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Beilage zu Ar. 86 des AocheM'aües für Witsdruß etc. Freitag den 22. Oktober ^886. Zur Lcbensvtrsichmm.iMcrge. Die Lebensversicherungsinstitute haben iu Folge ihrer all gemein anerkannten Nützlichkeit aller Orten einen beträchtlichen Auf schwung genommen. Der Zuspruch, deu sie iu immer wachsendem Maße gefunden haben, hat es ihnen ermöglicht, ohne eigenen Schaden die Bedingungen in neuerer Zeit günstiger, als früher, zu gestalten, und dieser Umstand hat wohl wiederum dazu beigetragen, unmer mehr Personen zur Theilnahme an der Lebensversicherung heranzuzichen. Leider ist dagegen die Zahl derer erschreckend groß, welche durch die Verhältnisse gezwungen werden, die Versicherungspolice wieder verfallen zu lassen, was selbstverständlich mit Nachtheilen verbunden ist. Es liegt hierin ein Beweis dafür, daß sehr viele Personen ihre Sparkraft überschätzen, und durch das an sich sehr löbliche Bestreben, eine mög lichst hohe Summe bei ihrem Tode den Ihrigen zu hiuterlassen, iu die Lage kommen, vergeblich gespart zu haben. Wenn zum Beispiel, wie die „statistische Correspondenz" ausführt, im Jahr 1879 bei den 36 deutschen Lebensversicherungsgesellschaften von 39,120 erledigten Policen mit 123,550,000 Mark nur 9904 Policen mit einer Ver sicherungssumme von 30,575,069 Mark auf Slerbesälle kamen, 29,214 Policen aber mit 93,274,931 Mark Versicherungsbetrag durch das Aufhören der Prämienzahlung zur Löschung gelangten, so ist doch nicht anzunehmen, daß alle die 29,214 Policeninhaber unvorhergesehen in wirthschastlichcn Verfall gcratheu und dadurch verhindert worden seien, die Prämien weiter zu zahlen; vielmehr drängt sich die Ver- muthung auf, daß wohl der größte Theil dieser Personen in Bezug auf die Höhe der Versicherungssumme und den Grad seiner Sparkrajt sich von vornherein 'übernommen gehabt habe. Angesichts dessen ist Wohl die eindringliche Ermahnung am Platz, die Versicherungssumme nicht höher zu bemessen, als nach menschlich sicherer Berechnung die individuelle Sparkrast zuläßt, und nicht Hosfnnngswcchsel aus die Zu kunst zu ziehen, oder einen vorübergehenden, in seiner Dauer unsichern Mehrerwerb als dauernd und sicher anzuwhen. Die Nichtbeachtung i dieser Ermahnung hat den Verlust der eiugezählten Prämien, wenigstens ' eines Theils derselben zur Folge. Leider ist aus der „statistischen Korrespondenz" nicht zu ersehen, wie hoch dcr Gesammtbetrag ist, mit welchem diejenigen, die ihre Prämien nicht weiter zahlen konnten, ihre etwas zu weit gegangene gute Absicht haben büßen müssen. Dem i Abgang von 39,120 Policen im Jahr 1879 steht bei den deutschen i Persicherungsgesellschafien während desselben Zeitraums ein Zugang ! von 55,672 mit einem Versicherungsbeträge von 214,900,000 Mark i gegenüber. Es kommen daher auf eine Police durchschnittlich ca. l 3860 Nik. In Frankreich, welches doch eine sehr znm Sparen reizende Bevölkerung hat, war die Zahl der neuen Policen aus dcm Jahre '879 eine erheblich geringere, nämlich 36,792 gegen 55,672 in Deutsch land. Daraus scheint entnommen werden zu dürfen, daß die größere Zahl deutscher Versicherungen daraus rcsultlrt, daß bei uns leichther ziger zur Versicherung geschritten wird, was daun das häufigere Anf- gcbea des Versichernngsverhültnisscs zur Folge hat. Alferdings ist übrigens in Frankreich der Durchschnitt des in einer Police versicherten Kapitals (9162 Francs — 7329 Mark) beinahe doppelt so groß, wie üki uns. — So sehr wir daher die Einzahlung den Verhältnissen ent- iprechender Lebensversicherungen anzuempfehlen geneigt sind, ebenso dringend müssen wir vor leichtsinniger Eingehung die Sparkraft über- Pigender Lebensversicherungen warnen, und die vorgängige genaue und auf