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Tagesgeschichte. Es wird viel darüber geklagt, daß das Versicherungswesen in seinem gegenwärtigen Zustande noch sehr im Argen liegt, weil es sich, nicht bei den Vertragsabschlüffen oder bei jahrelanger Zahlung von Prämiengcldern, wohl aber dann, wenn die Entschädigungspflicht der betr. Versicherungsgesellschaft cinzutreten hat, zum Nachtheil des Versicherten oft noch um Schwierigkeiten handelt, an die er vorher auch nicht im Traume gedacht hat. Gelingt es ihm nicht, dieselben noch in letzter Stunde zu beseitigen, was in vielen Fällen ein Ding der Unmöglichkeit ist, so muß er sich mit einer sog. gütlichen Abfindung begnügen, wo er sür sein gutes Geld das Recht auf volle Entschädigung erkauft zu haben meinte. Weder die Concurrenz verschiedener Gesell schaften, noch die Gesellschaften, noch die Gesetzgebung der einzelnen Staaten haben in der Thal die beruhigende Sicherheit herbeigeführt, welche der Natur der Sache nach die Folge abgeschlossener Ver sicherungsverträge sein sollte. Wir glauben daher die in der Petitions commission des "Reichstages von einem Regierungscommiffar abge gebene Erklärung als eine frohe Botschaft bezeichnen zu dürfen, daß in der nächsten Session des Reichstags die Vorlage eines umfassenden Neichsgefetzes über das Versicherungswesen sicher zu erwarten ist. Bei der Wichtigkeit und Reichhaltigkeit des Gegenstandes wird es dann an ergänzenden Beiträgen aus allen Theilen des Reichs nicht fehlen. Bremen, 20. Januar. Die Auswanderung nach Amerika hat im Jahre 1874 nur eine geringe Ziffer erreicht; es sind ungefähr 30,000 Emigranten über hier befördert, gegen circa 63,000 Personen im Jahre 1873. — Obgleich es noch zu früh in der Jahreszeit ist, um ein bestimmtes Urtheil abgeben zu können, so unterliegt cs jetzt schon keinem Zweifel, daß die diesjährige Auswanderung nur eine schwache sein wird. — Die aus Amerika einlaufenden Berichte lauten so überaus trostlos und aller geschäftlicher Verkehr liegt so hoffnungs los darnieder, daß Tausende nach der alten Welt zurückkehren würden, wenn sie nur die Mittel zur Rückreise auftreiben könnten. In Spanien hängt der Himmel voller Geigen. Die Dinge nehmen einen für Alfonso günstigen Verlauf. Infolge des aller gnädigsten Amncstieversprcchens gehen die carlistischen Offiziere zahl reich zum Sohn der Isabella über. Wie von Madrid, so hat sich der König nunmehr auch von der alten stolzen Saragossa huldigen lassen. Auch dort ist natürlich wieder viel in „Enthusiasmus" ge macht worden, und die siebzehnjährige Majestät hat vom hohen Roß herab mit „väterlicher Rührung" die Liebeszeichen der treuen Landes- -kinder entgegengcnommen. „A bifferl Lieb' Und a bifferl G'schrei Und a bifferl Falschheit Js allweil' dabei." Kann wohl ein Königthum, das wie eine Maskerade über Nacht inscenirt worden ist, auf festen Füßen stehen? Das ist sehr die Frage. Das aber steht fest, die Republik ist todt, mausctodt, und sie ist begraben worden, wie man die Opfer einer Epidemie verscharrt, in Hast, in trockener Geschäftigkeit, ohne Sang und Klang. Und Niemand ist im Grunde darüber erstaunt oder betrübt. Die vielen Fehler der Führer der Revolution von 1868, die Furcht vor einem fortdauernden Provisiorium, der Staatsstreich Serrano's und seine Unfähigkeit, dem Lande die ersehnte Ruhe wieder zu geben, hatten diese Republik längst um allen Credit gebracht. Die allgemein in der Bevölkerung wie im Heere verbreitete Sehnsucht nach Ruhe und Frieden hat mächtig dazu beigetragen, daß das Land mit so über wältigender Majorität