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Donnerstag, den 7. August 1902 Beilage zu Nr. 91 (Nachdruck verboten.) IV. (Schluß.) Kindersterblichkeit Von Or. msä. H. Nossen. Auf vor der Gin Verhängnis. Originalroman von Ifans MAMAseN- Krämpfe. „ Der größte Schrecken der Eltern sind die Krämpfe der Kinder, die meistens das erste mal ganz plötzlich und unerwartet eintreten, und zwar meistwährend des Schlafes. Ein Wimmern und Stöhnen des Kindes weckt die Mutter, und wenn sie nach dem Kleinen sieht, bietet sich ihr ein erschreckendes Bild. Das Kind verdreht die Augen, die Gesichtszüge sind verzerrt, Arme und Beine Zucken, das Körperchen wird erst hin- und hergeschleudert, bis es zu letzt starr daliegt und nur das Zucken der Lippen den Schaum vor dem Munde anhäuft. In der Regel erfolgt am Ende eines solchen Krampfanfalles Erbrechen oder Abgang von grünlichem Stuhlgange mit vielen Winden. Ein solcher böser Anfall dauert oft zehn Minuten und kehrt nicht wieder. Manchmal aber wiederholt er sich mehrere Male nach kurzen Ruhepausen. Bisweilen kün digen sich Krämpfe schon mehrere Tage vor ihrem Aus bruch an. Die Kinder sind dann verdrießlich, sehr reizbar, wechseln oft die Farbe, sehen blasser aus als gewöhnlich und bekommen ein gedunsenes Gesicht. Bemerkt man diese Vorboten, so verhindert man den Ausbruch der Krämpfe oft, indem man zeitig den Arzt ruft. Dauert ein Krampf ohne Unterbrechung bis zu seiner Beendigung fort, so nennt man ihn tonisch: tritt er aber in Intervallen, also stoßweise auf, so nennt man ihn klo nisch oder konvulsiv. Zu den letzteren gehören die Krämpfe der Kinder, daher man sie auch Konvulsionen, Zuckungen oder Schäuerchcn nennt. Nicht nur im Schlaf, auch bei Tage, beim Spiel, können diese Konvulsionen bei den Kleine» sich einstellen. Krämpfe sind stets eine Erscheinung, welche die Eltern besorgt um die Gesundheit ihres Kindes machen müssen. Es liegen denselben die verschiedenartigsten Ur sachen zu Grunde, als Reizbarkeit des Nervensystems, heftige Schmerzen, Krankheiten des Kopfes, der Luftröhre oder des Verdauungsapparates. Am meisten werden die Kinder von Krämpfen heimgesucht, deren Mütter selbst zu Krampfanfällen neigen. L» Verzärtelung, Verweichlichung und Diätfehler sind die häufigsten Ursachen dieses Leidens. Der Arzt aber findet Nicht selten eine schwierige Aufgabe, wenn er den Grund der Krämpfe bestimmen soll; und doch ist dieses unbedingt nothwendig zur Heilung und Verhütung derselben. Um so mehr müssen die Eltern sich hüten, mit angeprie senen Universalheilmitteln eingreisen zu wollen. Es giebt überhaupt keine Universalheilmilte!, am allerwenigsten gegen Leiden, die an sich gar keine Krankheit sind, sondern nur die Begleiterscheinungen anderer Krankheiten, wie es bei den Krämpfen auch der Fall ist. Bevor der Arzt da ist, können lauwarme Bäder, Einreibungen des Leibes mit Oel, Klystiere von Kamillen thee angewandt werden, die in den meisten Fällen allein schon helfen. -« Ein Aberglaube ist es, daß. um» Kinder während der Krämpfe nicht anfassen oder anheHU dürfe, weil sie sonst steife oder krumme Glieder bckäimn Man bringe das 1. dem Balkon der Brmkmann'schen Villa draußen ein frühzeitiges Ende bereitet. Zum Schluß nochmals die Mahnung: „Wer gesunde Kinder haben will, muß selbst gesund sein. Nichts erbt sich in unserer Zeit so verhäng nißvoll und häufig fort, wie die sogenannten Entbehrungs krankheiten, Skrofeln, Bleichsucht, Nervenschwäche und Schwindsucht." i von Krämpfen erfaßte Kind nur ruhig in ein warmes I Bad und reibe sanft den Leib, es verliert dadurch sicher nicht seine geraden oder gelenkigen Glieder. Hat man nicht schnell genug ein warmes Bad zur