dauernder Basis beruhende Höhe der individuellen Sparkraft zu erwägen und zu berücksichtigen auf das Dringendste anratheu. Bei der Dmrsthöhle. Original-Novelle von Felix Roderich. Nachdruck verboten. (Fortsetzung.) Geräuschlos, wie eine Elfe, erhob sie sich jetzt, um in das Wohn- ziiMncr zu treten und das zu findeu, was sie dort suchte: den Regen mantel des Schwagers, worin sie sich gänzlich eiuhüllte, und seinen i Hut, den sie tief in die Stirn drückte. Ohne Scrupel, nur von der Angst des Herzens getrieben, nahm sie den Hausschlüssel und gelangte geräuschlos in's Freie. Draußen war es herrlich, der Mond goß seinen vollen Schimmer uuf ihren einsamen Weg rind mit klopfendem Herzen eilte sie an dem Nachtwächter vorüber, der keine zarte Dame in dem eiligen Wanderer vermnthete! Adele nahm ihren Weg zu dcr Dunsthöhle hinaus; sie empfand durchaus kein Grauen vor der unheimlichen Einsamkeit, die sie umgab, j wenn irgend ein stärkeres Gefühl das Herz erfüllt, schwindet die Furcht vor dem nächtlichen Spuk, dcr wie eiu unbekanntes Etwas lckbst die stärksten Nerven oft jäh zu packen weiß. Jetzt stand sie an der Treppe, die zu der Höhle hinunterführt, sw flog hinab und strengte sich an, durch das Gitter,zu blicken, welches dieselbe einschließt. Keine Spur von dem Professor! Schmerzlich getäuscht und doch wie von einer schweren Last befreit, stieg Adele die Treppe wieder hinauf, um ihre Blicke ringsum schweifen zu lassen Da schreckte sie Plötzlich heftig zusammen; in geringer Entfernung W ein Mann ans der Bank, daß bleiche Antlitz vom Mondlicht gei sterhaft übergossen. Es gehörte in der That der Heldenmuth eines liebenden Herzens dazu, um entschlossen näher zu gehen und die un heimliche Erscheinung zu betrachten. Adele befaß diesen Muth. Geräuschlos näherte sic sich der Bank und erkannte den schlafenden Professor. Ein Dankgebet stieg unhörbar zum leuchtenden Himmel empor und leise setzte das muthige Mädchen sich zu dem Schlummernden, um sein Erwachen zu erwarten. Stunden vergingen — des Mondes Licht war erblichen, im Osten dämmerte der Morgen. Noch immer saß das junge Mädchen neben dem Schlasendcn, ohne eine Ermüdung zu spüren oder irgend ein Gefühl dcr Reue über ihre ungewöhnliche'Handlung. Nur ein Frösteln, ein unangenehmer kalter Schauer durchrieselte die zarten Glieder. Plötzlich schlug der Professor die Augen auf und blickte die neben ihm Sitzende einen Augenblick starr und unbeweglich an. „Will dieses Bild mich denn gar nicht mehr verlassen?" murmelte er halblaut, im Wahn, daß ihn ein Traum umfangen hielte. Adcle hatte den entstellenden Hut abgelegt. Die ersten Strahlen der Sonne, die blitzartig am Horizonte empvrfchossen, beleuchteten ihr todtenblasses Gesicht. Der Professor starrte sie einen Augenblick an und ließ dann er schreckt den Blick umherschweifen. Er legte die Hank^ auf die Stirn, um sich zu besinnen, wie er hierher gekommen, und schauerte dann, von Frost und Erinnerung geschüttelt, heftig zusammen. „Wer sind Sie?" schrie er Plötzlich auf. „Was verfolgen Sie mich, Mann oder Weib?" „Ich bin Adcle Oswald, Herr Professor!" versetzte sie mit leiser Stimme. „Adele Oswald, die Lügnerin!" stieß er heftig hervor, indem er anssprang. „Was wollen Sie von mir? Schickt die falsche Schwester Sie vielleicht oder der verkappte Kapellmeister, dem ich lange genug zum Gespött gedient?" „Sie wissen nicht, daß ich hier bin", entgegnete Adele, leise errö- thend. „Mögen Sw mich vcrnrtheilen, Herr Professor, daß die Angst um Ihr Leben mich in der Nacht allein hiuausgetrieben, unbekümmert um meinen Ruf, um die Welt, welche die Jungfrau rücksichtslos ver- urthecken wird, wenn sie cs erfährt. Setzen Sie sich, Herr Professor", fuhr sie mit fieberhaft erregter Stimme fort, „Sie.müssen