sich dem Königthum in die Arme wirst. Man fängt wieder an zu hoffen und beredet sich, es könne noch Alles gut werden. Und in der That könnte die Negierung des jungen Königs eine dauernde und segensreiche werden — wenn es ihm gelänge, sich mit wahrhaft liberalen und tüchtigen Rathgebern zu umgeben und sich der Einflüsterungen und Jntriguen seiner pfäffisch und absolu tistisch gesinnten Familie zu entziehen. Den Bonapartisten in Frankreich schwillt der Kamm. Was die Partei des jungen Königs Alfons in Spanien fertig gebracht, das glauben sie auch für den kaiserlichen Prinzen zu Stande zu bringen, und es läßt sich nicht verkennen, daß die gegenwärtigen französischen, Zustände, die allgemeine Ermüdung des Landes und der Ueberdruß an den endlosen Verhandlungen in Versailles, ihren Plänen mächtigen Vorsckub leisten würden, wenn diese mit Kraft und Entschlossenheit ins Werk gesetzt werden. Schon heißt es: „In drei Monaten wird der kaiserliche Prinz in Paris sein"; man spricht von einem Cvmplot im Heere zur Proclamirung des Kaiserreichs, von der Abncht Mac Mahons, seine Entlastung zu nehmen, um einer bonapartistischen Be sitzergreifung den Weg zu ebnen. Sicher ist, daß geschäftige Hände bereits eine rettende That in der Stille vorbercile» und daß die gegen wärtige Negierung, wenn sie die letzte Stunde des Sepiennats erleben Will, gar keine Zeit zu verlieren hat, den Vorkämpfern der napoleo nischen Dynastie einen tüchtigen Dämpfer aufzusetzen. Die Geschenke, welche der Papst von Weihnachten 1874 bis zum Neujahrsfeste 1875 allein in Parem Gclde erhalten hat, sollen sich auf 7 Millionen Lire» belaufen. Nebeirbci wanderten noch eine Menge anderer Geschenke in den Vatican zum Beweise, daß das Reich des Papstes nicht von dieser Welt ist. Eine von 160 französischen, italienischen, spanischen, deutschen, österreichischen, belgischen und holländischen Bischöfen und Von mehr als 3 Millionen Priestern und Laien unterzeichnete Bittschrift, 2 welche vor wenigen Tagen überreicht wurde, bestürmt den Papst, die katholische Kirche dem heiligen Herzen Jesu zu weihen. Wenn man nur wüßte, was das eigentlich heißen soll und zu bedeuten hat. Oertliche und sächsische Angelegenheiten. Die Liste der Dresdner Bürger, welche für dies Jahr bei der Stadtverordnetenwahl stimmberechtigt, bez. wählbar sind, erreicht die stattliche Ziffer von 11,596 Nummern. Meißen. Wie das „M. Tgbl." hört, ist die Errichtung einer Realschule II. Ordnung, welche in den unteren Elasten zugleich Pro gymnasium bilden soll, vom Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts für die Stadt Meißen genehmigt und dazu vor der Hand eine Staatsbeihülfe von 1500 Mark jährlich verwilligt worden. Die Stadt Stolpen, welche die revidirte Städeordnung ange nommen hatte, hak neuerdings ihre Verfassung wieder geändert und die Städteordnung für mittlere und kleine Städte, welche für ihre Verhältnisse besser geeignet ist, angenommen. Freiberg. Im Hospilatwalde wurde am 20. Januar der Zimmergeselle A. aus Freibergsdorf erhängt aufgefunden, in der Zeit von einigen Tagen der zweite Fall von Selbstmord. Olbernhau, 20. Januar. Gestern Nachmittag gingen bei heftigem Wiuds^die sÄmmtlichen Gebäude des Gutsbesitzers Kröh nert in Pilsdorf-bei Saida in Flammen auf. Leider verbrannten 20 Kühe und 5 Schweine mit. Die Entstehungsursache ist zur Zeit unbekannt. Das Feuer soll auf dem Heuboden ausgekommen sein. In Zwickau haben sich am 13. d. auf der Reichenbacher Straße zwei Fuhrknechte, von denen jeder einen mit Roheis beladenen Wagen leitete, dermaßen gegen einander erzürnt, daß