Hand, so lüfte mau den Kleinen wenigstens sofort Windeln oder Kleider. Ist der Blutandrang zum Kopfe sehr stark, so daß das Gesicht roth und gedunsen aussteht, die Lippen sich bläu lich färben, so sind kalte, wenn möglich eiskalte Umschläge auf Stirn und Kopf angebracht. Tritt unter tiefem Einathmen fester Schlaf ein, so ist die Lebensgefahr überwunden. Da es schwer ist, die Ursache der Krämpfe genau und bestimmt festzustellen, so arbeite man auf eine allge meine Stärkung des Organismus hin. Dabei verfahre man aber höchst vorsichtig. Man hält gewöhnlich jene Kinder für schwach, die eine lymphatische Konstitution haben, das heißt eine feine weiße Haut mit blauen durch scheinenden Adern, dünne zarte Muskeln nnd geringe Fett ablagerung haben. Allerdings haben jene Kinder schwache Muskeln und kein zu eisenhaltiges Blut, aber bei ihnen ist meistens ein wichtiges Organ übermäßig entwickelt, das ist das Gehirn. Es ist die Regel, daß solche schwache, lymphatische Kinder einen starken Kopf haben, keinen so genannten Wasserkopf, sondern einen gesund entwickelten Verstandssitz. Um solchen lymphatischen Kindern kräftige Muskeln, ein gesundes Aussehen zu verleihen, wird ihnen oft von übersorgten Eltern zu kräftige Nahrung, ja früh selbst Wein und Bier gereicht. Das ist eine höchst ge fährliche Sache. Wenn das Sprichwort schon sagt: „Kluge Kinder werden nicht alt," so drückt das Wort damit richtig die Häufigkeit und Gefahr der Gehirnerkrankungen bei solchen Kindern aus. Diese Gefahr aber verdoppeln jene Eltern, welche solche Kinder mit Gewalt stark und gesund machen wollen und dabei, in gutem Glauben aller dings, die gefährlichsten Mittel anwenden. Bei solchen Kindern ist Fleischkost und spirituoses Getränk nicht ange bracht, sondern mehr Pflanzenkost und reizlose Nahrung. Es giebt allerdings eine Art von lymphatischer Körper beschaffenheit, wo es umgekehrt ist, das ist bei jenen lym phatischen Kindern der Fall, welche nicht leicht reizbar, welche dumm und langsam sind. Will man für die reizbaren und klugen lymphatischen Kinder den richtigen Weg zur Abhärtung und Stählung einschlagen, so schicke man sie recht oft und sehr lange in die frische Luft und in den Sonnenschein; dort lasse man sie in frühester Zeit herumtragen, später herumlaufen und spielen. Frische Luft, Sonnenlicht und körperliche Arbeit sind und bleiben stets die besten Hebel der Gesundheit und Körperkraft. Darum sind die Landleute auch so kräftig und die Fabrikarbeiter so schmächtig, trotzdem die ersteren oft wochenlang kein Fleisch zu essen und kein Bier oder Wein zu trinken bekommen, während dem groß städtischen Fabrikarbeiter es nicht an dergleichen Nahrungs mitteln fehlt. Die reizbar-lymphatischen Konstitutionen werden in der Regel alt, trotz ihrer schwachen Körperbeschaffenheit. Das liegt darin begründet, daß diese Konstitution sich zu einem enthaltsamen, soliden Leben zwingt. Diese Enthalt samkeit, diese aufgezwungene Diät aber lohnt sich durch ein langes oft segensreiches Leben, während manche starke Konstitution sich durch Unmäßigkeit und Ueberanstrengung Stadt laßen zwei jugendliche Gestalten mit frohen gespannten Gesichtern, einen Blumenstrauß in der Hand, zuweilen durch die Fenster neben der Balkonthür einen Blick rückwärts in das Familienzimmer werfend, in welchem der große Tisch, festlich mit Blumen geschmückt und großen Torten bedeckt, der gewohnten Frühstücksgäste harrte. Zu ihren Füßen lag der sorgsältig gepflegte Garten, pon welchem der Gärtner in seinen Sonntagksleidern zuweilen einen fragenden Blick zu den Beiden herauf warf. Trüben vor ilmen erhob sich in kurzer Entfernung die Brinkmann'sche chemische Fabrik mit hohen