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Aeilage Freitag den 5. November 1875. Spurlos. Novelle von Ludwig Habicht. Verfasser der Romane „Am Genfer See", „Schein und Sein". (Fortsetzung.) Der Graf glaubte an dem scharfen, durchdringenden Ton die Stimme zu erkennen, es war die Lubowsky's. Nein, er täuschte sich nicht, zu deutlich war ihm diese schneidende, starke Stimme in Erinner ung, die ihm stets ein Unbehagen erzeugt. Sein Todfeind war hier jedenfalls in Gefahr und einen Augen blick kämpfte sein Haß mit dem Edelmuth. Wenn er ihm nicht zu Hilfe eilte, dann war er gewiß verloren und er endlich von seinem Gegner befreit, dessen Heimtücke und Bosheit er genugsam kennen gelernt hatte. Wer wußte es, daß er einen Menschen in Stich ge lassen und wer konnte es ihm verargen, wenn er seinen gefährlichsten Gegner sich selber überließ: aber nur einen Augenblick schwankte er, dann rief er in athemloser Hast dem Kutscher zu: „Oeffne, öffne, ich muß ihm zu Hilfe kommen!" Die Gräfin schlang ihre Arme um ihren Gemahl und rief in höchster Verzweiflung: „Geh' nicht, Stefan, geh' nicht! Sie werden Dich auch ermorden. O bleib! Du darfst mich nicht verlassen", und in höchster Aufregung suchte sie ihn mit zärtlicher Gewalt zurückzuhalten. Der Kutscher hatte schon angehalten, und war vom Dock ge sprungen. „Bleiben Sie nur, Herr Graf, ich werde schon mit den Schurken allein fertig werden", und August schwang dabei seine Peitsche. Der kecke Bursche hatte in seinem jugendlichen Ucbermuth keine Ahnung von der Gefahr, die er lief. Nun durfte der Graf erst recht nicht zögern. Er griff nach seinem Dolch inner der Brust, den er stets bei sich trug, der einzigen Waffe, die ihm zur Verfügung stand, und sich aus der Umarmung seiner verzweifelten Gattin losmachend, rief er s ihr zu: „Beruhige Dich, Kind, ich bin in wenigen Augenblicken wieder hier." Er hatte schon die Wageuthür aufgedrückt und sprang hinaus. Die Gräfin streckte noch einmal verzweifelnd die Arme aus, als könne sie ihn festhalten, stieß einen wilden Angstschrei aus und brach ohnmächtig zusammen. Eine Militärpatrouille bemerkte am Ende der Straße de la Paix im unsichcrn Scheine einer spärlich brennenden Laterne zwei Menschen die lang ausgestreckt am Boden lagen. Der Wache führende junge Officier glaubte, daß es Nachtschwärmer seien, die ihren Rausch aus schlafen wollten und befahl einem seiner Leute hinzugehen, und die Trunkenbolde zur Entfernung aufzufordern und schlimmsten Falls ste zu arretiren. Kaum war der Mann näher getreten, da rief er in seinem ehrlichen Gaskognisch ganz erschrocken: „Herr Lieutenant, ich kann die wunderlichen Kerle nicht arretiren, sie sind todt." Der junge Officier eilte jetzt mit seinen übrigen Leuten eben falls zur Stelle und übersah mit raschem Vlick die nächtlichen Schauer scene. Ein stattlicher, kräftiger Mann in der Maskenklcidung eines Spaniers lag todtenbleich, aus mehren Wunden blutend am Boden, während ein Anderer, im Domino, völlig bewußtlos niit seinem Kopf auf dem Leibe des Ersteren ruhte. Ein blutiger Dolch und die Scheide eines Ceremoniedegens, wie er bei Maskenbällen üblich ist, lag da neben. Das Heft davon war nirgends zu sehen. Als der Lieutenant den Kopf des Domino erhob, um zu sehen ob dieser ebenfalls getödtet worden, schlug der Mann, wie aus einer schweren Beteubung erwachend, die Augen auf. Er starrte anfangs den jungen Officier wie eine Geistescrscheinung an, endlich schien seine Besinnung zurückzukehren, mit dem Aufwand aller Kräfte raffte er sich empor, taumelte aber wie ein Betrunkener und mußte sich gegen den nächsten Thorweg stützen. „Mein Herr, verzeihen Sie, daß ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen muß," wandte er sich zu dem Lieutenant, aber wollen Sie die Güte haben, mich zu meinem Wagen zu führen, meine Gemahlin wird mich mit Schmerzen erwarten." Anstatt seiner Bitte sofort zu willfahren, fragte der junge Offi cier mit verzeihlicher Neugier: „Was ist hier geschehen? Klären Sie mich auf." „Wo ist der Wagen?" rief der Domino, der gar nicht erst die Frage des Lieutenants beachtete: „August!" versuchte er mit An strengung aller Kräfte in die Nacht hinauszurufen, aber es erfolgte keine Antwort. „Wir haben in der ganzen Straße keinen Wagen bemerkt", sagte der junge Officier, dem das Benehmen des Domino's immer ver dächtiger vorkam. „Nicht?" rief der Andere ganz erschrocken. „O ich bitte Sie, lassen Sie Ihre Leute darnach forschen, er muß ja in der Nähe sein, meine arme Gemahlin ist gewiß über mein langes Ausbleiben in Ver zweiflung." „Ich werde Ihren Wunsch erfüllen, aber sagen Sie mir nur erst was hier vorgefallen'" Der Mann im Domino strich sich über die Stirn. „Ich bin