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Den Socialdemokraten gegenüber hat sich die Versagung der Diäten im Reichstage nicht bewährt. Trotz der Aussicht, das theuere Leben in Berlin auS eigner Tasche bestreiten zu müssen, hat es den Socialdemocraten allenthalben im Lande an Bewerbern nicht gefehlt, die bereit waren, im Jutercsse ihrer Partei dieses Opfer auf sich zu nehmen. Der Umstand, daß bis jetzt nur 7 dieser Männer zu Abgeordneten gewählt worden sind, widerlegt die Lhatsache nicht, daß ihrer zehnmal so viele vorhanden waren, die eben so bereitwillig als jene Sieben sich der harten Bedingung gefügt haben würden. Wie diese unbemittelten Leute es ansangen werden, in Berlin ohne offenkundige Einnahmen jährlich vielleicht 4—5 Monate zu leben, wissen wir nicht, aber sie werden sich einstellcn und ihre politischen Ueberzeugungen im Reichstage vertreten. — Auch die Ultramon tanen, die Elsaßer, die Polen und die Dänen geniren die fehlenden Diäten nicht. München, 15. Januar. Vom Ende Juli v.Z. wo die Cholera sich zum ersten Male in München zeigte, sind an Cholera und ihr verwandten Krankheiten bis zum heutigen Tage 2303 Personen er krankt und von diesen 1067 gestorben. Die Aerzte glariben, daß die Epidemie nicht eher unsere Stadt verlaffen werde, bis nicht die zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche eintretenden ausgiebigen Niederschläge auf den Stand Les Grundwassers wirken. — Von gestern bis heute Abend sind hier an Cholera SS Erkrankungen und 14 Todesfälle vorgekommen. Schweiz. Von 100,000 stimmfähigen Bürgern des Cantons Bern haben 70,000 für das vom Negierungsrathc vorgeschlagene li berale Kirchengesetz gestimmt, 16,000 dagegen. — Eine mit den religiösen Wirren zusammenhängende fanatische That wurde leider kürzlich in Biel verübt. Anläßlich eines Wort wechsels über Glaubenssachen schoß ein katholischer Zimmergeselle einen protestantischen Kameraden mit einem Revolver durch die Schulter. Der Getroffene stürzte augenblicklich zusammen; da der Thäter aber noch Lebenszeichen an ihm bemerkte, schoß er mit den Worten: „Warte, du verfluchter Protestant!" noch zwei Kugeln auf den Unglücklichen ab, von denen die eine in den Kopf, die andere in den Arm traf. Die Hoffnung, ihn am Leben zu erhalten, soll nur gering sein. Der Mörder ist verhaftet und wird seiner Strafe nicht entgehen. Ouitt. Novelle von Ludwig Habicht. (Fortsetzung.) Aller Augen richteten sich nach jener Stelle und sein Ansnff kam so unerwartet, daß selbst Eleonore, die auch bei der Schilder ung des Advocate« ihre Ruhe behalten, die Fassung verlor. Ihr ohnehin blasses Gesicht entfärbte sich noch mehr, sie machte Miene aufzustehen und den Saal zu verlassen, besann sich aber und blieb auf ihrem Platze. Trotzdem konnte Jeder ihre Betroffenheit bemerken, über eine Anschuldigung, auf di» sie gewiß am wenigsten vorbereitet gewesen. „Ja, sie ist's, fuhr der Gärtner fort, der kein Auge von ihr ver lor, trotzdem es schien, als ob seine Blicke ganz wo anders herum- irrte«: „Daß ist die kleine, blonde Dame, die ich damals gesehen." Die Aufregung in der Versammlung wuchs, selbst die Richter und Geschwornen betrachteten mit großem Interesse diesen eigenchüm- lichen Zwischenfall. Noch eh' der Vertheidiger seine Rede fortsetzen konnte, erhob sich Fräulein Meltzer von ihrem Platze, aber anstatt den Saal zu ver lassen, drängte sie sich vor und suchte vor die Schranken des Gerichts zu kommen. Sie hatte ihre kühle Besonneneit wiedergcwonncn und mit vornehmer, sicherer Haltung vor dem Präsidenten sich verbeugend, bat sie, sofort diese unerhörte Anschuldigung zurückweisen zu dürfen, die freilich so lächerlich sei, daß sie