mich anhören, denn ich kann's nicht ertragen, wenn Sie mit Verachtung von mir scheiden. Im Namen dcr Gerechtigkeit, hören Sie mich an, Herr Professor!" Hannibal blickte sie düster an, dann fuhr er mit der Hand über die Stirn und setzte sich, so weit als möglich von ihr entfernt, mit abgewandtem Gesicht aus die Bank. Adele lächelte schmerzlich, sie unterdrückte den tiefen Seufzer, die furchtbare Aufregung ihres Herzens mit der ganzen Willenskraft, deren sie fähig war, und begann mii zitternder Stimme ihre Erzählung von der Reue der Schwester, welche den Kapellmeister Reinhard einst ihm vorgezogen, von der geheimen Selbstgual, die sie in den zehn Jahren um ihn geduldet; wie ihre wunderbare Aehnlichkeit mit Helenen dieser den Pla» eingegeben, ihn dereinst zu versöhnen, eine Versöhnung, die nur durch jene Täuschung in's Werk gesetzt werden konnte und durch den Vetter Feldmann eingeleitet worden war. „Ich selber", so schloß Adele mit einem tiefen Athemzuge, „wußte nichts von dem eigentlichen Zweck dieser Komödie, niemals hätte ich die Hand dazu geboten." „Aber Sic Voten sie doch zu der Lüge!" rief der Professor heftig. „Das habe ich leider gethan und werde eS ewig zu bereuen haben", versetzte Abele schmerzlich. „Ich glaubte, dadurch zur Versöhnung bei- zutragen und em gutes Werk zu thun." „Der Zweck sollte das Mittel heiligen, recht jesuitisch", rief Han nibal bitter lachend. Adele erwiderte nichts. Sie erhob sich schweigend und drückte den Hut tief in die Stirn; ihr todtenblciches Antlitz war von einem stillen Schmerze überschattet, Schauer durchrieselte die zarte Gestalt. Wie sie da vor ihm stand iu der seltsamen Kleidung, von Hellem Sonnenlichte umwoben wie mit einem Heiligenschein, fühlte Hannibal fein Herz erzittern und ein Gefühl, als müsse iin nächsten Augenblick ein Thränenstrom fein Gesicht überfluthcn. „Ich habe Ihnen Alles gesagt, Herr Professor", begann sie leise, „und lese in Ihren Augen doch noch Zorn und Verachtung. So leben Sie wohl, ich scheide ruhig, da ich meine Pflicht gegen Sie erfüllt habe, vielleicht kommt einmal die Zeit, wo Sie milder urtheilen über einen Scherz, der im Grunde so gut gemeint war." Sie wandte sich zum Gehen, schweigend blickte der Professor ihr nach. Plötzlich hörte sic rasche Schritte hinter sich, welche Ihren Fuß beflügeltem „Adele!" börte sie sich leise rufen. Sie blieb stehen, wie von einer magnetischen Gewalt gefesselt. Hannilal war an Ihrer Seite. Er ergriff ihre Hand und fragte leise: „Haben Sie mich allein gesucht?" Am gestrigen Abend bis in die Nacht von meinem Schwager mit mir", flüsterte Adele. „Dann gingen wir nach Hause —" „Und daun?" drängte der Professor, von dem jede Zaghaftigkeit gewichen schien. „Was dann, Adele?" „Ich blieb so lange in meinem Zimmer, bis Alles zur Ruhe war, nahm meines Schwagers Regenmantel und Hut und schlich mich zum Hause hinaus, bircct nach der Dunsthöhle, wo ich Sie dann endlich fand." „So waren Sie besorgt um mich, Adele?" „Ja", tönte es wie ein Hauch von Adelens Lippen. „Und blieben bei mir, bis ich erwachte?" „Ja", hauchte sie und preßte beide Hände auf die Brust. Plötz lich brach ein Thränenstrom aus ihren Äugen, sie schwankte wie em Trunkener, ein Nebel zog vor ihren Blick, sic wäre hingesunken, wenn Hannibal sie nicht mit starken Armen anfgesangcn hätte. „Adele!" rief er außer sich. „Gott, sie stirbt, ich habe sie getödtet! Adele! Geliebte! erwache, sieh mich an! Ich liebe Dich, Du sollst nicht sterben!" Er preßte sie an sich und küßte sie unaufhörlich — sie erwachte nicht. „Dann wollen wir zusammen sterben", flüsterte er halb wahnsinnig und trug sie zurück nach der Dunsthvhle. Ein Glück für ihn, daß Vorsicht die Thür verschlossen hatte! In der Ferne ertönten rasche Schritte.