noch ganz betäubt von dem fürchterlichen Schlag", sagte er mit unsicherer Stimme. „Ich war mit meiner Frau auf dem Opernball gewesen und suhr eben nach Hause; da hörte ich ein Hilfegeschrei, ich wußte, von wem eS kam und wollte dem Manne zu Hilfe eilen, der von Mördern angegriffen wurde und noch eh' ich von meinem Dolche Gebrauch machen konnte, erhielt ich einen Schlag vor den Kopf und verlor das Bewußtsein." „Und mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?" „Graf Gyula", erklärte dieser kurz; „aber wo ist der Wagen?" rief er wieder in höchster Unruhe und er machte Miene, ihn selbst auszusuchen, obwohl er bei den nächsten Schritten wieder zu taumeln begann. „Ich muß Sie bitten, Herr Graf, sich nicht weiter zu entfernen", erklärte der Lieutenant, „ich werde selbst alle Anstalten treffen, den Wagen zu ermitteln." War der Graf noch immer nicht völlig Herr seiner Sinne oder zu erschöpft, um einen Widerspruch zu erheben, er lehnte sich wieder an den Thorweg und verharrte eine ganze Zeit regungslos in dieser Stellung. Der Officier richtete an einige seiner Leute mit leiser Stimme einen Befehl und wandte seine Aufmerksamkeit dem ersten Verwundeten zu, der augenscheinlich im Begriff war, seinen letzten Seufzer auszu- athmen, obwohl seine Besinnung zurückgekchrt schien, denn er hatte die Augen halb geöffnet. Als man versuchte, ihn aufzuheben, stöhnte er vor Schmerz und machte eine abwehrende Handbewegung, als wolle er sagen: „Laßt mich in Ruhe sterben, mit mir ist es aus." Auch dem Lieutenant war es nicht zweifelhaft, daß hier alle , ärztliche Hilfe vergeblich sei; aber vielleicht vermochte der Sterbende noch diese dunkle That aufzuhellen und über seinen Mördrr Aufschluß zu geben. Der junge Mann beugte sich deshalb zu ihm herab und versuchte den zitternden Lippen des Schwerverwuudetcu das finstere Geheimniß abzulocken. Auf alle seine Fragen erhielt er keine Ant wort, nicht einmal das kleinste Zeichen von Bewegung war in dem bleichen Antlitz des Barons zu erkennen, daß er die Fragen verstanden hatte. Da schoß dem Officier ein Gedanke durch den Kopf. Wenn er den Grafen, dessen ganzes Benehmen ihni höchst verdächtig vvrkam, dem Ermordeten gegenüber stellte? — Er bat höflich, aber mit großer Bestimmtheit, den Grasen, näher zu treten und dieser erfüllte beinahe mechanisch seinen Wunsch. Fühlte der Sterbende die unmittelbare Nähe seines Gegners oder erwachten im Moment des Todes noch einmal seine Lebensgeister? Kaum stand der Graf vor ihm, da richtete sich Lubowsky mit einer gewaltigen Anstrengung in die Höhe und auf die rasche Frage des Lieutenants: „Wer?" zuckte ein dämonisches Lächeln über sein von Schmerz und Haß verzerrtes Antlitz; er richtete den Finger auf den Grafen: „Dort, Gyula!" fiel mit dem Kopfe zurück, und mit diesen Worten auf den Lippen hatte er seine Seele ausgeathmet. „Herr Graf, Sie sind mein Gefangener," wandte sich der Lieute nant zu Gyula und gab seinen Leuten, die mit großer Aufmerksam keit der Scene beigewohnt, einen verständnißvollen Wink. Jetzt erst schien Gyula seine volle Besinnung wieder zu erhalten. Er trat einen Schritt zurück. „Mein Herr, was fällt Ihnen ein?" rief er in sichtlicher Empörung. „Sie können mir nicht diese Schmach > anthun. Ich bin jederzeit bereit über meine Handlungen Rechenschaft zu geben." „Nach dem Bckenntniß des Todten hoffe ich, daß Sie keinen Widerstand leisten werden. „Er war mein erbittertster Feind und hat noch im Tode mich mit seinem heimtückischen Haß vernichten wollen." Der Lieutenant zuckte die Achseln. „Das ist Sache des Gerichts Ich habe nur die Aufgabe, Sie gefangen zu nehmen und ich hoffe —" „Nein, ich kann Ihnen nicht folgen", brauste Gyula auf. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich'mich morgen freiwillig dem Ge richte stellen werde, nur jetzt lassen Sie mich fort, damit ich meine Gemahlin aufsuchcn kann." Da der Führer der Patrouille hierauf nicht eingehen konnte, sondern seinen Leuten ein Zeichen gab, so gerieth der Graf in eine förmliche Raserei, als die Soldaten auf ihn eindrangen, er schrie immer wieder, daß man ihm soviel Zeit gewähren möge, um seine Gattin aufzusuchen und die Soldaten vermochten nnr nach einer tüchtigen Gegenwehr ihn zu sesseln. Als er endlich sah, daß all'sein Widerstand gegen diese rohe Gewalt doch vergeblich sei, ergab er sich mit finsterem Groll in sein Schicksal. Auf die Frage des Lieutenants ob der ausgefundene Dolch ihm gehöre, nickte er nur mit dem Kopfe, er sprach kein Wort weiter und ließ alles mit sich geschehen. — Eine halbe Stunde später saß er im Gcfängniß. Im Faubourg St. Germain herrschte am andern Morgen eine tiefe Stille. Dies vornehme Viertel der französischen Hauptstadt