Schloten, die ihre braunen, vom Winde bewegten Rauchsäulen zum Morgenhimmel hinaus sandten, an dem sich kein Wölkchen zeigte. , Wie laug' er beute bleibt!" rief Fränzchen, ein frisches, ausblühendes Mädchen von kaum siebzehn Jahren, mit von Juaendlust glänzenden braunen Augen und gewelltem Haar von der Farbe der Kastanie, in weißem Mullkleide mit Nosa- rinsassung und Schleifen. Ihr wurde das Bouquet schon so schwer in der Hand; sie blickte ungeduldig zum Bruder hinüber aus die andere Seite der Balkonthür, der in strammer Ulanen-Unisorm dafaß. „Weißt ja, der Papa erscheint an seinem Geburtstag schon früh in Gala!" Robert hat sich's niit dem Bouquet bequem gemacht, es zwischen seine Knie gesteckt. „Die Deputation der Arbeiter kommt ja schon Vormittag, und dann kommen die Geschäftsfreunde! Ich drücke mich heute bald, muß in die Kaserne zurück; habe nur für den Nach- miuag Urlaub erhalten. Dieser Frühjahrs dienst ist schauder haft," Robert Brinkmann, Avantageur in einem Ulanen-Regimcnt, saß in der That schon wie auf Kohlen. Sein Pferd stand seitwärts im Hose angebunden; er hörte, wie es, ebenfalls ungeduldig, das Pflaster schlug und zuweilen ein Wiehern ausstieß. „Mein Fritz weiß nicht, daß das Gratulieren, zum Familien dienst gehört. Aber ich habe noch nicht gefrühstückt! Der Papa könnte doch kommen! Tu hast Dir heute Backfische eingeladen, die den Kucken verzehren sollen; laßt mir nur was übrig. Vor vier Uhr komm' ich nicht wieder!" Er warf einen sehnsüchtigen Seitenblick ins Zimmer auf den Frühstückstisch. „Wenn Du kommst, wehe den armen Torten! Aber es sind heute ein halbes Dutzend gekommen!" Fränzchen klopfte in ihrer Ungeduld mit den Füßchen auf den Boden und führte das Bouquet an das hübsche Näschen. „Der Papa hat vielleicht wieder eine schlechte Nacht gehabt. Er leidet jetzt recht ost; Du siehst das nicht!" setze sie ernst hinzu. „Ich muß ibm heute auch noch mit Geld kommen!" Auch Roberts Gesicht war ernster. Es war heute erst der sünste des Monats und sein Portemonnaie schon leer. Hier mußte Rath werden. „Warum Du auch gerade in der Cavallerie dunen mußt! Du brauchst furchtbar viel Geld, sagt Klans." „Der Hofmeister! Er ist Reserve-Offizier und weiß doch Bescheid. Aber der ältere Bruder ist ja selbstredend immer der Kluge!" Robert, ein hübscher Junge von schlanker Gestalt, mit kurz aeschnittenem braunen Haar und erst sproßendem Schnurr- bärtchen, stand im einundzwanzigsteu Jahre. Sein Abilurinm zu machen hatte er keine Geduld gehabt; ihm batte das Reife- zeuguiß genügt, um ins Militär zu kommen, für das cr bcfonders schwärmte. Der ältere Bruder aus des Vaters erster Ehe führte ja das Fabrikgeschäft, er konnte also Soldat werden. Halte dieser auch gegen seinen Eintritt in die Cavallerie gls zu kostspielig gesprochen, er Halle es beim Baier durch- (Eingesandt.) Was von einem Geschäftsmann alles verlangt wird, das übersteigt bedenklich die landläufigen Regeln von Takt und Wohlanständigkcit, die gebildete Menschen im Ver kehr unter sich als bindend anzuerkennen pflegen. Die Zeiten sind schwer, das Geschäft und die Verbindungen müssen festgehalten werden mit allen Mitteln, das Publikum wird umworben, ja verhätschelt, gewöhnlich von mehreren Seiten zugleich, und daher gewöhnt es sich in eine Stellung hinein, von der aus es den Geschäftsmann, besonders den Inhaber eines Ladens, als ein unter allen Umständen willfähriges Geschöpf ansieht, das zu dem unglaublichsten „Entgegenkommen" ohne Weiteres bereit sein muß. Der hochmüthige oder herablassende Ton, den ungebildete Käufer, die sich als solche „fühlen" (und nicht auf Borg kaufen!) dem Verkäufer gegenüber anschlagen, ist bekannt; aber