keine Beachtung verdiene; aber sie habe ihren Ruf ängstlich zu wahren, der ihr über alles gehe. Wohl widersprach ihr Wunsch dem ruhigen Gange der Verhandlung, aber durch de» plötzlichen Ausruf des Angeklagten hatte sie ohnehin eine außerordentliche Wendung genommen. Der Gerichtshof fand das Verlangen Fräulein Meltzers, die Be schuldigung des alten Clemens sofort zurückzuweisen, nicht unberechtigt. Es wurde ihr deshalb eine weitere Erklärung gestattet. Ein Theil der anwesenden Frauen fanden wohl das Auftreten Fräulein Meltzers etwas auffällig und unweiblich, Andere bewun derten es um so mehr und erklärten, sie thue ganz recht daran, daß sie so etwas nicht auf sich sitzen lasse und sich sofort selbst vertheidige. Eleonore schien wenig darnach zu fragen, wie man ihren Schritt beurtheile. Sie war die echte Tochter ihres Vaters, die jeden Schritt wohl berechnet und mit kaltem klügelnden Verstände genau wußte, was sie that und sprach. Mit großer Geistesschärfe wußte sie die Beschuldigung des An geklagten zurückzuweisen, der sich in seiner verzweifelten Lage dies neue Märchen ersonnen, um sich aus der Schlinge zu ziehen. Seine Behauptung sei zu unsinnig, als daß sie eigentlich eine Widerlegung verdiene. Wie wäre es möglich gewesen in den Garten des Barons zu kommen und dann, plötzlich die Mordarbeit zu verrichten, zu der selbst der alte rachsüchtige Mann nicht den Muth gefunden. „Und was hätte mich zu einer solch' fürchterlichen That veran lassen sollen?" fuhr Fräulein Melzer mit großer Ruhe fort. „Ich habe mit meinem Nachbar dem Herrn Baron v. Wermuth nicht im mindesten Verkehr gestanden, denn ich bin eine Bürgerliche und war viel zu stolz, um mich an ihn zu drängen und der Herr Varon hak' cs natürlich auch für seine Pflicht gehalten, seine plebejische Nach barin völlig zu ignoriren." Bei diesen Worten streiften ihre kalten grauen Augen das'blasse Antlitz des Barons und ein ironisches Lächeln spielte um ihre dünnen Lippen. „Unser nachbarliches Verhältniß blieb daher ungetrübt" — be gann Eleonore von Neuem, „weil jede Veranlassung fehlte, uns anzufeinden. Wohl hätte meine Gesellschafterin, Fräulein Liebig, einige Ursache das Auftreten des Herrn Baron v. Wermuth gegen sie nicht gerade ritterlich zu nennen, aber sie hat ihm in christlicher Ge sinnung längst verziehen, und das Gericht hat auch natürlich ihre Unschuld bereits anerkannt. Ich muß deshalb die Behauptung des Gärtner Clemens für eine Beleidigung betrachten, die um so sinnloser ist, als er in mir die Dame erkennen will, die er damals im Garten gesehen. Es ist sehr unklug von dem alten Mann, daß er mich als jene seltsame Erscheinung bezeichnet, hätte er meine theure Freundin dazu auserwählt, so würde er vielleicht einen bessern Erfolg gehabt haben, da auf die Aermste schon durch das aufgefundene Medaillon ein schwacher Verdacht gefallen. Aber zum Glück hat der Heiland den Sinn des wüsten, gottlosen Verbrechers schon verwirrt, daß es ihm unmöglich ist, ein frommes und edles Gemüth zu verderben." Und plötzlich wieder diese fromme Sprache aufgebend, setzte Eleonore hinzu: „Die ganze Erzählung, wie der Ausruf des alten Mannes ist nichts weiter wie eine geschickt entworfene Comödie, von der sich der hohe Gerichtshof, wie ich mit Zuversicht erwarte, nicht blendens lassen wird." Fräulein Melzer verneigte sich von Neuem und trat in so ruhiger,, sicherer Haltung zurück, wie sie gekommen war. Bei den Zuhörern herrschte jetzt nur die eine Meinung: Die Besitzerin des grünen Hauses hatte vollkommen Recht. Die ganze Geschichte war gewiß nichts weiter wie ein abgekartetes Spiel, das der schlaue Advocat aus der Hauptstadt seinem Clienten sorgfältig einstudirt, um