, daß Anuuziata durch ihre Krankheit verhindert sei, als Stern erster Große an dem Gesaugshimmel dcr Residenz zu glänzen. Es war ein eigener Geist über Anunziata gekommen. Sie lebte nur noch für die Oper ihres Freundes, der mit Zagen den Vorbe reitungen zu der Aufführung seiner Arbeit entgegen sah. Nur der Maestro sah auf das Treiben der Beiden mit düsterem Blick; er liebte seine Tochter mehr als feine Kunst, und die Sorge, daß der Kranken dies neue Auftreten unheilvoll werden könne, be schäftigte ihn viel zu sehr, um durch die Aussicht auf Erfolge erfreut zu werden. Er kannte sehr gut die Quelle von Anunziatas neu er wachtem Drange nach einem öffentlichen Auftreten, daß nur die An hänglichkeit an Heinrich sie dazu bewogen und er konnte einen Wider willen gegen Heinrich nicht unterdrücken, der von Neuem sein gelieb tes Kind an einen Abgrund reißen wollte. Während dieser Aufreg ung wurden Heinrichs Briefe an Louise immer seltener und kürzer und blieben zuletzt ganz aus. Heinrich konnte sich darüber selbst keine Rechenschaft geben: er versuchte noch zuweilen zu schreiben, setzte die Feder an, um sic nach einigem Sinnen wieder wegzuwerfen. Es quoll ihm kein herzlicher Gedanke mehr aus der Feder, und leere, glatte Worte zu schicken, dazu war er doch nicht Heuchler genug. Robert ermahnte anfangs den Freund an seine Pflicht; aber jauch dessen Briefe blieben plötzlich aus und damit waren die alten lieben Fäden, die sich so fest um sein Herz gewunden, abgerissen. Der Tag der Aufführung rückte immer näher, endlich waren es nur noch Stunden bis zur schweren verhängnißvvllen Entscheidung, und Heinrichs Herz fieberte ihr in schwankender Furcht und Hoffnung entgegen. Jetzt so nahe der Entscheidung, begann sein Muth von Neuem zu sinken und zagend und hoffnungslos klagte er sich gegen Anun ziata aus. „Wenn nun morgen die stolzen Traumpaläste meiner Seele krachend Zusammenstürzen? Was dann?! — Wenn mich nur Dämo nen erfaßt und hämisch aus glücklichen, ruhigen Verhältnissen heraus gerissen und in eine andere Bahn geworfen, der meine Kräfte nicht gewachsen wären; wenn ich mich dennoch getäuscht und all' dies Wa gen und Drängen nach künstlerischem Schaffen, nach Vollendung eine Lüge wäre? — Dan» bin elend, so unendlich elend, wie es nur ein Jrakus sein konnte, der mit erborgten Flügeln zur Sonne strebte und in die Tiefe des Meeres sank." Das junge Mädchen blickte ihn mit ihren leuchtenden Augen wunderbar belebend an und entgegnete zuversichtlich: „Das wirst Du nicht! — Glaub' mir! Ich fühl es hier in meinem Herzen, Du wirst morgen den ersten Schritt thun auf der Staffel des Ruhmes. Es leuchtet etwas in Deinen Augen, an das muß ich glauben." „Anunziata, wenn Du wahr sprächst, wenn meine Hoffnungen erfüllt würden, wie wollte ich zu Dir aufschauen, wie zu einem pro phetischen Engel, denn Dir schulde ich ja alles Glück, Name und Leben!" „Vielleicht erblicke ich noch die Morgcnröthe Deines jungen Ruh mes, dann will ich gern und selig sterben," entgegnete sie leise. „Das sollst Du nicht! Du bist ja meine Muße, die mich belebt und angeseuert hat, wenn ich zusammenbrechcn wollle, Du mußt bald völlig gesund werden, — mau jagt, das Glück heilt." „Ja, es heilt," wiederholte Anunziata lächelnd. Heinrich sah ihr liebevoll in die verklärten, leuchtenden Augen und schwärmerisch ihre Hand ergreifend, zauberte er ihr mit glühen den Farben die Traumbilder des Glückes vor. Wie sie dann Hand in Hand die Welt durchfliegen und das Leben in seiner Schöne und Tiefe auskvstcn wollten . . . Anunziata horchte, das Köpfchen gesenkt, auf seine Phantasien und ein seliges Lächeln spielte um ihre Lippen. Wie glücklich waren die Beiden! Der Abend der Vorstellung nahte und ein zahlreiches ausge- wähltes Publikum war im Opernhause versammelt. Es galt ja das Erstlingswerk eines jungen Mannes zu hören und dann halte Viele die Nachricht herbeigclockt, daß die am Himmel dcr Kunst so flüchtig vorüber geeilte Tochter des Kapellmeisters zum ersten Male wieder öffentlich aus treten wolle. Alles war ans das Beste und Glänzendste arrangirt worden — denn so erbittert die Stimmung des Kapellmeisters gegen Heinrich war, duldete es doch seine Ehre nicht, daß die Aufführung scheitern dürfe: nicht allein, weil es seiner Tochter, sondern auch seinem Schü ler galt, dessen bedeutendes Talent er stets gegen Andere gerühmt hatte. Die Aufführung begann. -- Schon die Overture wurde beifällig, die ersten Scencn mit Würm? und Begeisterung ausgenommen. Da erschien Anunziata, und ein rauschender Beifall empfing die wunder- liebliche, ätherische Erscheinung. Es war eine Zauderoper voll Duft und Poesie in der sich aller Schmelz, aller Klang eines träumerischen Herzens ausströmen konnte, und in immer rascheren Schlügen pochten die Herzen der Zuhörer. Immer reicher und blühender entrollte sich vor dem horchenden Pub likum das anmmhige, melodicnreiche Werk, daß cs tief und leuchtend zum Herzen sank. Vielleicht Halle das Jugendwerk dennoch einige Lücken; aber das Spiel Anunziala's und ihr himmlisch reiner, sich