auch das gebildete Publikum geht in seinen Ansprüchen soweit, daß es zuweilen sogarnicht mehr für nöthig hält, in seinem eigenen Interesse auf Schicklichkeit und Billigkeit Rücksicht zu nehmen. Wir hahen schon gehört, daß vor nehme Herrschaften sich nicht scheuten, vor Festlichkeiten in ihrem Hause eine Anzahl Teppiche „zur Auswahl" zu bestellen, sie zum Staatmachen während der Festlichkeit zu benutzen und dann als „nichtconvenirend" zurückzugeben. Es wurde uns von einem Geschäftsmann versichert, daß es ihm ganz ähnlich mit seinem Haushaltungsgeschirr er gangen sei, da habe es sogar Bruch gegeben, den man bezahlen, sonst aber nichts behalten wollte. Wir lasen vor nicht langer Zeit auch, daß es einer als vornehm geltenden Familie gelungen war, sich auf dem gleichen Wege und zu ähnlichem Zwecke in den vorübergehenden Besitz eines prachtvollen Kronleuchters zu setzen, der dann zurückgegeben werden sollte, aber wegen allzudeutlicher Spuren des Gebrauchs nicht zurückgenommen wurde und bezahlt werden mußte, sodaß die Geschichte eigentlich mißlungen war. Aber Alles wird überboten durch ein Vorkommniß in Berlin, das kürzlich gelegentlich eines von dem Ver bände Berliner Spezialgeschäfte veranstalteten Vortrages bekannt geworden ist. Ein Herr (Pariser) erzählte in der auf den Vortrag folgenden Aussprache, daß vor kurzer Zeit eine sehr vornehme Dame, die Gattin einer Excellenz, an ihn das Ansinnen gestellt habe, einen Satz Tassen um zutauschen, der am 17. Juni 1884 gekauft war, also vor 18 Jahren. Die Tassen sollten nach der Versicherung der Dame in der ganzen langen Zeit nicht ein einziges Mal benutzt worden sein. Die Rechnung war auch noch vor handen. — Vor diesem Falle dürfte Ben Akiba's Weisheit verstummen. 8. Vermischtes. * Da brat uns einer einen Storch, aber die V-!V--'—-V !», gesetzt und Fränzchen, die für den Bruder sehr eingenommen, hatte ihn: dabei geholfen. .,Nachgerade werde ich doch besorgt um den Papa!" Dos Mädchen erhob sich; sie wollte den Diener suchen und befragen, aber sie zögerte, um den feierlichen Moment gemein schaftlicher Gratulation nicht zu versäumen. „Ah, da ist er!" So eilte Sie ins Zimmer, um die erste zu fein, und legte den freien Arm nm die Schulter des am Stock ins Zimmer Tretenden, eines Mannes mit ergrautem Haar und leidenden Zügen, die sich aber freudig belebten, als er von den beiden Kindern bestürmt wurde. „Ist nicht schlimm!" lachte er nach der Umarmung Beider, als die Tochter ihm doch besorgt fragend ins Gesicht blickte. „Nur ein bischen Schwäche heute im Rückgrat! Das Alter bekommt mir nicht! . . . Ich dank' Ench herzlich, Kinder! Ihr seht so frisch nnd wohl aus! Man lelch ja mit wieder auf, wenn man die Jugend sieht! - - - Habt Ihr Klans schon gesellen?" „Soeben kam er von der Fabrik Herüber! Da ist er ja!" Fränzchen deutele auf die Tbür. Ein kräftig aebauter Mann mit gebräuntem Antlitz, dem Bruder kaum ähnlich, mit dunkel blondem Bart nnd Haar, ernstem Blick aus seinen grauen Augen, den Schlapphut ü/der Hand, in braunem, bequemem Anzug, trat herein. Seine Miene erhellte sich kaum, als er auf die Gruppe blickte. Er bot dem Vater die Hand und küßte die selbe mit kaltem Respekt. „Verzeihung, ich hatte noch in der Fabrik zu thun!" sagte er mit ernstem Lächeln. „Einen Blumenstrauß hab' ich leider nicllt; der Gärtner hat alles für oie Beiden da ab- rupsen müssen." Er bot den beiden Geschwistern ans des Vaters zweiter Ehe seinen stummen Worgengrnß mit der Micne der Ueberlegenheit. Man setzte sich zum Frühstück. Er war schweigsam, mährend die Beiden, seiner Laune nicht achtend, den alten Herrn zu erheitern suchten, der mit herzlicher Freude ihrem Uebermuth zuhörte.