ihn zu retten und durch die bewirkte Freisprechung eines Mörders, dessen Schuld so klar am Tag lag, seinen Ruf als ge schickter Vertheidiger noch zu vergrößern. Der Rechts-Anwalt ließ sich wenig von dem sichern Auftreten Eleonorens beirren. Ja, der scharfe Menschenkenner hatte tief in. ihrer Seele gelesen und wen» er noch einen Augenblick an den An gaben des alten Clemens gezweifelt hätte, jetzt war er völlig über zeugt, daß der alte Mann die Wahrheit gesprochen. In den kalten,, grauen Augen dieser Frau las er zu deutlich eine unersättliche Rach sucht und um die dünnen, scharfen Lippen zuckte jene rücksichtslose Energie, die vor nichts zurückscheut. Eine frömmelnde Richtung hatte nur mit Mühe, den harte» grausame» Zug etwas verschleiert, der ihr ganzes Wese» kennzeichnete. In jedem ihrer Worte lag Berech nung und Wen» sie einmal dem Baron für feine Treulosigkeit hcim- zahlen gewollt; dann hatte sie Alles mit jener nüchternen Umsicht vorbereitet, und ausgeführt, die ihr «inen Erfolg und zu gleicher Zeit völlige Straflosigkeit sicherte. Der Baron hatte den Vertheidiger mit seiner ganzen Vergangen heit vertraut gemacht und deshalb fiel cs dem Letzteren noch beson ders auf, daß Eleonore über ihr früheres Verhältniß zu ihrem jetzigen Nachbar kein Wort verloren und stillschweigend darüber hin- wcggegangen war, in welche» Beziehungen sie einst zu ihm gestanden- Warum hatte sie sich überhaupt in der Nähe des BaronS an gesiedelt, wenn nicht i» der Absicht, damit die beste Gelegenheit zu: erhalten, sich an ihrem ehemaligen Verlobte» zu rächen?! Ohne Rücksicht auf das bedenkliche Kopsschütteln der VersaMM-- lang führte deshalb der Rechtsanwalt seiue Behauptung durch, daß; der Mörder zweifellos aus dem grünen Hause gekommen sei. Für ihn lag in der Erzählung des alten Clemens durchaus nichts Un-- wahrschcinliches oder Comüdienhaftes. Er suchte zu beweisen, wiee leicht cS sei, mittels einer Strickleiter von dem kleinen Hügel derc Nachbarbcsitzung in den Garten dcS Varons zu kommen. Eine der Damen konnte ja den alten Gürtner heobachtet haben, da sie, wir die ganze Dienerschaft bekundet, fortwährend ihren Wachtposten auf dem Hügel bezogen, um jeden Vorgang im Garten des Barons zm verfolgen. Wie leicht war da der Gedanke aufgetaucht, diese niemals wiederkehrende Gelegenheit zu benutzen und den schlimmsten Streich» gegen einen Mann zu führen, der von den Damen des grünen Hauses so furchtbar gehaßt wurde! — „Denn auch Fräulein Meltzer hat all» Ursache, oder glaubt wenigstens Ursache zu haben, den Varon v. Wermuth zu hassen," fuhr der Vertheidiger fort und er berichtete- mit kurzen Worten den Grund ihrer Feindschaft. Das blasse Antlitz des Barons färbte sich etwas dunkler bei der Erzählung des Anwalts. Wohl hatte er ihn dazu ermächtigt» um. alles zu versuchen, was in diese Angelegenheit Licht bringen konnte, aber jetzt bei der Schilderung des Ädvocaten fühlte er doch, daß. er besser gethan, seine Sache zu verschweigen, die ihm doch nicht zur Ehre gereichte. Er gab sich zwar das Ansehen, als werde er davon nicht gerührt, auch wußte der Anwalt sein damaliges Benehmen im die günstigste Beleuchtung zu rücken, trotzdem empfand er cür Unbe hagen, das ihn nicht inehr verließ. Zum Glück bekümmerte sich seine Gemahlin nicht weiter um dem Gang der Untersuchung. Sie war am Anfang vernomnreu worden,, zum heutigen Termin jedoch nicht erschienen, da der Arzt bei ihrer angegriffenen Gesundheit den Aufregungen einer solchen Schwur gerichtssitzung, das Schlimmste fürchtete. Deshalb blieben ihr auch, die Beziehungen völlig unbekannt, diezwischen ihrem Gemahl und de» Frauen im Grünen Hause bestanden. (Fortsetzmig folgt.)