der eine, Friedrich Dcisinger aus Schneeberg, den anderen, Jahann Künzel aus Hcdt- witz, mit solcher Kraft vor die Brust stieß, daß dieser aus den Rücken stürzte und ihm in Folge dessen fein eigenes Geschirr über die Brust hinwegging. Der arme Mensch starb noch an demselben Abend. Deisinger ist inhaftirt worden. Forst. Ein Act der widerlichsten Rohheit erhielt kürzlich seine gerechte Strafe. Ein hiesiger Bäckergesell Halle eine Maus gefangen, dieselbe mit Petroleum bestrichen, angezündct und dann seine Augen weide an dem qualvollen Tode des armen Thierchens gehabt. Der Thäter wurde zu vierzehn Tagen Gefängniß verurtheilt. In Crimmitschau ist am 17. Januar ein hier in Arbeit steh ender Eisengießer wegen einer während des Tanzes im Deutschen Hause mit seiner Geliebten stattgehabten Differenz, um seinem Leben etn Ende zu machen, in den in der Nähe befindlichen Mühlgrabm gesprungen. Glücklicherweise wurde derselbe jedoch durch den "schnell herbeigeeilten Wirth noch lebend wieder herausgezvgen. In Kirchberg wurde am 14. Januar in der Zeidler'schen Fabrik ein 72jähriger Arbeiter, Leistner, beim Auflegen eines Riemens von der Riemenscheibenschraube erfaßt und dreimal um die Trans- missionswelle geschleudert. Der Tod deZ Verunglückten erfolgte kurz darauf. Ierrathen und Ferloreu. Criminal-Novelle von Ludwig Habicht. 1. Die Jagdpartie. Weithin der gastfreieste von allen Gutsbesitzern war der alte Najowitz von Kleinfurra. Darum besuchten seine Jagden und Feste die vornehmen Herren aus den Städtchen der Umgegend auch lieber und vollzähliger als die aller übrigen Besitzer. Und obwohl „der Alte" nicht gerade im besten Rufe stand, als sehr grob bekannt und gefürchtet war, ließ sich doch gewiß Niemand, dem eine Einladung zu Theil geworden, von dem Besuche in Kleinfurra zurückhaltcn. Was wurde dort den Gästen aber auch geboten! Der Eichen-, Buchen- und Kiefernforst des Gutes war das ausgedehnteste und zu gleich wildreichste Revier weit und breit; Rajowitz' Jäger galten als die crfahrendsten und gewandtesten von Allen und sein Weinkeller als der reichhaltigste, seine Tafel als die leckerste, die man sich denken konnte. — Dazu gings stets lustig und guter Dinge her, und heilere Ungcbundenheit, ja, ausgelassener Jubel waren dort an der Tages ordnung. Und Rajowitz' Unterhaltung in ihrer derben, ja über- mülhigen, zuweilen sogar witzigen Weise war allgemein beliebt. Man sah ihm al» freigebigen Wirth Vieles nach und nahm noch immer als „harmlosen Scherz" auf, was schon diese Grenze weil überschritt. Gebildete Damen durften im Winter freilich längst nicht mehr den glänzenden Festen auf Kleinfurra beiwohnen; was machte es dagegen für die Herren aus, wenn der alte in seiner tollen Laune, während der Champagner knallte oder eine delicate Seltenheit scrvirt wurde, weder den Landrichter, noch de» Bürgermeister und die hochadelichen Gutsbesitzer schonte, sie alle gründlich aufzog und sie in heiterer Wcin- laune erbärmliche Tintenklecks er, Esel oder Dummköpfe nannte; oder wenn es, nachdem Austern und Caviar, Teltower Rübchen und west fälischer Schinken — und andere Seltenheiten wiederum in einer starken Auflage gründlich verspeist waren, dann auf einmal in seinem norddeutschen Platt hieß: „Nu hast Ji Juch satt frälen und voll supcn, nu könnt Ji nach Hus moaken." Man sand darin nichts weiter, als einen übersprudelnden Humor — und lachte darüber eben so herzlich, wie über all' die andern derben Scherze und Witze des unverwüstlichen Alten; und ohne im Geringsteil diese mehr als unhöfliche Verabschiedung übel zu nehmen,