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fahrenheit und gesunkene Moralität mit offenem Unsinn und verdeckter Leidenschaft um die Wette Hausen; geht in die Oberstubcn unseres Mittel standes und findet da dasselbe, nur gemischt zu gleich mit Neid über die Aristocratie und Koketterie mit ihr; und endlich erblickt diese Aristocratie selbst, mit welcher Angst und Leidenschaft sie sich an da§ Bischen Acußere halt, von dem sie wohl weiß, daß es noch ihre einzige Stütze ist. Und denkt nicht, daß unsere Verwaltung, unsere Justiz, un sere Finanzen, unsere Verfassung selbst das Ge präge eines großen Volkes tragen. O, weit ge fehlt! Die dritte Verordnung ist vielleicht ein Fehler, die dritte Entscheidung häufig eine Unge rechtigkeit, unsere Finanzen stehen blühend, aber zum Abfallen, unsere Verfassung, ein wenig anders erklärt, ein wenig anders gehalten und Niemand freut sich ihrer. Wenn wir aber bei allen diesen Mängeln im Einzelnen, bei allen diesen zugestandenen Fehlern doch sagen: das Volk, das sächsische, das deutsche ist groß und herrlich! worin liegt das, wie erklärt sich das? Wir erweisen es mit einem Citat aus Immer mann. Einem Citat glaubt der Deutsche, der ja selbst den Teufel citirte, mehr, als Allem, und na mentlich mehr, als einem zerstreuten räsonnirenden Gedanken. „Das unsterbliche Volk! rief der Diaconus.*) Ja, dieser Ausdruck besagt das Richtige. Ich ver sichere Ihnen, mir wird allemal groß zu Muthe, wenn ich der unabschwächbaren Erinnerungskraft, der nicht zu verwüstenden Gutmüthigkeit und des geburtenreichcn Vermögens denke, wodurch unser Volk sich von jeher erhalten und hergestellt hat. Rede ich aber von dem Volke in dieser Beziehung, so meine ich damit die Besten unter den freien Bürgern und den ehrwürdigen, thätigen, wissenden, arbeitsamen Mittelstand. Diese also meine ich, und Niemand anders vor der Hand. Aus ihnen aber und aus dieser ganzen Masse haucht es mich wie der Duft der aufgcrissencn schwarzen Acker scholle im Frühling an, und ich empfinde die Hoff nung ewigen Keimens, Wachsens, Gedeihens aus dem dunkeln, segenbrütenden Schooße. Ja, ihm gebührt sich immer neu der wahre Ruhm, die Macht und die Herrlichkeit der Nation, die cs ja nur ist durch ihre Sirte, durch den Hort ihres Gedankens und ihrer Kunst, und dann durch den sprungweise hcrvortretenden Heldenmuth, wenn die Dinge einmal wieder an den abschüssigen Rand des Verderbens getrieben worden sind. Dieses Volk findet, wie ein Wunderkind, beständig Perlen und Edelsteine, aber es achtet ihrer nicht, sondern ver bleibt bei seiner genügsamen Armuth, dieses Volk ist ein Niese, welcher an dem seidenen Fädchen eines guten Wortes sich leiten läßt, es ist tiefsin nig, unschuldig, treu, tapfer, und hat alle diese Tugenden sich bewahrt unter Umständen, welche andere Völker oberflächlich, frech, treulos, feige gemacht haben." Und es ist etwas Großes, etwas Herrliches um unser Volk; es ist aber damit, wie mit aller menschlicher Herrlichkeit. Neben dem Gro ßen liegt das Kleine, neben dem Kräftigen das Gebrechliche, neben dem Neichen das Armselige und Dürftige, neben dem Erhabenen und Hohen das Lächerliche und Erbärmliche. Ja, eben darum, weil Alles bei einander liegt, weil die Gegensätze in Eins zusammenschmelzen, eben darum wird c§ erst recht hoch, herrlich und erhaben. Keine Er rungenschaft ohne Kampf, keine Größe ohne Lei denschaft. Der Deutsche, mit seinen Tugenden, Lastern und Fehlern, seinem Glück und Unglück, seiner Schuld und seinem Nerhängniß, der ganze Kerl,wie er allenthalben leibt und lebt, ist hochachtbar, ur kräftig und unsterblich! Man sehe nur, um Bei spiele aus dem Leben zu geben, neben jener Phi- listerhaftigkeit, wie sie unbestreitbar in unserer Na tion liegt, man sehe nur, wie sich nach und nach der Geist der Freiheit eingräbt, einschlcicht, cin- schmeichelt im Volke, man weiß nicht, woher. Wir denken, das komme daher, weil der Kern gut ist. Man sehe, wie selbst aus der ärmsten Hütte Gut müthigkeit und Offenheit und Redlichkeit und Muth noch nicht ganz verschwunden sind: man lerne diesen Mittelstand kennen und sehe, welche Masse von Bildung und Wissen in ihm versteckt ist, man sehe die ehrenvolle Rührigkeit und Klugheit, mit denen er die Bedürfnisse eines modernen, gastfreien Hausstandes schafft und bewahrt; man verkenne nicht, mit welchem nationalen Anstand unsere Ari stocratie sich in die Zeit zu schicken weiß, man sehe neben dem schmutzigen Egoismus Einzelner die Erfolge der Sammlungen für öffentliche Zwecke; neben jener provinziellen Zerissenhcit den schnellen Aufbau der Eisenbahnen; man höre neben jenem Servilismus, die Männerworte der badischen Kam mer; man höre neben jener weichlichen Entmuthi- gung, welche an der Zukunft müßig verzweifelt, den Donner des Geschützes in einigen Provinzen Deutschlands; man sehe endlich neben jenem Elend der Verzweiflung die offene Freude und Bieder herzigkeit, mit welcher ein Volksstamm, der nicht laut zu schmeicheln pflegt, dessen gelesenere Blät ter eben so, wie ein Theil seiner Stände kühn und offen sich zur Opposition bekennen, man sehe, sagen wir, wie dieser rührige, nicht überglückliche, aber im Allgemeinen zufriedene und biedere Volkse stamm seinen Regenten empfängt, weil er würdig ist, es zu sein; und man sehe und vertraue der Zukunft. (Adorfer Wochenblatt.) ) Juimermann's Münchhausen: Erster LH., E. 2SS.